Väterchen Frost auf dem Gewissen

Unsere Redaktorin Dagmar Schräder schreibt über die grossen und kleinen Dinge des Lebens. Heute nimmt sie Abschied vom Winter.

Dagmar Schräder liebt es zu schreiben. (Foto: Jina Vracko)

Ich fühle mich schlecht. Und schuldig. Schuldig am Verschwinden des Winters. Denn der ist nicht mehr da. Nicht, dass ich eine grosse Wintersportfanatikerin wäre – ganz im Gegenteil. Skifahren ist gar nicht mein Ding. Und vom Schlittschuhfahren tun mir immer so mordsmässig die Füsse weh, dass ich sie schon nach einer Runde auf dem Eis hochlagern muss. Ich kann eigentlich auch gut damit leben, dass es momentan nicht ganz so kalt ist und man sich ohne zu frieren draussen aufhalten kann.

Aber dennoch: Solch einen Winter möchte ich nicht. Wie so viele andere auch war ich, ich gebe es zu, mit den Kindern zwischen den Jahren für ein paar Tage in den Bergen. Und konnte den Anblick kaum ertragen. Diese ekelhaft kahlen, braunen Hügel mit ihrem seltsamen weissen Band aus Kunstschnee, auf dem sich hunderte und tausende von kleinen, Ameisen gleichenden, Skifahrer*innen tummeln – wie wenn nix wäre. Après-Ski im T-Shirt, Abfahrtsstrecken neben Mountainbikern. Grauenhaft.

Dabei geht es mir nicht so sehr um das Schicksal der Skigebiete und Tourismusdestinationen. Klar, das ist hart. Aber noch viel schlimmer ist es, dass wir eine ganze Jahreszeit abschaffen. Eine, die zum Leben einfach dazugehört. Sie verschwindet und kommt nicht mehr zurück. Dann werden unsere Kinder nicht mehr wissen, wie es sich anfühlt, ohne Handschuhe einen Schneemann zu bauen und nach der ersten grossen Kugel kapitulieren zu müssen, weil die Hände so eiskalt und klamm geworden sind. Und wie schön es ist, so richtig durchfroren nach Hause zu kommen und sich ein heisses Bad zu gönnen.
Und wie soll man sich richtig über den Frühling freuen, darüber, wie alles wieder zum Leben erwacht, wenn die ersten Bienen schon im Januar nach Blütenpollen suchen? Wenn jetzt alles schon wieder blüht und die Nase wegen Heuschnupfen zu jucken beginnt? Sogar meine Hühner sind schon in Brutstimmung. Ostern und Weihnachten gleichzeitig?

 
Mich macht das richtig traurig. Und noch trauriger macht mich die Gewissheit, dass sich trotzdem immer noch nichts ändern wird. Nicht mal bei mir selber passiert wirklich etwas. Wir sind so unglaublich anpassungsfähig und träge, dass wir uns kurz darüber aufregen, verzweifeln, alles ändern wollen – und uns dann an die neue Situation adaptieren. Eine ähnliche Kolumne wollte ich eigentlich bereits im Sommer schreiben – damals, als es viel zu warm und zu trocken war. Hab ich aber nicht. Und das Thema angesichts all der anderen kleinen und grossen privaten und globalen Probleme wieder erfolgreich verdrängt. Bis jetzt. Aber ganz ehrlich – es wird langsam Zeit aufzuwachen. Was muss denn noch alles passieren?

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