Wenn die Schule zu Hause stattfindet

Seit bald vier Wochen sind die Schulhäuser verwaist. Kinder und Lehrpersonen bleiben zu Hause. Der sogenannte Fernunterricht stellt alle Beteiligten vor neue Herausforderungen.

Den Schulstoff digital zu vermitteln, ist eine grosse Herausforderung.

Seit Montag, 16. März, findet in der Schweiz kein Präsenzunterricht mehr an den Schulen statt. Das gilt selbstverständlich auch für die Höngger Primar- und Oberstufenklassen. Schulleitungen und Lehrpersonen stehen vor der Herausforderung zu gewährleisten, dass die Schüler*innen auch zu Hause einen lehrreichen und vielseitigen Unterricht erhalten. Gleichzeitig sind die Eltern gefordert, ihre Kinder beim Fernunterricht zu unterstützen, während sie selber im Homeoffice oder auswärts arbeiten. Eine Belastung, die nicht für alle Familien gleich gut zu bewältigen ist. Auch das Einrichten eines Arbeitsplatzes für die Kinder und Jugendlichen ist nicht in allen Haushaltungen gleich einfach: Nicht alle besitzen ein Tablet oder einen Computer und wenn, dann wird dieser gleichzeitig von einem Elternteil oder einem Geschwister benötigt. «Wir verfügen über einen Klassensatz von 20 Tablets», sagt Thomas Flückiger, Leiter der Schule Lachenzelg. «Dazu kommen noch etwa 20 Laptops, die wir ebenfalls an die Schüler*innen verteilt haben, die zu Hause kein elektronisches Gerät zur Verfügung hatten.» So konnten zumindest im Lachenzelg alle rund 340 Schüler*innen der Oberstufe soweit ausgestattet werden, dass ein Fernunterricht nun möglich ist. Flückiger versteht, dass es viel zusätzliche Verantwortung ist, die die Eltern nun übernehmen müssen, dennoch habe es kaum negative Reaktionen auf die verordnete Massnahme gegeben; «es haben alle realisiert, dass dies eine Ausnahmesituation ist und zeigen entsprechend Verständnis», meint Flückiger. Manche Eltern seien höchstens besorgt gewesen, ob sie ihren Kindern überhaupt mit dem Schulstoff helfen können.

Wie vermittelt man den Stoff digital?

Eine der grössten Herausforderungen sei es jedoch, die Aufgaben so zu formulieren, dass sie ohne weitere Erklärungen verständlich sind. Und zu antizipieren, welches Material in welcher Form zur Verfügung gestellt werden muss, damit die Schüler*innen selbstständig arbeiten können. «Ausserdem müssen die Lehrpersonen entscheiden, was wirklich kontrolliert werden soll und kann und was in der Eigenverantwortung der Jugendlichen liegt», so der Schulleiter vom Lachenzelg. Es sei unmöglich, alles zu korrigieren, das sei auch im Präsenzunterricht nie der Fall. Der Kontakt zwischen den einzelnen Schüler*innen und den Lehrpersonen hat sich gegenüber dem Präsenzunterricht stark verändert. Jede*r Jugendliche wird mindestens einmal pro Woche von einer Lehrperson angerufen. «Wenn man den Arbeitsort nicht mehr physisch verlassen kann, weil man von zu Hause arbeitet, ist es schwieriger, sich abzugrenzen und zu sagen, jetzt ist Feierabend», sagt Flückiger. Er habe auch schon von Eltern und Schüler*innen gehört, die um 22 Uhr noch eine SMS geschickt hätten; «das ist zwar im Einzelfall nicht tragisch, aber es kann nicht die Regel werden, dass die Lehrpersonen ständig verfügbar sind». Damit die Lehrer*innen nicht in einen 24-Stunden-Betrieb gedrängt werden, hat die Schule deshalb zusätzlich fixe Telefonberatungszeiten eingeführt, die die Eltern und Schüler*innen nutzen können, wenn Fragen auftauchen.

