Stadt
Spielend Stürzen vorbeugen
Am Institut für Bewegungswissenschaften der ETH Zürich untersucht eine Forschungsgruppe, wie altersbedingte Stürze verhindert werden können. Neben der Muskelkraft und dem Gleichgewicht spielt das Hirn eine tragende Rolle.
28. Februar 2018 — Patricia Senn
Am Ende des langen, weissgestrichenen Ganges des Sport-Centers am Hönggerberg, steht eine Gruppe Studierender um ein Gerät, das aussieht wie eine Mischung zwischen Spielkonsole mit grossem Bildschirm und Laufband. Anstelle des Laufbands ist jedoch eine Platte mit vier Pfeilen am Boden montiert, auf welche man treten muss, um zu steuern, was auf dem Bildschirm geschieht. Gerade lenkt ein Student mit den Füssen eine virtuelle Schlange auf einen Punkt zu, immer schneller bewegt sich der Strich, immer hektischer werden die Bewegungen, um das vorgegebene Ziel zu erreichen. Dies ist nur eines von verschiedenen Spielen, sogenannte «Exergames», mit denen gleichzeitig die visuell-räumliche Verarbeitung und die Reaktionsgeschwindigkeit trainiert werden. Auch wenn es recht vergnüglich aussieht, der Hintergrund dieser Technologie ist gesellschaftlich relevant: Das Institut für Bewegungswissenschaften der ETH befasst sich seit einiger Zeit damit, die Ursachen von Sturzhäufigkeiten bei älteren Menschen zu erforschen – und wie man diese und die negativen Konsequenzen von Stürzen verhindern kann. Lange führte man Stürze auf die schwindende Muskelkraft und den abnehmenden Gleichgewichtssinn zurück. Aus früheren Studien wusste man, dass an Demenz erkrankte Menschen häufiger stürzten als gesunde Personen im selben Alter. Daraus schloss man, dass auch das Hirn, die Kognition, eine wichtige Rolle spielt. Mittlerweile weiss die Forschung, dass ein sicheres Gangbild sowohl von den motorischen als auch von den kognitiven Fähigkeiten abhängt, wobei praktisch alle Aufgaben im Alltag sowohl körperliche als auch kognitive Leistungen erfordern. In sogenannten «Dual Task Paradigmen» liess man Probanden beispielsweise Kopfrechnungen lösen, während sie sich gleichzeitig auf einem Laufband bewegten. Man stellte fest, dass vor allem ältere Menschen – aber nicht ausschliesslich – Schwierigkeiten mit der Zusatzaufgabe hatten, weil die Hirnkapazität bereits für das Laufen benötigt wurde. Wie könnte man diesen Umstand verbessern? Und würde es tatsächlich den gewünschten Effekt, nämlich das Abnehmen der Stürze, haben?
Auch ältere Menschen mögen Videospiele
Mit dieser Frage beschäftigt sich die Doktorandin, Manuela Omlin, nun seit fast zwei Jahren. Eine frühere Studie, in der das Gerät entwickelt wurde, das die Studierenden gerade testen, und das mittlerweile in manchen Alterszentren und Physiotherapien steht, hatte gezeigt, dass auch ältere Personen gerne «gamen», also Computerspiele spielen, wenn man sie gut heranführt – eine wichtige Voraussetzung dafür, sich motivieren zu können, das Training auch regelmässig durchzuführen. In einem aktuellen internationalen Projekt soll ein solches Technologie-basiertes Training für körperliche und kognitive Funktionen auch für den Gebrauch zu Hause entwickelt werden. In einer ersten Phase wurde erst einmal die «Usability» getestet, das heisst, ob man die Technologie überhaupt nutzen kann und die Leute auch bereit dazu sind. «Diese Studie fand im vergangenen Sommer statt und kam überraschend gut an bei den Teilnehmenden», erzählt Omlin begeistert. «Während sieben Wochen mussten sie dreimal wöchentlich zu uns ins Labor kommen. Obwohl es sehr intensiv war und es einige technische Hindernisse zu überwinden gab, reagierten die Probanden sehr positiv auf das Training». Ebenfalls motivierend für die Doktorandin war natürlich, dass auch bei den Trainingseffekten statistisch signifikante Werte gefunden wurden: Die Personen hatten mit Hilfe des Trainings in einem dual-task Paradigma ihre Laufgeschwindigkeit im Schnitt verbessern können und wiesen am Computer bei einer Multitasking-Aufgabe schnellere Reaktionszeiten auf.
