Stärken bei Kindern entdecken und fördern

Auf Einladung des Elternrats der Schule Rütihof informierte Ulrike Stedtnitz am vergangenen Dienstag, 25. Oktober, interessierte Eltern darüber, wie sie das Potenzial ihrer Kinder am besten fördern können.

Mit der Fragestellung, wie sie ihre Kinder am besten fördern können, setzen sich alle Eltern naturgemäss seit der Geburt ihres Kindes tagtäglich auseinander. Auch Lehrpersonen stehen in ihrem Beruf stets vor der Herausforderung, die individuellen Interessen und Fähigkeiten der Kinder möglichst mit dem Lehrplan in Einklang zu bringen und gleichzeitig die kindliche Freude am Lernen aufrecht zu erhalten.

Leistungsexzellenz statt Begabung

Aus diesem Grund hatte der Elternrat der Schule Rütihof eine Fachfrau auf dem Gebiet der Kompetenzentwicklung zu einem Gastreferat ins Schulhaus eingeladen. Interessiert folgten die 120 Anwesenden den Ausführungen der Entwicklungspsychologin Ulrike Stedtnitz, die seit fast 30 Jahren in Höngg wohnt und hier mit ihrem Team in ihrer eigenen Praxis Potenzialabklärungen, Berufs- und Laufbahnberatungen für Kinder und Erwachsene anbietet. Die ehemalige Primarlehrerin, die in den USA ihr Psychologiestudium absolviert hat, legte in ihrem Referat zunächst Wert darauf, mit den Begrifflichkeiten «Talent» und «Begabung» ein wenig aufzuräumen. Für Stedtnitz handelt es sich beim Begriff der Begabung, wie er heute verwendet wird, lediglich um einen «Mythos». Talent oder Begabung liessen sich, so Stedtnitz, wissenschaftlich gar nicht messen. Mit der Entwicklung von IQ-Tests etwa sei zwar ein Versuch gemacht worden, intellektuelle Begabung als messbare Grösse zu etablieren, die Ergebnisse seien aber wenig aufschlussreich, um das tatsächliche Potential zu ermitteln, das in den einzelnen Menschen steckt. Einerseits werde der IQ-Test dem komplexen System des menschlichen Gehirns sowieso nicht gerecht und sei zudem nur eine Momentaufnahme andererseits bedeute ein hoher IQ noch lange nicht, dass die betreffende Person in ihrem Berufsleben auch besonders erfolgreich sei. Statt von Begabung spricht Stedtnitz daher lieber von «Leistungsexzellenz». «Leistungsexzellenz», so Stedtnitz, «ist keine statische, sondern von Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten abhängige Grösse, die sich ständig verändert.»

Jeder kann Experte werden

Das bedeutet, dass Hochleistung in einem bestimmten Gebiet eben weniger von überdurchschnittlicher Begabung, sondern vielmehr von anderen Faktoren wie dem Interesse an einer Sache und dem Engagement in diesem Gebiet abhängig sind. Der Kompetenzerwerb durch gezieltes Training ist für den Erfolg schlussendlich wichtiger als die Begabung – diese sorgt lediglich für einen guten Ausgangspunkt. Einen wichtigen Einfluss hat auch die «Beziehung» zu Eltern, Lehrpersonen und Lehrmeistern. Die Ermutigung durch diese «Vorbilder» fördert den Lernprozess. Im Grunde genommen kann demnach jeder und jede in allen Gebieten zu Leistungsexzellenz kommen, wenn die Faktoren günstig zusammenspielen. Eine durchschnittliche Intelligenz reiche, so Stedtnitz, durchaus aus, um in einem Gebiet Höchstleistungen erbringen zu können. Nach Stedtnitz wird jemand zum «Experten», also zum Höchstleister auf einem Gebiet, sobald er oder sie sich rund 10 000 Stunden oder zehn Jahre intensiv mit dem Thema beschäftigt hat. Etwas plakativ ausgedrückt bedeutet dies: Wer es sich zum Ziel gesetzt hat, Konzertpianist zu werden, kann dieses Ziel erreichen, wenn er genug lang übt – sofern die Rahmenbedingungen stimmen. Oder andersherum: Mozart hatte sicher aussergewöhnliche musikalische Fähigkeiten, aber auch er musste üben und wurde zudem von seinem Umfeld stark gefördert. Seine Schwester dagegen, die wohl ähnliche Fähigkeiten besass, wurde vom Elternhaus nicht unterstützt und konnte nicht zuletzt deshalb auch nicht erfolgreich werden.

Wie fördern?

Um ihre Kinder optimal fördern zu können, müssen Eltern also nicht nach einer besonderen Begabung ihrer Sprösslinge suchen, sondern vielmehr deren Interessen fördern und vertiefen sowie versuchen, neue Interessen bei ihnen zu wecken. Stedtnitz unterscheidet sechs verschiedene Haupt-Interessensbereiche, die von «praktisch-technisch» bis hin zu «sozial» reichen und innerhalb derer sich die meisten Menschen wiederfinden. Ein praktisch-technisch interessiertes Kind, das gerne werkelt und baut und der Funktion der Dinge auf den Grund geht, lässt sich also einerseits durch Vertiefung dieses Interesses fördern, indem ihm die Eltern die Gelegenheit bieten, seine Interessen auszuleben. Andererseits können immer wieder auch neue Interessen geweckt werden ─ etwa durch neue Erfahrungen. Denn das Hirn, so Stedtnitz, sei unendlich flexibel und lernfähig ─ und bis ins hohe Alter in der Lage, neue Dinge aufzunehmen und Hochleistungen zu erbringen. Nachhaltige Lernerfahrungen seien dabei vor allem solche Erfahrungen, die mit allen Sinnen gemacht werden und nicht nur eindimensional über Lesen oder Zuhören vermittelt werden. Und schliesslich heisst es: Übung macht den Meister. Eltern haben dabei gemäss Stedtnitz die Rolle, ihre Kinder zu ermutigen, am Ball zu bleiben und sie für ihre Bemühungen zu loben. Dabei sei es wichtig, nicht ergebnisorientiert zu loben, sondern die Anstrengung zu belohnen. Entscheidend sind also nicht in erster Linie die guten Noten bei einer Prüfung, sondern der Einsatz, den das Kind beim Erwerben der Kompetenzen an den Tag legt.

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