Familiäre Unterstützung ist nicht selbstverständlich

Nachdem die ersten zwei Wochen deutlich strenger waren als in der regulären Schulzeit, scheint langsam so etwas wie Routine im Fernschulalltag eingekehrt zu sein. Was allerdings immer ein Thema ist, sind Schüler*innen, die zu Hause keine Struktur haben oder von den Eltern nicht genügend unterstützt werden können. Pro Klasse sind es etwa ein bis zwei Schüler*innen. «In diesen Fällen versuchen wir, die betroffenen Jugendlichen enger zu begleiten», sagt der Schulleiter. Das bedeutet, dass die Sozialpädagog*innen von der Oase, dem Mittagstisch der Schule, Heilpädagog*innen oder auch Klassenlehrer*innen im regelmässigen telefonischen Kontakt mit ihnen stehen. Wenn man weiss, dass gewisse Schüler*innen Mühe damit haben, sich selber zu motivieren, trifft man Vereinbarungen mit ihnen. «So müssen manche Jugendliche täglich morgens um acht Uhr einen Plan verschicken, damit die Lehrperson weiss, dass sie wach sind und wie sie ihren Tag geplant haben», erklärt Flückiger. Auf diese Weise könne man zumindest einen Teil der Schüler*innen auffangen, an einzelne komme man aber auch so nicht heran, diese fielen durch die Maschen. Schwierig sei es auch für Jugendliche, die von der familiären Konstellation her nicht zu Hause lernen könnten, weil es zu Konflikten kommt. Für sie wäre es gut, sie könnten dennoch in die Schule gehen. Das Volksschulamt des Kanton Zürichs schreibt aber auf der offiziellen Homepage, dass «Angebote für einzelne Schülerinnen und Schüler im Schulhaus (…) grundsätzlich nicht vorgesehen [sind]». In absoluten Ausnahmefällen könnten jedoch Einzelstunden angeboten werden, wenn keine andere Form des Fernunterrichts möglich sei, um Unverstandenes zu klären und weitergehende Unterstützung zu geben. Auch in der Schule Lachenzelg gibt es solche Einzelsettings in wenigen Ausnahmefällen. Die Schule Lachenzelg hat ein Sorgentelefon für Jugendliche eingerichtet, das zwischen 10 und 12 Uhr offen ist. «Das Angebot wird zwar genutzt, es ist aber anzunehmen, dass viele nicht anrufen, obwohl sie gerne würden», vermutet Flückiger. Zuzugeben, dass man überfordert ist, kostet Überwindung. Jugendliche, deren schwierige familiäre Situation bereits vor der Krise bekannt war, werden von den Sozialpädagogen der Schule auch proaktiv kontaktiert.

Langfristig auch die Chancen sehen

Bei allen Herausforderungen sei es dennoch auch eine spannende Zeit. So sei es beispielsweise eine Chance zu lernen, wie man den Schulstoff so organisieren kann, dass die Schüler*innen auch in Zukunft in der Lage sind, Aufträge digital und selbstständig zu erledigen. «Ein Lerneffekt ist auf jeden Fall heute schon sichtbar: Jede*r Jugendliche weiss inzwischen, wie man eine E-Mail schreibt, eine Datei anhängt und diese verschickt», meint Flückiger. Zudem lernen die Schüler*innen, ihren Tagesplan selbst zu gestalten, sich Ziele zu stecken, diese zu erreichen und sich selbst zu kontrollieren. Das sind wichtige überfachliche Kompetenzen, welche auch im neuen Lehrplan 21 hochgehalten werden.

Diesen Eindruck bestätigt auch eine Schülerin der Oberstufe: Nach einer Zeit der Angewöhnung fände sie es eigentlich ganz toll, sich den Tag frei einteilen zu können. Natürlich gäbe es weiterhin Abgabetermine, doch das sei kein Problem. Allerdings habe sie das Gefühl, dass die Lehrpersonen zu viele Aufträge aufgäben, so dass man am Ende viel länger daran arbeiten müsse. Vorgesehen sind sechs Stunden Fernunterricht am Tag, ausser Mittwoch, dort sind es fünf. «Bis jetzt habe ich es so gemacht, dass ich von Montag bis Donnerstag mehr gelernt habe und dafür am Freitag den ganzen Tag freimachen konnte», erzählt die Schülerin. Da sie meistens alleine in ihrem Zimmer lerne, habe sie keine Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Trotzdem sei es manchmal seltsam, dass die ganze Familie ständig zu Hause sei, obwohl keine Schulferien seien. «Im Grossen und Ganzen finde ich aber, dass es alle, sowohl Schulen als auch die Familie ziemlich gut meistern», meint sie. Was allerdings mühsam sei, ist, dass die Schnupperlehren nicht stattfinden können. «Ich hätte an zwei Orten schnuppern gehen können, das ist jetzt ins Wasser gefallen». Nun gelte es, sich so gut vorzubereiten und alle Unterlagen beisammen zu haben, dass man nach der Krise sofort mit der Lehrstellensuche loslegen oder weitermachen könne.

