«Unter Sehenden fühle ich mich akzeptiert»

Andrea Meier* arbeitet seit zwölf Jahren als Telefonistin bei ESPAS. Obwohl sie zufrieden ist mit ihrer Arbeitgeberin, sehnt sie sich nach einer Stelle im ersten Arbeitsmarkt.

Andrea Meier und ihre Hündin Visby sind schnellen Schrittes unterwegs.

Als sie sechs Monate alt war, stellte man fest, dass ihr Sehnerv und die Netzhaut bei ihrer Geburt zerstört worden waren. Sie war vollblind. Mit drei Jahren wurde ihr und ihren Eltern eine heilpädagogische Betreuerin zur Seite gestellt, die ihnen innerhalb ihrer vier Wände beibrachte, wie sie den Alltag als Blinde bewältigen kann. Trotz ihrer Behinderung erlebte sie eine gute und freie erste Kindheit: Sie konnte einen öffentlichen Kindergarten besuchen und tollte in der Freizeit mit den sehenden Nachbarskindern und ihren beiden jüngeren Schwestern herum. Sie lernte Stelzenlaufen, Rollschuhlaufen und Velofahren, «alles, was die anderen auch machten». Bewegung, laufen, wandern, das sei schon immer «ihr Ding» gewesen, sagt Meier heute. Und das komme ihr heute sehr zu Gute, sie verfüge über einen guten Gleichgewichtssinn und sei auch beweglicher. Der Lehrer in ihrem Dorf wäre zu dieser Zeit wohl noch nicht bereit gewesen, ein Kind mit einer Behinderung einzugliedern, «das kannte man damals einfach noch nicht». Stattdessen kam Meier nach Zollikofen, Bern, in ein Wocheninternat der Stiftung für sehbehinderte und blinde Kinder. Aus heutiger Sicht findet sie es nicht gut, dass man die Kinder von den Sehenden getrennt unterrichtet hat, ihr gefällt die jetzige Lösung in den Schulen besser. Nach den in Bern zehn obligatorischen Schuljahren plus ein Jahr, das sie wiederholen musste, war die Zeit gekommen, in die Arbeitswelt einzusteigen. Blinden Menschen standen damals drei Berufe zur Auswahl: Telefonistin, Masseurin oder Klavierstimmerin. Eigentlich hätte sie lieber Pflegefachfrau gelernt, aber ihr war immer klar, dass dies nicht möglich sein würde. Also ging sie nach Basel in die Eingliederungsstelle für Sehbehinderte und liess sich zur Telefonistin ausbilden. «Der Stoff war derselbe, den auch die Sehenden vermittelt bekamen», erzählt Meier. «An einem Punkt waren wir den anderen aber voraus: Wir hatten das Zehnfinger-System bereits in der Oberstufe gelernt».

Erste Berufserfahrung im freien Arbeitsmarkt

Ihre erste Anstellung fand Meier bei der Schweizer Metallunion. Sie arbeitete am Empfang des Ausbildungszentrums für Metallbauzeichner, Schlosser und ähnliche Berufe, nahm dort Telefonanrufe entgegen, schrieb Protokolle, alles was dazu gehört. «Leider wurde die Stelle bald aufgelöst, dort hat es mir sehr gut gefallen». Danach fand sie keinen Job mehr und ging schliesslich in den zweiten Arbeitsmarkt, wo sie für eine Firma arbeitete, die Haushalts- und Körperpflegeprodukte herstellte. Ironischerweise kam sie dort fast an ihre Belastungsgrenze: Der Telefonverkauf und der damit einhergehende hohe Druck machten ihr zu schaffen. Aus Mangel an Angeboten blieb sie dennoch elf Jahre, bevor sie von ESPAS hörte und sich dort als Telefonistin bewarb. «Auf der Stellensuche fühlte ich mich schon manchmal diskriminiert», erzählt Meier rückblickend. Obwohl sie beispielsweise darauf hinwies, dass die IV die Kosten für die notwendigen Hilfsmittel am Arbeitsplatz übernimmt, hätten sie die Arbeitgeber nicht einmal zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Manche scheinen prinzipiell keine IV-Bezüger*innen anstellen zu wollen. «Man fühlt sich immer als Ausnahme, das ist kein gutes Gefühl. Wir können schliesslich auch nichts dafür, dass wir ein Handicap haben», meint sie.

Der Arbeitsplatz bei der ESPAS wurde speziell für sie mit einem Sprachausgabesystem ausgestattet, inzwischen arbeiten noch weitere Menschen mit einer Sehbehinderung in der Abteilung. Man werde immer unterstützt, wenn ein Programm einmal nicht funktioniere. Etwas, das ihr ebenfalls gefällt: Am Telefon merkt man ihr nicht an, dass sie blind ist. Sie fürchtet, dass die Leute gar nicht mit ihr telefonieren würden, wenn sie wüssten, dass sie eine Behinderung hat. «Viele haben Hemmungen, und wissen einfach nicht, wie man mit Menschen mit einer Behinderung umgeht». Im Alltag äussere sich das darin, dass man im Zug auf die Frage «ist hier noch frei» nur Schweigen zur Antwort bekäme, oder dass ein Bus, der hinter einem anderen stehe, einfach vorbeifahre und nicht nochmals für die Blinde anhält. Da sei sie sich aber nicht zu schade, den Vorfall auch zu melden. «Im Grossen und Ganzen sind die Menschen aber nett», meint Meier. Selbstmitleid liegt ihr fern. Was ihr wichtig scheint, ist eine Sensibilisierung für Menschen mit Behinderungen. Sie gibt gerne Auskunft und kommt auch leicht mit anderen ins Gespräch. «Wenn man eine blinde Person am Strassenrand sieht, sollte man sie einfach ansprechen. Wenn sie keine Hilfe braucht, wird sie dies auch sagen», meint Meier. Was man aber auf keinen Fall tun sollte, ist jemanden ungefragt über eine Strasse zu zerren oder den Blindenhund streicheln. «Bitte immer nur die Person ansprechen, der Hund ist sonst abgelenkt».

