Selbstbestimmung fördern

Statt auf Verordnungen setzt das Wohnzentrum Frankental auf Vereinbarungen, die sie mit den Betroffenen selber entwickelt hat und damit gute Erfahrungen macht.

Im Wohnzentrum Frankental finden viele Feste statt, zu einigen davon ist auch die Öffentlichkeit eingeladen.
Im Wohnzentrum Frankental finden viele Feste statt, zu einigen davon ist auch die Öffentlichkeit eingeladen.
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Frankental leben Frauen und Männer mit kognitiven Beeinträchtigungen und Menschen mit neurologischen Erkrankungen oder Hirnverletzungen. Zurzeit sind es 41 Bewohner*innen, die sich auf sieben unterschiedlich grosse Wohngruppen verteilen. Dazu kommen vier bis fünf Personen, die tageweise ins Frankental kommen und abends jeweils wieder nach Hause gehen. «Ab 18 Jahren kann man bei uns eintreten», erklärt Ueli Zolliker, Leiter des Wohnzentrums. Danach geniesst man lebenslanges Wohnrecht, vorausgesetzt man wird gegenüber den anderen Bewohner*innen und Angestellten nicht gewalttätig, denn da herrscht Nulltoleranz. «Aber auch bei sehr starker Alkohol- oder Drogenabhängigkeit sind wir nicht der richtige Ort», meint Zolliker. Bislang musste erst einmal ein Mitbewohner in eine psychiatrische Klinik umplatziert werden. «Wir stellen niemanden einfach auf die Strasse, sondern versuchen eine passende Lösung zu finden».

Immer mehr Hirnverletzte

Unter welchen Umständen ziehen die Betroffenen in eine Institution wie das Wohnzentrum? Kognitiv beeinträchtigte Menschen leben oft sehr lange bei den Eltern. Die Familien versuchen, die Betreuung so lange wie möglich selber oder mit punktueller Unterstützung zum Beispiel der Spitex zu bewältigen. «Wenn die Eltern langsam selber pflegebedürftig werden oder die Belastung zu hoch wird, denken sie über Alternativen nach und das ist dann meistens der Moment, in dem wir eine Anfrage erhalten», erzählt Zolliker. «Das kann auch im Rahmen eines Tagesaufenthalts sein, zwei drei Tage in der Woche, einfach um die Familie zu entlasten». Anders ist es bei den Hirnverletzten. Manche kommen aus der Neurorehabilitation, wie in Bellikon oder Zurzach, wenn festgestellt wird, dass die Ressourcen ausgeschöpft sind. Diese Menschen standen zuvor mitten im Leben, hatten einen Beruf, Partner*innen und Kinder und wurden durch einen Unfall oder eine Krankheit aus ihrem sozialen Umfeld gerissen. «Für diese Menschen ist es besonders schwierig, ihre neue Situation zu akzeptieren», sagt Valeska Graul, Leiterin Betreuung und Stellvertreterin von Ueli Zolliker. Sie befänden sich in einem Zustand zwischen Hoffnung und Resignation, und durchlebten alle möglichen Krisen von Wut, Auflehnung, Trauer bis zum Aufgeben. Das bedeute für alle Beteiligten eine grosse emotionale Belastung. Manchmal verändere sich durch eine Hirnverletzung auch die Persönlichkeit, die Angehörigen erkennen den Menschen fast nicht wieder, das seien dann sehr schwierige Situationen. Während es zu Gründungszeiten des Wohnzentrums vor 35 Jahren in erster Linie Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen waren, die ins Frankental zogen, nimmt die Zahl der Menschen mit Hirnverletzungen seit 2009 stetig zu, so dass diese heute den grössten Teil der Bewohner*innen stellen. Als Endstation sieht die ausgebildete Pflegefachfrau und Sozialarbeiterin das Frankental jedoch nicht: «Wenn jemand wirklich alles daransetzt, selbstständig zu wohnen und auch körperlich und psychisch dazu in der Lage ist, trainieren wir mit ihm die alltäglichen Dinge, wie die Nutzung des öV oder auch selbstständig einzukaufen». Gerade gibt es einen Bewohner, der nach zwei Jahren in seine Wohnung zurückziehen kann. «Er hat gute Ressourcen, seine Tochter unterstützt ihn in administrativen Belangen, die Wohnung ist rollstuhlgängig und mit Hilfe einer Assistenz wird er seinen Alltag bewältigen können». Ehrlicherweise müsse man aber sagen, dass dies eher die Ausnahme sei, denn es brauche – abgesehen von den körperlichen und psychischen Ressourcen – schon sehr viel Engagement und Motivation der betroffenen Person. In den letzten zehn Jahren waren es drei Personen, die den Schritt ins selbstständige Wohnen geschafft haben.

