Jugend unter Druck

Depressionen und andere psychische Erkrankungen sind nicht nur bei Erwachsenen weitverbreitet, sondern können auch Kinder und Jugendliche betreffen. Der «Höngger» hat sich mit dem Thema auseinandergesetzt und versucht zu ermitteln, wie verbreitet psychische Probleme sind und was die Ursachen dafür sein könnten.

Soziale Medien spielen bei der Entstehung von psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen eine grosse Rolle.

Nicht nur in Zeiten von Corona ist die Jugendzeit eine emotionale Achterbahnfahrt – und das schon aus rein biologischer Sicht. Die Umbauprozesse im Gehirn, die während der Pubertät ablaufen, Identitätsfindung, Ablösung von den Eltern und der Einstieg in das Berufsleben, bedingen geradezu, dass die Emotionen nicht so stabil wie während der Kindheit und im Erwachsenenalter sind. Doch im Vergleich zu der vorhergehenden Generation findet das Erwachsenwerden heute unter ganz anderen und nicht unbedingt einfacheren Bedingungen statt. Der Druck in Schule und Berufsleben ist grösser, soziale Medien und Internet prägen den Alltag und wecken ganz neue Bedürfnisse und Erwartungen. Sich den Einflüssen von aussen zu entziehen, fällt schwerer als noch vor einigen Jahren. Geht es den Jugendlichen heute also schlechter als noch vor 20, 30 Jahren? Der «Höngger» hat sich auf die Suche nach Antworten gemacht.

Kaum empirische Daten vorhanden

Empirische Untersuchungen zum psychischen Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz sind insgesamt sehr rar gesät. Gemäss dem Schweizer Gesundheitsobservatorium, das im Auftrag von Bund und Kantonen Erhebungen zu Gesundheitsfragen macht, «fehlen in der Epidemiologie aktuelle schweizweite Prävalenzzahlen für psychische Störungen von Kindern und Jugendlichen. Auch Angaben zu Häufigkeit und Verteilung psychischer Auffälligkeiten sind nur von einigen Kantonen beziehungsweise Städten und ausschliesslich für Kinder im Schulalter vorhanden.» Verlässliche Aussagen zum allgemeinen Gesundheitszustand der Altersgruppen sind daher nur sehr schwer zu treffen. Zudem ist es aufgrund der fehlenden Daten zumindest für Laien schwierig zu ermitteln, welche Krankheitsbilder in den Bereich der psychischen Störungen gehören und inwiefern sie in der Altersgruppe ausgeprägt sind.

Bis zu 20 Prozent der Jugendlichen betroffen

In der Stadt Zürich wird regelmässig alle vier Jahre eine Befragung unter den Sekundarschüler*innen der zweiten Klasse zu ihrem Gesundheitsempfinden durchgeführt. Die aktuellsten verfügbaren Daten aus dem Jahr 2017 weisen grundsätzlich «deutlich auf eine gute physische und psychische Gesundheit der Jugendlichen hin. 94 Prozent der Jugendlichen schätzen ihre Gesundheit und 81 Prozent ihre momentane Gefühlslage als gut, sehr gut oder ausgezeichnet ein.» Geschlechtsspezifisch lässt sich sagen, dass die Knaben in diesen Befragungen ein höheres Wohlbefinden äussern als die Mädchen. Doch gleichzeitig zeigen in derselben Gesundheitsstudie 16 Prozent der Schüler*innen Hinweise auf eine Depression und berichten auch von anderen Belastungen wie Ängsten, Mobbing, sozialem Rückzug und negativen Gefühlen gegenüber der Schule. Insgesamt lässt sich nach Angaben von diversen Studien wohl davon ausgehen, dass zwischen zehn und zwanzig Prozent der Jugendlichen von einer psychischen Störung betroffen sind. Damit gehören diese Erkrankungen zu den häufigsten Krankheiten in Kindheit und Jugend. Dabei sind diese in vielen Fällen nicht nur eine vorübergehende Erscheinung der Adoleszenzzeit, wie der aktuelle Nationale Gesundheitsbericht darlegt: «Der Grossteil der psychischen Erkrankungen beginnt bereits im Kindes- und Jugendalter beziehungsweise im frühen Erwachsenenalter. Rund die Hälfte der Fälle manifestiert sich bis zum Alter von 14 Jahren, drei Viertel der Fälle bis zum Alter von 24 Jahren.»