Trainieren und Reisen
In der aktuellen Studie geht es nun darum, das neue Trainingssystem weiterzuentwickeln, welches die Personen bei sich zu Hause benutzen können. Alles, was Stürze verhindern kann, soll damit trainiert werden: Kraft, Gleichgewicht, Beweglichkeit und explizite Hirnfunktionen, wie geteilte oder selektive Aufmerksamkeit und Reaktionsgeschwindigkeit. «Wer eine Strasse überqueren will, muss entscheiden können, welche Signale wichtig sind: Was zeigt die Ampel, gibt es eine Bodenschwelle, kommt ein Radfahrer, solche Dinge», erklärt Omlin, «es sind nicht nur visuelle Informationen, die berücksichtigt werden müssen, sondern auch auditorische, das Gehirn muss gleichzeitig sehr vieles beachten und koordinieren, aber auch einiges ignorieren». Zusammen mit Physiotherapeuten, Tanz- und Tai-Chi-Lehrern hat sich die Forschungsgruppe von Prof. Dr. Eling D. De Bruin überlegt, welche Bewegungen und welche kognitiven Aufgaben besonders wichtig sind. Fähigkeiten wie das Ausblenden gewisser Reize, die Möglichkeit, sich einen Gesamtüberblick zu verschaffen oder eine Handlung zu planen, sollten gezielt trainiert werden. Für die Home-Solution haben sich die Forscher eine schöne Spielkulisse ausgedacht: «Im Alter kann man oft nicht mehr auf Reisen gehen. Im neuen Spiel können die Probanden auf einer Weltkugel wählen, in welcher Stadt sie gerne ihr Training absolvieren möchten. Man fängt beispielsweise in London an und trainiert dann in einer nachempfundenen Umgebung, mit Sehenswürdigkeiten und zusätzlichen Informationen über die Stadt. Immer wenn sie ein neues Level erreichen, können sie in einer anderen Stadt trainieren. Die Kraft wird mit Tai Chi ähnlichen Übungen trainiert, das Gleichgewicht unter anderem mit Tanzschritten». Omlin ist es jedoch wichtig zu betonen, dass solche «Exergames» nicht die einzige Möglichkeit sind, um das motorisch-kognitive Zusammenspiel zu verbessern: «Wer spazieren geht und sich dabei Wörter auf den Reklametafeln merkt oder die Nummern der Autoschilder zusammenzählt, übt im Grunde dasselbe». Wichtig sei ihr persönlich, dass die Leute gesund alt werden. «Dazu müssen sie ihren Körper und ihr Hirn gebrauchen, im besten Fall gleichzeitig», sagt sie, «weil wir schliesslich auch im Alltag immer unser Körper und unser Gehirn zusammen brauchen». Denn viele Veränderungen, wie die Abnahme der Muskelmasse, seien nicht in erster Linie auf das Altern zurückzuführen, sondern auf deren fehlenden Gebrauch.
Im März beginnt nun die nächste Phase der Studie: Wieder wird die Nutzbarkeit der Technologie getestet und gemessen, ob sich wieder Trainingseffekte zeigen. Während der ersten drei Wochen findet das Training im Labor statt, anschliessend trainieren die Teilnehmenden fünf Wochen bei sich zu Hause. Sofern das System anwendbar ist, folgt im Sommer die gross angelegte Hauptstudie, die sich dann ausschliesslich den Trainingseffekten widmet. Dabei soll das neuartige Training nicht nur die körperlichen und kognitiven Funktionen der Trainierenden verbessern, sondern sich auch positiv auf ihre Hirnstruktur auswirken.
Seniorinnen und Senioren gesucht
Das Institut für Bewegungswissenschaften der ETH Zürich sucht Personen ab 65 Jahren, die selbständig stehen können und bei einer Studie teilnehmen wollen, die eine Videospiel-basiertes Trainingsprogramm testet. Weitere Informationen gibt Manuela Omlin, Doktorandin ETH, unter 044 632 42 35 oder über momlin@ethz.ch.
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