Quartierleben
Vier Kriegsgefangenenlager überlebt
Harald Föhr, am 28. Januar 1925 in Berlin geboren und mit Bezug zur Schweiz, er- und überlebte Schweres: Vier Jahre seines Lebens war der heutige Höngger Kriegsgefangener der Russen in sibirischen Strafgefangenen-Lagern, Gulag genannt.
21. Februar 2013 — Redaktion Höngger
Harald Föhr, vor wenigen Wochen 88-jährig geworden, empfängt die Redaktorin in seiner Wohnung in Höngg. Dass der gepflegte Senior so viel erlebt hat, sieht man ihm nicht an. Als Sohn einer Opernsängerin und eines Kaufmanns in Deutschland geboren, besuchte er sogar drei Jahre die Grundschule in Zürich – sein Vater hatte Schweizer Wurzeln und so lag dies nahe. Als Harald Föhr 14 Jahre alt war, brach der Zweite Weltkrieg aus. Nach sechs Jahren Gymnasium in Berlin-Steglitz bewarb er sich an der Schauspielschule der Staatstheater (es waren 5) in Berlin – und wurde aufgenommen. «Mein Vater hätte natürlich gerne gesehen, dass ich die Matura gemacht hätte, deshalb sagte ich ihm nicht, dass ich mich an der Schauspielschule beworben hatte. Erst als ich aufgenommen wurde, weihte ich ihn ein.»
Perfekte Kostüme, perfekte Frisuren
Unter der Leitung des bekannten Intendanten und Schauspielers Gustaf Gründgens wurde er von 1941 bis 1943 in Sprechtechnik, Einzel- und Ensemble-Unterricht, Tanzen, Fechten, Kostümkunde, Kulturgeschichte, Schminken sowie Maskenschminken geschult. Alte Fotos zeugen von der Eleganz der damaligen Zeit, galant guckt der junge Mann in die Kamera, Kostüm und Frisur sitzen perfekt. Nicht perfekt verläuft hingegen der Alltag in Berlin-Wilmersdorf: Am 1. März 1943 wurde der Stadtteil von den Alliierten mit Brandbomben beworfen, danach folgten Sprengbomben. Die Wohnung, in der die Familie damals wohnte, brannte aus – genauso wie das ganze Quartier lichterloh brannte und alles in Schutt und Asche lag. «Ich war an diesem Abend im Fechtclub und rannte nach der Entwarnung heim, um meine Schwester und meine Mutter zu suchen. Ich durchsuchte alle Keller in der Umgebung und legte mich Stunden später erschöpft in einen vermeintlich leeren Keller – da hörte ich Stimmen, ging ihnen nach und traf auf meine Mutter und Schwester: Sie waren per «Zufall» im gleichen Keller wie ich gelandet! Überglücklich schlossen wir uns in die Arme.» Für ihn war dieses Sich-finden Schicksal und Bestimmung zugleich. Sein Vater war zu dieser Zeit in Österreich und der Tschechoslowakei, wo er als Vertreter Produkte der Firma Dr. Wander bekannt machte. Später wurde auch er eingezogen, und zwar als Zugsbegleiter.
Mit 18 Jahren eingezogen
Dann rief der Krieg den jungen Schauspieler. Mit 18 Jahren wurde Harald Föhr eingezogen und in Bayreuth und Jugoslawien ausgebildet. Dann beförderte man ihn mit 19 Jahren zum Gruppenführer und sandte ihn an die Front nach Ungarn, dies nach dem Fall von Stalingrad. «Meine Untergebenen waren gleichaltrige Burschen, der Zweite Weltkrieg tobte seit 1939, unzählige Offi ziere und Soldaten waren schon gefallen oder verwundet – wir waren ihr Ersatz.» Bereits sein älterer Bruder Lothar leistete Militärdienst und starb 20-jährig am Fleckfieber in einem Lazarett in Berlin. «Ich bin ein sehr gläubiger Mensch, und in den Zeiten, in denen ich im Einsatz an der Front stand, hörte ich immer eine innere Stimme, die mir sagte ‹Harald, du kommst hier durch!›». Jahre später, als er heimkehren konnte und in der Wohnung der Mutter das Bild des Bruders sah, schien es ihm, als sei die zuversichtliche Stimme, die er in schlimmsten Situationen gehört hatte, die seines Bruders gewesen.
