Rütihof: vom bäuerlichen Weiler zum Wohnquartier

Im letzten halben Jahrhundert hat sich der Rütihof auf eine Art und Weise entwickelt, die für den – weder verarbeiteten noch abgeschlossenen – Wandel der Schweiz von einer agrarischen zu einer urbanen Gesellschaft steht. Die vierteilige Artikelserie hat zum Ziel, Vergangenheit und Gegenwart des Höngger Stadtrandquartiers auf dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen des Schreibenden zu beleuchten.

Höngg am 26. April 1946: Gut erkennbar die breite Regensdorferstrasse, die zum Bildhintergrund führt – wo der Rütihof als weitgehend unbebautes Land zu erkennen ist.
An der Hurdäckerstrasse im Kern des Rütihofs, fotografiert 1975: Das heute noch stehende markante Haus aus rotem Ackerstein, links die Scheune, die zur heutigen Quartierschüür umgebaut wurde.  
Der Rütihof wie er sich 1970 aus der Luft präsentierte: Am unteren Bildrand die im Bau befindende Jugendsied­lung Heizenholz. Links oben das Freibad «zwischen den Hölzern», kurz «Hölzli» genannt. Die Frankentalerstras­se in ihrer heutigen Grösse existiert noch nicht. Der Rütihof ist noch ein bäuerlich geprägter Weiler.  
Autor Markus Eisenring heute an derselben Stelle.  
1/4

Die Geschichte des Rütihofs reicht von der alemannischen Landnahme (500 bis 700) bis zur gegenwärtigen «Satellitenstadt». Seit dem 16. Jahrhundert haben – mit wenigen Ausnahmen – dieselben Familien den ruhigen Flecken nordwestlich von Höngg bewohnt und bewirtschaftet. So taucht der im Rütihof wohlbekannte Name Geering 1586 erstmals in den Annalen auf. Bis in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts umfasste der Kernweiler gerade mal 14 Wohnhäuser mit den entsprechenden Scheunen und Ställen. Die Einwohnerzahl bewegte sich über lange Zeit um die 80 herum. Landwirtschaft dominierte. Aus dem Jahr 1921 etwa sind folgende Zahlen für den Rütihof bekannt: 5 Landwirtschaftsbetriebe, 4 Pferde, 59 Stück Rindvieh, 13 Schweine, 17 Ziegen und 109 Hühner. Das ist der Broschüre von Georg Sibler «Der Rütihof bei Höngg» zu entnehmen (siehe Infobox).
Seither ist, was die Menschen betrifft, einiges dazugekommen. Aktuell vermeldet der Quartierverein Höngg auf seiner Website gegen 4000 Einwohner im Rütihof. Ein letzter Bauernhof, ursprünglich 1780 erbaut, 1995 durch ein modernes Holzhaus ergänzt, wird von der Familie Fredi Meier im Hurdäcker betrieben. Von den Nachkommen der Ursprungsfamilien wohnen einige weiterhin in «ihrem» Rütihof. Sie bilden mittlerweile eine kleine Minderheit; es handelt sich noch um etwa 25 Personen. Baulandreserven sind wenige übrig geblieben. Um die Überbauung der letzten grösseren Brache wird bekanntlich seit längerem gekämpft – mit offenem Ausgang. Möglicherweise hat ja der anhaltende Widerstand gegen das Projekt Ringling mit den von Rudolf Grossmann 1942 in seinen «Erinnerungen aus dem alten Höngg» wie folgt beschriebenen Eigenschaften der Rütihöfler zu tun, Zitat: «Was damals im Rütihof wohnte und aufwuchs, war eine besonders naturhafte, knorrige Rasse, von hagebüchener Kraft und landsknechtartiger Art im Gehabe und in der Sprache.»  

Nachdem sich die Lebensweise im Rütihof mehrere Jahrhunderte lang in denselben Gleisen bewegt hatte, brach die Moderne umso wuchtiger über dessen Bewohner herein und veränderte ihr Dasein und das äussere Bild des Rütihofs in kurzer Zeit markant. Wie eingangs bereits erwähnt, bildet sich bei dem in der Nachbarschaft erfolgten Entwicklungssprung der nach wie vor existierende helvetische Graben zwischen Stadt und Land ab, der vielmehr ein Konflikt zwischen Tradition und Moderne ist. Vor wenigen Jahren war der Berichterstatter Zeuge eines dafür symbolhaften Ereignisses: Es geschah anlässlich eines sonntäglichen Festumzuges im Rütihof, bei dem, soweit die Erinnerungen stimmen, der Kaninchen- und Geflügelzüchterverein federführend war. Im Umzug liefen Rinder mit, die zu den neuen Wohnblöcken geradezu anachronistisch wirkten. Plötzlich büxte ein junger Stier aus, erschreckte die Zuschauer, darunter viele Kleinkinder. Nur mit Mühe könnte er eingefangen und beruhigt werden. Da prallten in der Tat unterschiedliche Realitäten aufeinander! Die mit dem Quartierplan Rütihof 1979 durch den Gemeinderat beschlossene Umzonung von Landwirtschaftsland gab das Gebiet zwischen dem alten Weiler und der Regensdorferstrasse für die Überbauung frei. Eine erste Ahnung auf den bevorstehenden Wandel hatten die beiden modernen Neubauten am Ostrand des Rütihofs ausgelöst: 1968 die Schreinerei Berchtold, 1972 die Jugendsiedlung Heizenholz. Seit 1973 durchschneidet die von Anfang an überdimensionierte «Umfahrung» Frankentalerstrasse das damals noch offene Land. Von einer eigentlichen Raum- oder Bauplanung kann nach 1979 nicht die Rede sein. Die Besitzverhältnisse im Rütihof zeichnen sich, seit der Rütihof bewohnt wird, durch komplizierte Erbteilungen wie auch durch Versuche aus, Kleinparzellen über Güterzusammenlegungen wieder zu grösseren Einheiten zusammenzufügen. Der heute fast vollständig überbaute Rütihof ist denn auch in erster Linie Abbild des Willens der einzelnen Bauherren und nicht etwa einer gemeinsamen Gestaltungs-Vision.

Markus Eisenring leitete von 1988 bis 2003 die Jugendsiedlung Heizenholz, heute Wohn- und Tageszentrum Heizenholz. Mit seiner Familie wohnte er bis 1998 dort am Rande des Rütihofs, seither an der Bläsistrasse in Höngg. Heute übt er, in Pension, verschiedene Freiwilligentätigkeiten aus, sei es als Tixi­fahrer oder als Hobby-Journalist. Die Entwicklung des Rütihofs hat ihn stets interessiert und fasziniert.

Quellen: Diverse «Mitteilungen der Ortsgeschichtlichen Kommission des Verschönerungsvereins Höngg», speziell «Der Rütihof bei Höngg» von Georg Sibler. Erhältlich im Ortsmuseum Höngg, