Von Berlin in den Rütihof

Steven Cyrol lebt seit 2011 im Rütihof. Seine Kindheit und Jugend hat er allerdings in einer weit grösseren Stadt verbracht – und dort auch das Ende der DDR miterlebt.

Steven Cyrol verbringt seine Freizeit am liebsten mit der Familie.

Geboren bin ich 1974 in Ludwigsfelde, in der Nähe von Berlin, in der ehemaligen DDR. Als ich 11 war, zogen meine Eltern direkt nach Berlin, in den damals neu entstehenden Bezirk Hellersdorf. Hier wurden grosse Wohnsiedlungen gebaut, so dass mein Vater eine Wohnung für unsere fünfköpfige Familie finden konnte.

Plötzlich war die Mauer weg

Als die Mauer fiel, war ich 15 Jahre alt. Das war für mich ein ziemlich surreales Erlebnis. Eigentlich habe ich von dieser politischen Sensation durch das SAT.1 Frühstücksfernsehen erfahren, das wir in Berlin – anders als im Rest der DDR – empfangen konnten. Ich ging an diesem Morgen, dem Tag nach der Maueröffnung, also ganz normal in die Schule und konnte kaum glauben, was passiert war. Klar hatten in den Wochen davor bereits immer die Montagsdemos in Leipzig und Dresden stattgefunden und viele Leute waren über die Botschaften in anderen Ostblock-Ländern in den Westen geflüchtet, aber dass die Wende so schnell kommen würde, damit hätte wohl niemand gerechnet.

 

Im Westen viel Neues

Die Hälfte der Klasse war an jenem Tag nicht in der Schule, die Familien hatten die erste Chance genutzt, Westberlin zu besuchen. Ich hab’ ein wenig länger gebraucht, bis es mich das erste Mal rüber in den Westen zog, das war bestimmt zwei Wochen später. Für mich als Jugendlicher war es bis dahin eigentlich kein grosses Thema gewesen, die DDR zu verlassen. Ausserdem wurde einem von staatlicher Seite immer eingetrichtert, wie «gefährlich» der Westen sei, mit seinem Kapitalismus, der Strassenkriminalität und weiterem Übel – deswegen hatte ich beim ersten Besuch zugegebenermassen schon sehr gemischte Gefühle. Die Eindrücke, die mich dort erwarteten, haben mich anfangs vollkommen überwältigt – das war tatsächlich eine ganz andere Welt als bei uns. Allein schon die Lebensmittelgeschäfte: im Osten waren die von aussen nur schwer als solche zu erkennen, kaum Produkte im Schaufenster, keine Werbung und im Inneren nur einige wenige Produkte. Und dann die bunte, beleuchtete Konsumwelt des Westens mit all ihrer Werbung. Oder die multikulturelle Gesellschaft, die etwa in Kreuzberg oder Neukölln zu finden war – das war etwas, das es im Osten nicht gegeben hatte.

 

Musik und Lebenseinstellung

Das Begrüssungsgeld, die 100 Deutsche Mark, die damals jede*r Ostdeutsche erhielt, habe ich für einen Walkman und für Schallplatten ausgegeben. Das war quasi der Anfang meiner Schallplattensammlung, die bis heute auf eine beträchtliche Menge an Platten angewachsen ist. In dem Alter entdeckte ich generell meine Begeisterung für die Musik. Zuvor war mein Hobby vor allem die Leichtathletik gewesen, doch mit 15 begann ich, in verschiedenen Bands Musik zu machen. Ursprünglich hatte ich mal mit Blechblasinstrumenten angefangen, doch immer zu wenig geübt, um wirklich vorwärts zu kommen. Gitarre spielen brachte ich mir nun lieber grad selbst bei und gründete anschliessend ca. jedes halbe Jahr eine neue Band. Punk war meine Musik und meine Lebenseinstellung, ich bewegte mich in der Hausbesetzer-Szene in den Berliner Quartieren Friedrichshain, Lichtenberg und Prenzlauer Berg.  In den besetzten Häusern gab es viele Konzerte und Partys, das war eine sehr intensive Zeit.

Auf der Intensivstation die Partnerin fürs Leben gefunden

Nach Schulabschluss und Zivildienst begann ich eine Ausbildung zum Krankenpfleger und arbeitete anschliessend im Unfallkrankenhaus Berlin Marzahn. Wegen meiner damaligen Freundin orientierte ich mich nach Süden – mit ihr gelangte ich schliesslich in die Schweiz. Ich lebte zunächst in Zug und begann dann in Zürich eine Weiterbildung zum Intensivpfleger. Anschliessend arbeitete ich zehn Jahre auf der Intensivstation des Unispitals. Die Arbeit auf dieser Station ist zwar nicht einfach, aber ich bin jemand, der zu Hause gut von der Arbeit abschalten kann. Ich habe es zudem immer sehr geschätzt, Patienten und ihre Angehörigen in dieser schwierigen Situation unterstützen zu können. Als Pfleger auf der IPS hat man einen viel engeren Kontakt zu Patienten und ihren Angehörigen, weil man pro Tag nur einen, höchstens zwei Patienten betreut. Das ist eine grosse Herausforderung – vor allem der Umgang mit der Familie – aber auch eine erfüllende Aufgabe.
Dort auf der Intensivstation habe ich 2008 dann auch Katharina das erste Mal gesehen, meine jetzige Partnerin. Auch sie arbeitete in der Abteilung als Pflegefachfrau. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir ein Paar wurden: drei Jahre lang waren wir lediglich Arbeitskolleg*innen, bevor wir tatsächlich zusammenkamen. 

Keine Metropole, aber hohe Lebensqualität

2011 zog ich in den Rütihof, Katharina folgte wenig später. Hier gefällt mir, dass ich so nahe an der Stadt wohnen kann und trotzdem nicht mittendrin sein muss. Alles ist von hier aus gut mit meinem Hauptverkehrsmittel, dem Fahrrad, erreichbar – ich bin in fünf Minuten im Wald und dennoch innerhalb kürzester Zeit in der Stadt. Das ist aus meiner Sicht eine sehr luxuriöse Infrastruktur. Gleichzeitig hat Zürich, obwohl es im Vergleich zu Berlin eine ziemlich kleine Stadt ist, kulturell sehr viel zu bieten, das hat mich immer schon beeindruckt.

Leidenschaftlicher Familienvater

Mittlerweile arbeite ich 90% bei der Spitex in einer Leitungsfunktion, verteilt auf vier Tage. Einen Tag pro Woche bin ich zu Hause mit unseren beiden Kindern, während Katharina arbeitet. Diese Zeit mit den Kindern bedeutet mir sehr viel, ich bin mit Leib und Seele Familienvater. Zeit für meine Hobbys bleibt da natürlich nicht mehr so viel. Zudem habe ich gerade berufsbegleitend noch ein Studium in Psychologie abgeschlossen, da war kaum noch Freizeit nebenher. Konzerte besuche ich daher nur noch äusserst selten und die Zeit als Bandmitglied ist für mich endgültig vorbei. Zumindest äusserlich ist meine Punkzeit also definitiv abgeschlossen – doch ein Stückchen davon lebt sicherlich in meinem Inneren noch weiter. Und das Sammeln von Langspielplatten ist nach wie vor meine grosse Leidenschaft.

 

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