Ein Tag im Alters- und Pflegeheim

Wie lebt es sich in einer Altersresidenz? Viele haben Bedenken vor dem Eintritt. Der Besuch bei der Hauserstiftung in Höngg zeigt, dass der Lebensabend im Heim auch schöne Seiten haben kann.

«Der Eintritt in das Heim war eine der besten Entscheidungen, die ich getroffen habe», sagt Margrit Reithaar. (Foto: dad)

Es ist halb sieben Uhr morgens: Im Alters- und Pflegeheim der Hauserstiftung Höngg beginnt ein neuer Tag. Sowohl für die Mitarbeitenden wie auch für die fast 40 Personen, die dort leben. «Wir haben viele Frühaufsteher bei uns», erzählt der Pflegefachmann Jörg Helminski. Kurz nach sieben Uhr wird im Speisesaal im Erdgeschoss und im Stübli auf dem 1. Stock das Frühstück serviert, das bis 9.30 Uhr eingenommen werden kann. Im Stübli finden sich jene Personen ein, die aus vielerlei Gründen Hilfe bei der Nahrungsaufnahme benötigen. Es ist auch möglich, das Frühstück im Zimmer zu sich zu nehmen oder einfach nur den Kaffee. Einen «Zwang» gibt es nicht.

Die Stimmung ist ruhig, ab und zu ertönt eine Klingel – Bewohnende rufen nach dem Personal. Jörg Helminski und seine Kolleginnen agieren «im Hintergrund»: Der Morgen ist die Zeit der Körperpflege, die in den Zimmern stattfindet. Der Aufwand ist individuell, auf Wünsche wird nach Möglichkeit eingegangen. Manche kommen gut allein zurecht, andere benötigen Unterstützung, vielleicht beim Duschen oder beim Anziehen der Stützstrümpfe. So ist der Morgen für das Pflegeteam, das von Elvira Hajdarpasic geleitet wird, die intensivste Zeit. Es ist ein kollegiales Team: «Wir alle helfen einander», sagt sie. Hinter ihr im Stationszimmer hängen die Einsatzpläne an der Wand – sie zeugen von einer organisatorischen Meisterleistung.

Tür an Tür

Es gibt klare Standards für Alters- und Pflegeheime, die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich gibt diese vor. In Höngg befinden sich mehrere angesehene Häuser, die alle über ihren eigenen Charakter verfügen: das städtische Gesundheitszentrum für das Alter Bombach, das Pflegezentrum Riedhof, das Tertianum Residenz Im Brühl und jenes der Hauserstiftung, dessen Leiter Romano Consoli ist. Sein Haus, das 1924 von Johann Heinrich Hauser gegründet und 1930 eröffnet wurde, ist relativ klein.

Aktuell können dort 38 Zimmer auf drei Etagen bezogen werden, alle mit eigenem Badezimmer. Einzelzimmer sind begehrt, Doppelzimmer nicht. Die Grösse variiert, wenige verfügen über einen Balkon. Die Zahl der Angestellten in der Pflege, im Hausdienst, in der Küche und in der Administration beläuft sich auf rund 50 Personen, deren Stellenprozente unterschiedlich sind. Speziell in der Hauserstiftung ist, dass es keine getrennten Abteilungen gibt, beispielsweise für Demenzerkrankte. Alle Bedürfnisse, darunter auch die der palliativen Pflege, finden sich Tür an Tür.

Gemeinsam singen

Der Alltag wird kurzweilig gestaltet, in der Fachsprache nennt sich das Aktivierung. Das Ziel ist die Erhaltung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten der Bewohnenden unter Berücksichtigung ihrer Interessen und Möglichkeiten. Immer freiwillig, denn Selbstbestimmung und Eigenverantwortung werden grossgeschrieben. In der Hauserstiftung finden täglich Veranstaltungen, Aktivitäten und Unterhaltungsangebote statt, viele sind auch öffentlich. Das können Lesungen, Konzerte oder Spielnachmittage sein, aber auch Angebote wie Gedächtnistraining oder gemeinsames Turnen stehen auf dem Programm. Dazu gesellen sich Dienstleistungsangebote wie der hauseigene Coiffeursalon, der Besuch des Arztes oder die Fusspflege. Selbst Andachten werden angeboten.

Am heutigen Morgen ist in der Cafeteria, deren Blickfang ein grosses Aquarium ist, das gemeinsame Singen von Volksliedern vorgesehen. Die Leitung liegt bei der Bewohnerin Margrit Reithaar, einer «Ur-Hönggerin», die im Quartier viele kennen. Sie kann mit dem Pianisten Heinz Rutishauser rund ein Dutzend singfreudige Personen empfangen. Reithaar kümmert sich darum, dass alle ein Liederbuch erhalten, dann wird gesungen: Es erklingen «S’Guggerzytli» und das «Rütlilied».

Vor dem Mittagsschläfchen

Gegen Mittag sind die Tische im Esssaal und im Stübli gedeckt, die saisonale Auswahl, die der Küchenchef Roger Leone mit seinem Team zubereitet, beinhaltet zwei Menüs. Das Mittagessen verläuft friedlich, die ruhigen Gespräche sind vielseitig. Auch hier ist das Pflegepersonal dabei und nimmt sich Zeit für die Betreuung. Anschliessend bevorzugen viele ein kleines Mittagsschläfchen, darunter auch Margrit Reithaar. Zuvor lädt sie noch in ihr Zimmer ein. Wie sieht das traute Heim in einer Seniorenresidenz aus?