Mathe per Video

Während die Schüler*innen der Oberstufe mit den digitalen Medien relativ vertraut sind, sind die Voraussetzungen in der Primarschule sehr unterschiedlich. Nachdem die Kinder vom Vogtsrain am Mittwoch, 18. März, zum letzten Mal ins Schulhaus durften, um ihr Unterrichtsmaterial abzuholen, erhalten sie nun einmal in der Woche einen Plan mit den entsprechenden Aufgaben. Primarlehrerin Mara Buser, die eine erste Klasse unterrichtet, sendet die Aufträge und das dazugehörige Material per Post, «bei manchen Kindern gehe ich aber auch vorbei und lege ihnen Bücher oder Zeichnungsmaterial in den Briefkasten», erzählt sie. In der Mittelstufe hingegen werden die Aufträge und der Wochenplan per Mail versandt – ab der dritten Klasse erhalten die Schüler*innen eine eigene E-Mail-Adresse – und das benötigte Material wird auf der digitalen Plattform schabi.ch zur Verfügung gestellt. Wer zu Hause aber keine Möglichkeit hat, etwas auszudrucken, erhält die Unterlagen selbstverständlich auch hier per Post zugestellt. «Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es den Kindern oder Eltern hilft, wenn wir ein Beispiel für einen möglichen Stundenplan mitsenden, wie man die Aufgaben auf die Tage aufteilen könnte», erzählt Primarlehrerin Milena Dolder, die zurzeit eine sechste Klasse unterrichtet. Man könne sich die Woche aber auch selber einteilen. Kürzlich hat die Stadt den Schulen die Software für Microsoft-Teams zur Verfügung gestellt. Es wird geprüft, in welcher Form sich dieses Programm für Kinder am besten eigne. «Dabei geht es in einem ersten Schritt darum, die Kinder in einer Videokonferenz zu sehen und vielleicht einen Klassenrat oder etwas Ähnliches abzuhalten», sagt Dolder. Was schon jetzt sehr gut funktioniere, seien sogenannte Erklärvideos, welche die Lehrer*innen zum Beispiel für das Fach Mathematik selber produzieren. «Der Vorteil dieser Filme ist, dass die Kinder jederzeit stoppen können und es sie sich immer wieder anschauen können, bis sie den Unterrichtsinhalt verstanden haben», so Dolder. In manchen Fächern haben die Schüler*innen die Möglichkeit, ihre Arbeit selbstständig zu kontrollieren: Das Lehrbuch für Mathematik beispielsweise enthält neben den Aufgaben auch die Lösungen und war schon vor der Umstellung auf Fernunterricht digital vorhanden.

Grosser Aufwand

Buser kommuniziert mit ihren Schüler*innen via Skype und dreht zu Hause ebenfalls selber Lernvideos. «Die Produktion nimmt viel Zeit in Anspruch, aber inzwischen klappt es immer besser», sagt sie. Auf die Skype-Termine freue sie sich jeweils sehr, denn das sei fast wieder wie im früheren Alltag, «dann kann ich beobachten, wie das Kind arbeitet, wie es überlegt und dieses Nachdenken schliesslich in einem Aha-Moment endet – das ist sehr schön». Ein- bis zweimal pro Woche erhält jedes Kind einen Telefonanruf, ein immenser Aufwand. Die ersten Wochen seien denn auch unheimlich intensiv gewesen, erzählt Buser. Neben den Telefongesprächen mit Kindern und Lehrerkolleg*innen habe sie dutzende digitale Plattformen getestet, bis sie eine fand, die für die Kinder möglichst intuitiv zu verstehen war. Im Homeoffice hatte die junge Lehrerin Mühe zur Ruhe zu kommen: «Ich konnte einfach nicht abstellen, auch am Abend kreisten die Gedanken ständig um die Schule». Das habe mittlerweile ein wenig nachgelassen, sie habe «ihren» Zugang zum Fernunterricht gefunden und gewöhne sich langsam an den neuen Arbeitsalltag. Eine der grössten Herausforderungen sei es für sie, auch in dieser Ausnahmesituation weiter nach Lehrplan 21 zu arbeiten und den Kindern neue Themen und neuen Stoff vermitteln zu müssen. Vorgesehen sind insgesamt vier Aufgaben in Mathematik und Deutsch pro Tag. Zusätzlich erhalten die Kinder Gestaltungsaufträge und Sportinputs. Bei einigen habe sie den Wochenplan aber etwas angepasst, «das Wohlbefinden der Kinder ist letztlich wichtiger als irgendeine Matheaufgabe», findet Buser. Die positiven Rückmeldungen der Eltern bestärken Buser in ihrer Arbeit und auch die Selbstständigkeit der Kinder habe sie sehr beeindruckt, sagt die Primarlehrerin. Ihre Erstklässerler*innen seien weiterhin sehr motiviert und fleissig. Die Situation sei für alle neu. Bislang habe sie aber noch keine Zeit gehabt, sie wirklich zu reflektieren.
Nicht nur für die Lehrpersonen, auch für die Eltern, die die Kinder nun zu Hause betreuen und gleichzeitig arbeiten müssen, ist die Doppelbelastung enorm. Eine alleinerziehende Mutter, deren Kind ins Schulhaus am Wasser geht, ist froh um die täglichen Aufträge, die die Schüler*innen von der Klassenlehrerin erhalten, so kann das Kind ein paar Stunden am Tag selbstständig arbeiten. Ihr Arbeitspensum von 100 Prozent ist auch im Homeoffice nicht weniger geworden, eher im Gegenteil. «Ich wünschte mir, die Arbeitgeber würden stärker signalisieren, dass nicht erwartet wird, dass man in dieser Zeit dieselbe Leistung erbringt, wie wenn alles normal wäre», sagt sie. Von der Schule erfahre man diesbezüglich viel mehr Verständnis. Oft mache man sich den Druck auch selber, glaubt sie. Vielleicht sei es jetzt auch einmal in Ordnung, wenn der Abwasch nicht sofort erledigt wird, oder wenn die Kinder etwas mehr als sonst gamen. «Was wirklich etwas zu kurz kommt, ist der Austausch mit anderen Kindern», meint sie. Da könnte man ruhig auch einmal das virtuelle Klassenzimmer ausprobieren».