Konsultationen nehmen zu

In den letzten Jahren steigen, das bestätigen Expert*innen wie etwa Dagmar Pauli, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich oder Catherine Paterson, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin mit eigener Praxis, die Zahlen derjenigen Jugendlichen, die aufgrund psychischer Probleme Hilfe suchen, sei es bei den behandelnden Kinderärzten, den schulpsychologischen Diensten, Beratungsangeboten per Telefon, Psychotherapeuten oder schliesslich den psychiatrischen Kliniken. Diese Zunahme kann einerseits daran liegen, dass die heutige Gesellschaft auf psychische Erkrankungen besser sensibilisiert ist und eine Behandlung dieser eher in Anspruch genommen wird als früher, wie Paterson in einem schriftlichen Interview mit dem «Höngger» erklärt: «Die Jugendlichen tabuisieren ihre psychischen Befindlichkeiten viel weniger als noch vor einigen Jahren und holen sich vermehrt Unterstützung bei Fachpersonen. Das Elternhaus, die Schulen, Lehrpersonen, Schulsozialarbeitende und Schulpsycholog*innen leisten hier einen sehr wichtigen Beitrag», so Paterson. Doch es lässt sich vermuten, dass nicht nur die Nachfrage nach Behandlung, sondern auch gewisse Erkrankungen wie Depressionen, Selbstverletzungen, Suizidalität und Essstörungen tatsächlich zunehmen, wie Pauli erklärt: «Studien zeigen, dass diese Störungen vor allem bei jüngeren Jugendlichen zugenommen haben – aber auch in der allgemeinen Bevölkerung und nicht nur in der Schweiz, sondern in der ganzen westlichen Welt.»

Vielfältige Krankheitsbilder

Die Krankheitsbilder psychischer Beschwerden sind dabei vielfältig und nicht immer eindeutig zu erkennen und zuzuordnen. Vor allem bei jüngeren Kindern äussern sich die Probleme oft zunächst eher körperlich. Wie Paterson dem «Höngger» erklärt, werden die Patient*innen, die sie in ihrer Praxis behandelt, oft mit psychosomatischen Symptomen zu ihr geschickt : «Als delegiert arbeitende Psychotherapeutin in einer Kinderarztpraxis werden mir Kinder und Jugendliche von der Kinderärztin überwiesen. Die Jugendlichen leiden oft an Beschwerden wie Bauchschmerzen oder Kopfschmerzen, wofür keine körperliche Ursache gefunden werden kann. Viele kommen wegen Angststörungen zu mir. Sie leiden an Panikattacken und/oder Schulverweigerung. Einige Jugendliche sind depressiv und/oder suizidal, einige sind traumatisiert.»