Einen Tag nach Kriegsende gefangen genommen
Einen Tag nach Kriegsende, am 9. Mai 1945, Deutschland kapitulierte bedingungslos, wurden Harald Föhr und tausende andere Wehrdienstpflichtige, aber auch Sudetendeutsche, also Deutsche, die in Grenznähe der Tschechoslowakei lebten, von russischen Militärs in der Nähe von Prag gefangen genommen. «Wir waren auf der Suche nach amerikanisch besetztem Gebiet, doch kein Mensch wusste, wo die Russen oder die Amerikaner waren.» Die Militärs wurden entwaffnet und mit allen Flüchtlingen auf einen Fussballplatz gepfercht. Dort hielt man sie gut zwei Wochen fest, dann erfolgte der «Todesmarsch» nach Prag: «Nach jeweils fünf Kilometern im Laufschritt gab es fünf Minuten Pause. Wer das nicht durchhielt und zusammenbrach, wurde erschossen. Dieser Lauf war ein Lauf um das Leben.» Nach einem Zwischenhalt in einem Sportstadion in Prag mussten sie weitere drei Tage Richtung Deutschland marschieren und kamen in der Nähe von Dresden in ein Auffanglager in der Ortschaft Pirna. Dort hielt man sie ein halbes Jahr gefangen. Eines Tages fuhr ein langer Güterzug vor, und die Kriegsgefangenen mussten zu je 45 Mann in die Viehwaggons einsteigen. Es hiess, sie müssten beim Wiederaufbau des Stettiner Hafens helfen. Nach 33 Tagen im stinkigen, engen Waggon, der einmal täglich von aussen geöffnet wurde, um fade Suppe zu empfangen und den Notdurft-Eimer zu entleeren, kamen die geschwächten Männer jedoch in Sibirien an – die Russen hatten ihnen falsche Informationen gegeben. In der Sommeruniform bei Minus 50 bis 60 Grad ein Horror – die Russen statteten die Gefangenen mit ausgetragener Soldatenkleidung aus, welche wattiert war – «mit mehr oder weniger Watte, je nach Zustand der Kleidung». Gewohnt wurde in windigen Holzbaracken, ringsum nur endlose, schneebedeckte Weite. «Tag und Nacht sang der Wind sein säuselndes Lied durch die Barackenritzen, wir waren alle voller Flöhe und Läuse, die Wanzen regneten nachts buchstäblich auf uns herab.» Während der ganzen vier Jahre gelang es ihm, seinen Siegelring, ein Geburtstagsgeschenk der Mutter zum 18. Geburtstag, und seine Uhr zu verstecken und auf sich zu tragen. «Wer im ersten Gefangenenlager in Ricany mit Wertsachen erwischt wurde, wurde auf der Stelle erschossen. Ich setzte mich so einem grossen Risiko aus, aber dass ich mein Leben für etwas aufs Spiel setzte, stärkte meine Widerstandskraft, um zu überleben», erklärt der Senior. Harte Arbeit, kaum Essen In jedem der Gefangenenlager wurden zwischen 3000 und 5000 Kriegsgefangene untergebracht. Sie wurden für den Strassen- und Häuserbau, in einer Papierfabrik sowie in einem Eisenbahn-Instandsetzungswerk eingesetzt. «Ich war Zuträger beim Häuserbau, das heisst, dass man mir die Ziegel auf eine Trage auf den Rücken lud und ich diese zum Bauplatz tragen musste – und auch in die oberen Stockwerke der Häuser, wenn es so weit war. Das Holz für das Lager musste zehn Kilometer entfernt auf einem Schlitten geholt werden.» Insgesamt vier Lager waren die Stationen von Harald Föhr. Im ersten erkrankte er an Gelbsucht, im zweiten an Gesichtsrose, einer Krankheit, die einem das Gesicht durch Narben entstellen kann, dann an Bauchtyphus. «Ich wurde ins Sterbezimmer verlegt, nur mit einem Nachthemd und einer Decke ausgerüstet. Medikamente waren nicht vorhanden, es wurde nur