Lieblingsfarbe: Blau

In ihrer Freizeit unternimmt die sportliche Frau viel. Mit dem Lauftreff Limmattal trainiert sie seit vier Jahren, und hat bereits einen Halbmarathon um den Sarnersee bewältigt, von dem sie heute noch schwärmt: «Anfangs dachte ich, dass ich es nicht schaffen würde. Aber gleich nach dem Start waren die Glückshormone da, ich wurde vom Sog der anderen Läufer*innen mitgerissen und hielt bis zum Ziel durch». Ihr nächstes Ziel ist der Aargauer-Marathon im Jahr 2020. Auch bei einer Wandergruppe ist sie dabei. «Wir werden von Freiwilligen begleitet, die uns führen», erklärt sie. Auch beim Einkaufen brauche sie Sehende, da die Lebensmittel nicht immer am selben Ort stehen. Beim Kleiderkauf vertraut sie auch lieber auf eine Bekannte, die ihr die Kleider nach ihrem Wunsch auswählt. Wie aber weiss sie, welche Kleider sie am Morgen anzieht? «Ich habe alle meine Kleider nach Farben sortiert», erzählt sie, «ich habe gelernt, wie man Farben und Muster kombinieren kann und besitze deshalb nur Stücke in Rot, Blau, Schwarz, Weiss, vielleicht noch Türkis». Farben hätten sie schon immer interessiert, ihre Lieblingsfarbe sei Blau, aus welchen Gründen auch immer, lacht sie. Heute zum Beispiel trägt sie ein hellblaues Strickjäckchen. Wie kann man sich eine Vorstellung von «Farbe» machen, wenn man sie nie gesehen hat? «Wir suchen Vergleiche, zum Bespiel Rot wie Feuer, oder dass Schwarz dunkel ist und Weiss sehr hell». Es ist Meier wichtig, dass sie gut und gepflegt aussieht und sie ist auch dankbar, wenn man sie auf einen Fleck hinweist. «Ich will nicht, dass die Leute denken, ach, sie ist blind, darum ist sie so ungepflegt». Dass viele Sehenden alle Blinden in einen Topf werfen, nervt sie manchmal. «Wir sind verschiedene Persönlichkeiten, wir können verschiedene Dinge – und andere eben nicht».

Kontakt zu Sehenden ist wichtig

Seit sie 26 Jahre alt war, hat sie Hunde. Aktuell ist Visby ihre ständige Begleiterin. Mit ihr zusammen lernt sie die Wege, die sie gehen muss. Visby ist auf Meiers Hörzeichen angewiesen, das heisst, Meier muss immer wissen, wo sie sich gerade befindet. Vieles läuft dabei über die Akustik oder über Hinweise wie Bodenbeläge. Manche Wege, zum Beispiel entlang einer Häuserzeile, sind aber akustisch monoton, da sei sie auch schon einmal an einer Türe vorbeigelaufen, weil sie nicht eruieren konnte, auf welcher Höhe sie sich befindet. Der Hund ist in diesem Moment eine grosse Hilfe, «mit dem Stock war das schon eine andere Herausforderung». Bei Geburtsblinden ist die Landkarte im Kopf nicht ausgeprägt. «Wir kennen nur die Wege, die wir gelernt haben. Das ist erstens sehr aufwendig und zweitens ist dadurch unsere Mobilität sehr eingeschränkt», erklärt Meier. Es ist schwierig, sich als sehende Person in die Situation hineinzuversetzen. Ihr persönlich ist nun natürlich das Gehör sehr wichtig, einmal hätte sie es nach einem Konzert fast auch verloren. «Da hatte ich wirklich Glück, seither passe ich besser auf». Aber es muss halt schon ein bisschen «fetzen» für die unternehmungslustige Frau. Sie geht gerne an Konzerte, geniesst es unter den vielen Leuten zu sein, ein bisschen auszuflippen und zu tanzen. ABBA ist ihre Lieblingsgruppe, aber sie hört auch sonst gerne Rock und Pop. Ihr Freundeskreis ist gemischt, das ist ihr sehr wichtig. Nicht, dass sie sich nicht mit anderen Blinden unterhalten könnte, die Themen seien ja dieselben, aber unter Sehenden zu sein, sei für sie eine Bereicherung, sie fühle sich dann akzeptiert. Das grösste Kompliment sei, wenn man vergesse, dass sie blind ist und sie zum Beispiel irgendwo stehen lasse. Das sei schon vorgekommen, erzählt Meier lachend. Bei der ESPAS gefällt es ihr sehr gut, sie hofft, dass die Arbeitsbedingungen so bleiben, dass sie hier noch pensioniert wird. Dennoch, sie sehnt sich schon nach dem ersten Arbeitsmarkt. Gäbe es dort ein Angebot, das identisch wäre, mit sinnvoller Arbeit und guten Mitarbeiter*innen, dann würde sie dieses vorziehen.

*Name der Redaktion bekannt

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