Soziale Medien als Problem

Dass die Probleme der Jugendlichen im Vergleich zu früher zugenommen haben, davon sind auch die beiden 18-jährigen Hönggerinnen Anna und Maria (Namen von der Redaktion geändert) überzeugt. Als mögliche auslösende Faktoren geben die beiden an, dass es «der Leistungsdruck in der Schule und im Beruf sein könnte, dem nicht alle gleich gewachsen sind». Zudem, das sehen die beiden jungen Frauen als eines der grössten Probleme, sind es die sozialen Medien, die Druck auf die Jugendlichen ausüben. «Influencer und sogenannte Vorbilder auf Instagram und anderen Medien beeinflussen gerade die jüngeren Jugendlichen stark. Das ständige Vergleichen des eigenen Körpers, der eigenen Person, des eigenen Lebens mit demjenigen von scheinbar erfolgreichen Influencern tut der Psyche nicht gut», so sind sich Anna und Maria einig. Eine ganz ähnliche Meinung hat Leonie. Sie fasst ihre Eindrücke gegenüber dem «Höngger» wie folgt zusammen: «Meiner Meinung nach geht es Jugendlichen heutzutage weniger gut als Jugendlichen früher. Wieso ich davon überzeugt bin? Ich selber fühle mich nicht so stark davon betroffen, aber mir ist es jetzt schon vermehrt bei meinen Freund*innen und Bekannten aufgefallen. Durch Social Media werden Stereotypen, Lebensweisen und Körperfiguren gepusht. Die meisten Jugendlichen sind sich dessen bewusst und versuchen, sich davon nicht beeinflussen zu lassen. Aber wenn man sich zirka vier Stunden täglich mit diesen extremen Idealen befasst, wird man früher oder später unbewusst davon beeinflusst. Man sieht sich selbst und andere in einem anderen Licht, man steuert sein Leben unbewusst so, dass es den <vorgeschriebenen Idealen> von Social Media entspricht. Der Zwang ins Bild zu passen, wird so gross, dass meiner Meinung nach viel zu viele Jugendliche darunter leiden. Man sieht, was andere posten, und die Möglichkeit sich zu vergleichen, wird immer grösser. Mir fällt stark auf, dass die meisten nicht mehr schätzen, was sie haben, weil sie auf Social Media immer sehen, was sie noch haben könnten oder wie ihr Leben noch sein könnte.»
Genau diese Problematik thematisiert auch Pauli. Soziale Medien, so Pauli, verbreiteten dysfunktionale Problemlösungsstrategien etwa «wenn es mir schlecht geht, dann ritze ich, oder wenn ich ein schlechtes Selbstwertgefühl habe, wird es besser, wenn ich Diät mache und schön dünn bin. Die Bilderflut von unerreichten Idealen nagt am Selbstwertgefühl und nährt Zweifel.» Zudem, so Paterson, litten Jugendliche heute nicht nur in Bezug auf ihren Körper, sondern auch auf ihren schulischen und beruflichen Erfolg unter hohem Erwartungsdruck und Leistungsansprüchen. «Jugendliche sind wie Erwachsene durchgetaktet. Es fehlen Freiräume zur Entwicklung von Fantasien, alternativen Gesellschaftsentwürfen, Visionen und kreativen Prozessen», so Paterson.

Was macht Corona aus?

Erschwerend kommt momentan die aktuelle Situation mit der Corona-Pandemie und dem Herunterfahren des öffentlichen Lebens durch den Lockdown hinzu. Zahlreiche Diskussionen und Studien thematisieren mittlerweile die negativen Auswirkungen, die diese Situation insbesondere auf das Wohlbefinden der Heranwachsenden hat. Die eingeschränkten Möglichkeiten, Sozialkontakte zu pflegen, Familien, die plötzlich alle den ganzen Tag zu Hause sind, das nicht vorhandene Freizeitangebot kombiniert mit den winterlichen Temperaturen sowie in vielen Fällen der zusätzliche Stress der Berufsfindung, zumindest auf der Ebene der Sekundarschulen, sind belastende Faktoren für die Teenager. Paterson erklärt: «Die Jugendlichen beklagen sich über Langeweile, über Streit mit den Eltern, über zu wenig Rückzugsmöglichkeiten und über Zukunftsängste und Unsicherheiten. Werde ich eine Lehrstelle finden? Werde ich mein Austauschjahr antreten können? Sie müssen auf sehr vieles verzichten, was sie für die Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben dringend benötigen würden. Die Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen, der Ablösungsprozess von den Eltern, die Entwicklung ihrer Autonomie und Identität. Der natürliche Entwicklungsfluss der Jugendlichen wird gestört und aus dem Gleichgewicht gebracht.» Vieles von dem, was die Jugendlichen nun verpassen, wird sich nach der Krise wieder einrenken. Doch nicht alles lässt sich einfach zu einem späteren Zeitpunkt nachholen. Psychiatrische Einrichtungen und Psychotherapeuten schlagen daher Alarm. In Bezug auf das psychische Wohlbefinden der Generation der Heranwachsenden besteht Handlungsbedarf.

In der nächsten Ausgabe wird der «Höngger» sich damit auseinandersetzen, wie soziale Einrichtungen wie die Jugendarbeit und die Gemeinschaftszentren die Lage beurteilen und welche Alternativen und Hilfen den Jugendlichen angeboten werden können.

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