täglich Fieber gemessen.» Während dieser Zeit habe er oft Zwiegespräche mit Gott geführt: «Wer in dieser Zeit keinen Glauben hatte oder ihn verlor, stand dies kaum durch – ich war jung und ich war nicht bereit, mich aufzugeben.» Nach etwa drei Wochen traute Harald Föhr seinen Augen kaum: Vor ihm stand ein neuer Sanitäter, und zwar ein Kamerad, der mit ihm im Viehwaggon sein letztes Brot geteilt hatte. «Er hiess Herbert Funke pflegte mich gesund und wurde mir zum Lebensretter. Er brachte mir fortan vor der Arztvisite jeden Morgen einen halben Liter abgekochtes Wasser – so pflegte er mich gesund. Ich bin heute noch dankbar dafür.» Vergeblich hat er jahrelang versucht, etwas über Herbert Funke zu erfahren. Massiv unterernährt, noch 45 Kilogramm wiegend, konnte Föhr das Sterbezimmer wieder verlassen. Das Essen bestand in der ganzen Lagerzeit aus drei Halbliter-Rationen wässriger Kohlsuppe und 600 Gramm Brot pro Tag. Nach den Aufenthalten in vier Gefangenenlagern in Russland wurde Harald Föhr 1948 wieder ins erste Lager nach Tscherepowez gebracht, welches ein Auffang- und Entlassungslager war. Irgendwann gab es Gerüchte, dass Gefangene entlassen werden sollten. Und dann kam auch Harald Föhr dran: Diesmal blieben die Waggontüren des Zuges offen, und nebst wässriger Suppe gab es auch mal Brei – schliesslich sollten die ehemaligen Kriegsgefangenen einigermassen gesund aussehen . . . Vom Entlassungslager in Frankfurt an der Oder aus fuhr er am 28. März 1949 nach Berlin, wo glücklicherweise Mutter und Schwester noch in derselben Notwohnung wie 1943 wohnten. Das Wiedersehen war unbeschreiblich, was jedoch verloren war, «sind meine Jugendjahre von 18 bis 24 Jahren», so der Schauspieler, der danach in seinem Beruf wieder Fuss fassen konnte. Dies war der erste Teil der Geschichte von Harald Föhr, den zweiten Teil kann man in einer der nächsten Ausgaben des «Hönggers» lesen.
Nach 45 Jahren Russland wieder besucht
Über all dies, was in den verschiedenen Gefangenenlagern passierte, konnte Harald Föhr fast fünfzig Jahre lang nicht reden. «Damals gab es noch keine Care-Teams, welche psychologische Hilfe anboten. Jeder war sich selbst überlassen. Meine Arbeit als Schauspieler half mir, darüber hinwegzukommen, ausserdem wusste ich so aus eigener Erfahrung, wie man authentisch einen Soldaten spielt», schmunzelt der 88-Jährige, der die Lebensfreude wieder zurückgewonnen hat.
Das Leben bewusst leben
1994 reiste er das erste Mal freiwillig nach Russland, er wollte die «Orte des Todes» besuchen und so dieses Kapitel seiner Lebensgeschichte abschliessen. «Bis heute war ich fünf Mal in Russland. Die Familie, bei der ich jeweils wohne, bedeutet mir viel, es hat sich eine richtige Freundschaft entwickelt. Bereits beim ersten Besuch wurde ich wie ein Familienmitglied aufgenommen.» Auch wenn die Kriegsgefangenenlager abgebrochen wurden und nurmehr leere Flächen an ihrer Stelle sind, brauchte es dies, um Harald Föhrs Herz und Seele zu befreien: Nach der Rückkehr von seiner Russland-Reise begann er das Erlebte zu erzählen, um so möglichst viele Leute in Ländern auf der ganzen Welt darauf aufmerksam zu machen, wie schrecklich Krieg sei, und dass man für den Frieden und die Völkerverständigung etwas tun soll. «Man sollte nicht vergessen, was passiert ist, denn nur so kann man für die Zukunft handeln.»