Bei ihr ist es ein gemütlich eingerichtetes Zimmer mit vielen Büchern, Bildern und Gegenständen. Telefon und Fernseher sind vorhanden, ein kleiner Kühlschrank ebenso. «Einige der Möbel konnte ich mitnehmen, das Bett hingegen nicht», sagt sie. Denn dieses muss von Beginn weg ein Pflegebett sein, das verstellbar ist. Die Bewohnerin erzählt, dass es ihr freier Entschluss war, in ein Altersheim zu ziehen, also liess sie sich auf die obligate Warteliste setzen. Als sie das Zimmer schliesslich begutachten konnte, zögerte sie keine Sekunde: Ein kleiner Balkon, auf dem sie die Sonne und ihre Blumen geniessen kann, ist ihr Luxus. «Der Eintritt in das Heim war eine der besten Entscheidungen, die ich getroffen habe.»

Ein Vorurteil über das Leben in einer Seniorenresidenz ist jenes des Unfreiheit. Es gibt Lebenssituationen, bei denen die Freiheit eingeschränkt wird, sei es wegen Demenz oder aus körperlichen Gründen. Doch das wäre an jedem anderen Wohnort auch so. «Unsere Bewohnenden sind völlig frei, sie alle haben einen Schlüssel und können gehen und kommen, wie sie möchten», sagt Romano Consoli. Allerdings wird Wert daraufgelegt, dass man benachrichtigt wird, sollte jemand länger abwesend sein.

Die Dokumentation ist wichtig

Auch an den Nachmittagen werden Aktivierungen angeboten, an diesem Tag ein Alphornkonzert im Garten des Hauses. Das Publikum ist zahlreich. Andere ziehen es vor, sich mit Gästen in der Cafeteria zu treffen. «Es gibt Angehörige, die schauen mehrmals die Woche vorbei, bei anderen Bewohnenden sind die Besuche selten», sagt Pflegefachmann Jörg Helminski. Was zur Sprache kommt, ist die Einsamkeit.

Umso mehr wird man in einer Altersresidenz vor dieser «geschützt»: Da sind nicht nur die Mitbewohnerinnen, da ist auch das Pflegepersonal, das mit den Menschen einen Spaziergang unternimmt, sie zum Arzt begleitet oder einfach für sie da ist. Und manchmal erhalten die Menschen auch tierische Gesellschaft: Die zwei Katzen Diva und Minusch, die in der Hauserstiftung leben, sind die heimlichen Stars und überaus zutraulich.

Auch wenn der Nachmittag gelassener erscheint als der geschäftige Morgen, so ist das Pflegepersonal stets auf Trab. Und was viele nicht wissen: Ein wichtiger Teil der Pflege ist die Dokumentation. «Wir müssen alle Handlungen festhalten, auch wenn sie für Aussenstehende unbedeutend wirken», sagt Jörg Helminski. Es wird täglich notiert, ob beispielsweise jemand zu wenig trinkt, welchen Puls er hat und wie der Zustand der Person ist. Diese Dokumentation hilft nicht nur der Pflege, um Massnahmen zu planen, sondern dient auch den Krankenkassen als Leistungsnachweis – die Kosten müssen stets begründet werden.

Die Menschen werden älter

Der Abend naht und es wird Zeit für das Znacht. Dieses ist auf Wunsch vieler Bewohnenden ein klassisches Café complet, aber der Küchenchef Roger Leon hat selbstverständlich auch ein Abendmenü auf der Karte. Noch einmal treffen sich die Senior*innen im Saal oder im Stübli und halten einen Schwatz, während andere sich in ihr Zimmer zurückziehen.

So friedlich der Tag scheint – die Augen werden vor der Realität nicht verschlossen. Die Pflege steht vor gewaltigen Herausforderungen: «Die Menschen werden immer älter», erzählt Pflegefachmann Helminski, und der Pflegenotstand ist ein beunruhigender Fakt. In der Hauserstiftung herrsche aber kein Personalmangel, wie er betont. Nicht jeder Eintritt sei zudem völlig selbstbestimmt, fügt er an. Und die Demenz ist weiter verbreitet als noch vor 20 Jahren. Es wird auch über das Sterben gesprochen. Der Tod gehöre zur Arbeit in der Pflege dazu.

Die Nachtruhe beginnt allmählich, während Minusch und Diva hellwach werden. Mit ihnen zwei Pflegepersonen, welche die Nachtschicht antreten. Sie kümmern sich bis in die Morgenstunden um die Bewohnenden, sollten diese nachts Hilfe benötigen. Und bald beginnt ein neuer Tag.

Im Fokus: Wertvolle Jahre

Der «Höngger» veröffentlicht in diesem Jahr verschiedene Artikel, die sich der Lebensrealität von Betagten und Menschen mit Behinderung widmen. Diese Reihe entsteht mit freundlicher Unterstützung der Luise Beerli Stiftung, die sich für solche Menschen stark macht.

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