Schuss aus dem Hinterhalt

Er gilt als einer der rätselhaftesten Zürcher Kriminalfälle: Der tödliche Schuss auf einen Autofahrer im Bucheggplatz-Kreisel vor über 23 Jahren.

Von hier aus, wo die Tièchestrasse in den Bucheggplatz mündet, hat der unbekannte Täter auf den Autofahrer geschossen.
Die Skizze vom Tatort, wie sie damals im «Blick» erschien.
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Am Abend des 15.November 1996 kurz nach 21 Uhr fährt ein 34-jähriger Autofahrer mit seinem blauen Chrysler Neon von der Tièchestrasse in Wipkingen zum Bucheggplatz. Als er im Kreisel in die Hofwiesenstrasse stadteinwärts abbiegen will, fällt ein Schuss. Die Kugel durchschlägt Heckscheibe und Nackenstütze des Wagens und trifft den Lenker in den Hinterkopf. Der junge Mann sackt zusammen, sein Wagen prallt führerlos in einen Kandelaber. Sofort bringt die Ambulanz den Schwerverletzten ins Spital, wo er am nächsten Tag seinen schweren Hirnverletzungen erliegt.

Beim Opfer handelte es sich um einen Informatiker. Der Mann lebte zusammen mit seiner Freundin in Hottingen. Der Schweizer arbeitete bei einer Grossbank und befand sich auf dem Heimweg. Er fuhr mit seinem Wagen von Neuaffoltern kommend durch die Emil-Klöti- und die Tièchestrasse Richtung Bucheggplatz.

Die Spurensicherung ergab, dass der Täter aus der Tièchestrasse bei der Einmündung in den Verkehrskreisel geschossen haben muss. Als Tatwaffe wurde eine Faustfeuerwaffe vermutet, sie wurde nie gefunden. Der Schuss wurde etwa auf Achselhöhe einer stehenden Person abgegeben. Die Polizei konnte ausschliessen, dass aus einem der angrenzenden Häuser geschossen wurde.

Obwohl die Polizei einen Zeugenaufruf machte, Dutzende von Wohnungen in der Umgebung aufsuchte und Flugblätter rund um den Bucheggplatz verteilte, erhielt sie keinen entscheidenden Tipp. Niemand hatte den Schützen oder eine verdächtige Person gesehen. Der Lenker, der dicht hinter dem Opfer auf der Tièchestrasse gefahren war und sich später als Zeuge meldete, hatte nichts Auffälliges bemerkt. Auf die Frage, ob jemand beobachtet hatte, dass aus einem anderen Fahrzeug auf den Chrysler geschossen wurde oder ob der Wagen schon zuvor bedrängt oder bedroht worden sei, erhielt die Polizei keine Antwort. Lediglich eine Person in der Nachbarschaft will zwei laute Knallgeräusche gehört haben, ob es sich dabei aber um den tödlichen Schuss handelte, ist ungewiss.

Auch die hohe Belohnung führte zu keiner heissen Spur. Insgesamt wurden für die Aufklärung des Falles 40 000 Franken ausgesetzt. Neben der offiziellen Belohnung von 5 000 Franken hatten die Eltern des Opfers 30 000 Franken und der Arbeitgeber 5 000 Franken in Aussicht gestellt.

Der Mord am Bucheggplatz ist einer der mysteriösesten Fälle der jüngeren Schweizer Kriminalgeschichte – wenn es denn ein Mord gewesen ist. Denn dass ein Schütze mit einem Revolver oder einer Pistole aus dieser Distanz und von hinten durch die Heckscheibe und Nackenstütze gezielt jemanden erschiessen kann, ist laut Experten fast nicht möglich. Der Täter hätte ein «Superschütze» sein müssen, sagte damals der Sachbearbeiter der Polizei zu den Medien.

Warten auf «Kommissar Zufall»?

Auch die Abklärungen im Umfeld des Opfers brachten nichts Verdächtiges zutage. Weder im privaten noch im beruflichen Umfeld des Mannes fanden die Ermittler Hinweise auf ein absichtliches Tötungsdelikt. Das Opfer hatte sich weder in dubiosen Kreisen aufgehalten, noch gab es Hinweise auf kriminelle Geschäfte wie Geldwäscherei oder Drogenhandel. Der Ort, der stark befahrene Bucheggplatz, sprach ebenfalls nicht für eine gezielte Tat. Deshalb tauchte die Vermutung auf, dass es ein Zufallsschuss gewesen sein könnte. Hatte ein Heckenschütze wahllos auf ein Auto geschossen oder hatte ein Unbekannter aus Übermut eine Kugel abgefeuert?

2005 überprüfte die Polizei nach einem Hinweis eine Person – das Resultat war negativ. Die Person wurde nach der Befragung wieder entlassen. Zwei Jahre später geriet der Mord wieder in die Schlagzeilen, nachdem ein Unbekannter ein 16-jähriges Mädchen an der Bushaltestelle Hönggerberg erschossen hatte. Die Medien spekulierten, es könnte sich um den gleichen Heckenschützen gehandelt haben. Doch Fehlalarm. Einige Tage später konnte die Polizei den Schützen vom Hönggerberg verhaften. Es war ein 21-jähriger Rekrut, der mit seinem Sturmgewehr die junge Frau erschossen hatte.

Auch heute, über 23 Jahre nach der Tat, gibt es keinen Hinweis auf ein Motiv. Vermutlich kann nur noch «Kommissar Zufall» das Verbrechen lösen. Der Fall gilt als sogenannter «cold case», als ungelöster Kriminalfall. Er wird als Mordfall behandelt, der Täter hatte besonders skrupellos und kaltblütig gehandelt. Weil alle Möglichkeiten bei der Fahndung ausgeschöpft wurden, landete der Fall im Fahndungsarchiv, das heisst die Polizei ermittelt nicht mehr aktiv.

Verjährung in 30 Jahren

Dass das Tötungsdelikt als Mordfall behandelt wird, ist wichtig wegen der Verjährungsfrist. Mord, der mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe geahndet wird, verjährt erst nach 30 Jahren. Bei vorsätzlicher Tötung dagegen beträgt die Verjährungsfrist 15 Jahre, was beim tödlichen Schuss am Bucheggplatz bereits am 15. November 2011 der Fall gewesen wäre.

Dass ein Mordfall überhaupt verjährt, sorgt immer wieder für Diskussionen. Im Ständerat wurde momentan über eine Standesinitiative aus dem Kanton St. Gallen entschieden, mit der die Verjährungsfrist für Kapitalverbrechen wie Mord aufgehoben werden soll. Der Rat lehnte die Initiative jedoch knapp mit 20 zu 18 Stimmen ab – die Fronten verliefen quer durch die Parteien. Jetzt geht die Vorlage an den Nationalrat. Initiiert hat den Vorstoss der damalige St.Galler SVP-Kantonsrat Mike Egger, der für seine Partei seit März 2019 im Nationalrat sitzt. Für ihn ist unverständlich, dass es selbst bei schwersten Verbrechen ein «Recht auf Vergebung und Vergessen» geben soll.

Die neue Serie «Tatort Kreis 10» befasst sich mit Verbrechen oder Unfällen, die sich in Wipkingen und Höngg ereignet haben. Die Redaktion ist offen für Hinweise auf weitere Fälle im Kreis 10 aus der Bevölkerung auf redaktion@hoengger.ch

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