Viele Auftritte in verschiedenen Theatern
Er, dem Gläubigkeit sehr wichtig ist, wurde römisch-katholisch erzogen und er hielt diesem Glauben auch lange Jahre die Treue. Nach der Heirat 1961 mit seiner iranischen Frau Farah Afiatpour, ebenfalls eine Opernsängerin wie seine Mutter, konvertierte er 1990 zum iranischen Baha`i-Glauben, welcher als neunte Weltreligion anerkannt ist und ihn seither durchs Leben begleitet. «Die Toleranz dieser Religion ist es, die mich fasziniert. Dank ihr fand ich auch die Motivation, 1994 nach Russland zu gehen.» Nach seiner Rückkehr 1949 aus der russischen Kriegsgefangenschaft arbeitete Harald Föhr zehn Jahre als Schauspieler und trat in Theatern in Deutschland, der Schweiz und Österreich auf. «Ich war nur drei Tage daheim, als ich im Frühling 1949 den Wunsch verspürte, mit einem Theater in Berlin wieder Kontakt aufzunehmen. Zufälligerweise fand ein Vorsprechen statt, und so konnte ich noch im selben Jahr wieder auf den Brettern, die für mich die Welt bedeuteten, stehen.» 1957 lernte er in Klagenfurt am dortigen Theater seine spätere Frau Farah kennen: «Sie sang bei uns und hatte eine wunderschöne Stimme. In der Annahme, da sie Deutsch sang, spräche sie es auch, ging ich auf sie zu und machte mich mit ihr bekannt, doch sie sagte nur ‹Guten Tag, wie geht es Ihnen? Auf Wiedersehen.› Da wurde mir klar, dass sie nur wenig Deutsch sprach und verstand.» Die Zeit verging, 1959 hatte Föhr ein Engagement am Stadttheater Bern, welches ihn aber künstlerisch nicht sonderlich begeisterte. Was ihn hingegen befl ügelte, war die Tatsache, dass Farah auch in die Schweiz gelangte: Sie hatte ein Engagement am Opernhaus Zürich erhalten. Es war klar, dass die beiden heiraten würden – was sie auch taten. Drei Töchter erblickten das Licht der Welt in der Schweiz und heute ist Harald Föhr bereits dreifacher Grossvater.
Vom Schauspieler zum Handelsreisenden
Eine Familie kostet Geld, und so ging Harald Föhr bereits 1959 mit seinem Vater, der noch immer als Handelsreisender arbeitete und den er nach 16 Jahren erstmals wieder sah, auf Tour. «Das Vertreter-Leben gefiel mir: Es ist auch ein Schauspieler-Beruf, und ich konnte mir deshalb treu bleiben – so stieg ich in diese Branche ein.» 23 Jahre arbeitete er für eine Getränkefirma als Alleinvertreter für die Deutschschweiz und die Kantone Wallis und Tessin, dann fand er eine neue Stelle bei der damaligen PTT als Fernmeldespezialist. «Nach der Pensionierung führte ich in den Neunzigerjahren in einer Laientheatergruppe Regie, arbeitete beim Kunsthaus Zürich als Aufseher, spielte von 1998 bis 2010 Piano im Restaurant Da Capo im Zürcher Hauptbahnhof und gab sprecherzieherischen Unterricht – so gab es immer etwas zu tun», erzählt der Senior, der seit 1973 eingebürgert ist und seit vielen Jahrzehnten in Höngg wohnt.
Sein Buch wird noch dieses Jahr erscheinen
Heute dichtet er häufig, schreibt viel und entlockt dem Klavier in seiner Wohnung ab und zu ein paar Klänge, welche die schönen Erinnerungen an glamouröse Zeiten zurückbringen. Ein grosses Projekt ist aber im Tun: Das Manuskript seiner Jahre in Kriegsgefangenschaft ist bei einem Verlag in Bearbeitung und wird bis Ende dieses Jahres als Buch erscheinen – der «Höngger» wird darüber berichten. Zum Schluss der Serie ein Zitat von Harald Föhr: «Wenn Du etwas ändern möchtest, dann musst Du von Dir aus bereit sein, den ersten Schritt zu tun. Warte nicht, bis ein anderer auf Dich zukommt, denn der kommt in der Regel nie – und genau darum bleibt immer alles beim Alten.»
Das Archiv für Zeitgeschichte hat einen grossen Teil der Dokumente und Berichte von Harald Föhr aufgenommen. Wer sich eingehender mit dem Thema befassen möchte, findet dort viel Wissenswertes. ETH Zürich, Archiv für Zeitgeschichte, Hirschengraben 62, Zürich, Telefon 044 632 40 03, www.afz.ethz.ch
Rund 3,5 Millionen Angehörige der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS gerieten zwischen 1941 und 1945 in russische Kriegsgefangenschaft. Ungefähr zwei Millionen kehrten heim, die letzten erst im Jahr 1956. Das heisst, dass etwa zwei Millionen in Russland starben. Nach der Schlacht von Stalingrad gerieten 90’000 Soldaten in russische Gefangenschaft – von diesen kehrten jedoch nur 6000 nach Hause zurück. Im Zweiten Weltkrieg starben je nach Informationsquellen zwischen 50 und 70 Millionen Menschen.
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