Die meisten verfügen über gute Infrastruktur zu Hause

Wenn es Fragen oder Probleme gibt, können Eltern und Kinder die Lehrpersonen kontaktieren. Die meisten Schüler*innen der sechsten Klasse von Milena Dolder können auf eine sehr gute Infrastruktur zurückgreifen. Einige hatten kein eigenes Tablet, da hat man eine Lösung gefunden. «Da sind wir wahrscheinlich sehr privilegiert», meint die Lehrerin. Auch im Vogtsrain nehmen Fachpersonen regelmässig Kontakt auf mit Kindern, welche zu Hause keine Hilfe mit dem Schulstoff erhalten können. Doch die Schere zwischen diesen Schüler*innen und solchen, die vom Elternhaus unterstützt werden, gehe in der Fernunterricht-Situation noch weiter auf, befürchtet Dolder. Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen sind für die Lehrpersonen schwer zu erreichen. Solchen Familien stehen der Schulpsychologische Dienst und die Schulsozialarbeit beratend zur Seite. Wichtig sei es, da als Lehrperson sehr aufmerksam zu sein. Bei Bedarf werde eine Helfergruppe organisiert und je nach Situation nach einer geeigneten Unterstützung gesucht. «Dran bleiben ist wichtig», meint Dolder.

Ferien sollen Ferien bleiben

Mit Ostern nähern sich auch die Frühlingsferien. Bereits machen sich manche Eltern Sorgen, wie sie ihre Schützlinge beschäftigen sollen, wenn der Schulalltag wegfällt und die Ferienausflüge nicht durchgeführt werden können. Sie fordern, dass die Schule auch weiterhin Material liefern soll. Silvia Steiner, Bildungsdirektorin der Schweiz, hält nichts von dieser Idee. Gegenüber dem Tagesanzeiger sagte sie, dass in den Ferien kein allgemeiner Unterricht stattfinden wird. Sowohl Eltern als auch die Lehrpersonen bräuchten eine Pause. Wenn einzelne Kantone Stützunterricht anbieten wollten, sei das aber nicht verboten. Stadtrat und Vorsteher des Schul- und Sportdepartements, Filippo Leutenegger. hat alle Eltern der Stadt Zürich dazu auch per Mail informiert. In der Schule Vogtsrain werden pro Klasse zwei bis drei Aufträge zur Verfügung gestellt. Diese sind jedoch freiwillig zu lösen. In den kommenden Tagen informiert der Bundesrat darüber, wie es an den Schulen weitergehen soll. Wahrscheinlich wünschen sich alle Lehrer*innen und Eltern, dass die Kinder bald wieder in ihre Klassen zurückkehren können. Während der Fernunterricht für Kinder in einem unterstützenden Umfeld zwar ein spannendes Experiment sein kann, ist es für Kinder ohne stabile Struktur eine sehr schwierige Zeit und kommt im besten Fall einem Stillstand gleich.

0 Kommentare


Themen entdecken