Unsichtbare Behinderung

Manche neurologischen Verletzungen sind nicht auf den ersten Blick erkennbar. Sie zeigen sich aber in einem schlechten Erinnerungsvermögen, Konzentrations- und Informationsverarbeitungsstörungen oder starker Müdigkeit, meist einhergehend mit einer tiefen Frustrationstoleranz. «Oft klagen Hirnverletzte darüber, dass diese <unsichtbaren Behinderungen> für sie subjektiv schlimmer seien, weil sie von der Umwelt oft falsch eingeschätzt würden». Wenn jemand im Rollstuhl sitze, könnten die Mitmenschen das besser einordnen, als wenn jemand im Gespräch plötzlich aufbrausend oder ungeduldig würde. Das führe dazu, dass sich diese Menschen in der Öffentlichkeit oft abgelehnt fühlten. «Ein grosser Teil unserer Arbeit ist deshalb auch die Reflexion: Wir spiegeln ihnen im Alltag, wenn sie sich verletzend verhalten und versuchen sie daran zu erinnern, dass es in der Gesellschaft gewisse Abmachungen gibt, wie man miteinander umgeht», erklärt Graul. Es ist kein schneller Prozess, aber nach ein, zwei Jahren können die meisten von sich aus formulieren, dass sie etwas nicht so beabsichtigt haben, wenn es aus ihnen herausbricht. Noch etwas später können sie das vielleicht sogar kontrollieren und stattdessen etwas anderes oder gar nichts sagen. So schützen sie sich selber vor Ablehnung.

Selbstbestimmung vor Fremdbestimmung

Im Frankental werden verschiedene Aktivitäten angeboten, es gibt gemeinsame Kinoabende, Disco, zahlreiche Feste, die auch der Öffentlichkeit zugänglich sind. Die Bewohner*innen haben Anrecht auf eine Woche Ferien mit Eins-zu-eins-Betreuung, man erledigt gemeinsam den Einkauf und besucht Veranstaltungen. Inklusion wird angestrebt, man will der einzelnen Person gerecht werden. Dies bedeutet einen grossen Aufwand, finanziell und personell, doch Zolliker ist von diesem Weg überzeugt. Das Selbstbestimmungsrecht hat das Credo der Institution, den Bewohner*innen auf Augenhöhe zu begegnen, noch bestärkt. Anstatt einfach Regeln aufzustellen, treffe man zusammen mit der betroffenen Person Vereinbarungen. «Wir setzen keine theoretischen, sozialpädagogischen Ziele, sondern versuchen herauszufinden, welche Bestrebungen die Menschen selber haben». Diese Strategie funktioniere sehr gut. Ein Bewohner sei beispielsweise regelmässig betrunken von seinem Ausflug zurück gekommen und habe mit seinem Rollstuhl eine Türe beschädigt, beim Versuch ins Haus zu gelangen. «Wir wollen ihm nicht verbieten, auszugehen und verstehen auch, dass er etwas trinken möchte», so Zolliker, «gleichzeitig ist es nicht ungefährlich, betrunken Rollstuhl zu fahren». Also habe man gemeinsam abgemacht, dass er ein Gerät bei sich trage, mit dem er den Alkoholgehalt in seinem Blut messen könne. Ab einem gewissen Wert fahre er nicht mehr selber nach Hause, sondern rufe im Heim an, damit man ihn abholt. «Seit er diese Vereinbarung unterzeichnet hat, ist es nie mehr zu einem Zwischenfall gekommen». Früher habe man «zum Schutz» der Bewohner*innen diese fremdbestimmt, ihnen Dinge verboten oder sie anderweitig ohne Zustimmung eingeschränkt. Heute setze man im Wohnzentrum alles daran, die Mitarbeiter*innen für diese Thematik zu sensibilisieren. Es gibt umfassende betriebliche Schulungen zu verschiedenen Themen wie Sexualität und Behinderung, Nähe/Distanz und Respekt, aber auch externe Weiterbildungsangebote und Supervisionen. In der Betreuung sind es 49,9 Stellen, verteilt auf ungefähr 70 Personen, dazu kommen nochmals über 30 Personen im technischen Dienst, Küche, Administration und Aktivierung. «In Situationen, wo die Selbstbestimmtheit der einen Person andere Menschen einschränkt, müssen wir allerdings trotzdem eingreifen», meint Graul. Das kann der Fall sein, wenn jemand früh morgens laut Musik hören will, beim Essen andere grob stört oder sein Zimmer komplett zustellt. «Da gelten bei uns gesellschaftliche Gepflogenheiten und Hausregeln wie überall sonst auch».

Gespannt darauf, was die Zukunft bringt

Zurzeit findet das Pilotprojekt in Bern zum Thema Subjektfinanzierung starke Beachtung (Siehe Artikel Lebensformen). Für Institutionen bedeutet das, dass sie ihre Dienstleistungen besser vermarkten müssen, da die betroffenen Personen diese einzeln einkaufen. Die Subjektfinanzierung findet Zolliker grundsätzlich einen guten Ansatz: «Konkurrenz kann gute Entwicklungen mit sich bringen». Das Wohnzentrum Frankental geniesst einen guten Ruf und könnte sich wohl auch im Wettbewerb behaupten. Die neue Situation würde aber auch bedeuten, dass mehr Zeit und Geld in Werbung und Administration investiert werden müsste. Aus einem marktwirtschaftlichen Gedanken heraus müssten wohl auch die Austritte beschleunigt und die Aufenthalte zeitlich beschränkt werden. Ab 65 Jahren zahlt die IV nicht mehr, dann müsste man die Bewohner*innen in ein Alters- und Pflegeheim geben. Zolliker ist skeptisch, ob dies zielführend ist. Die Inklusionsvision findet er erstrebenswert, sofern immer das Individuum betrachtet werde. «Wenn sich jemand unter seinesgleichen und in einer Institution wie der unseren wohler fühlt, gilt es, das auch zu respektieren».

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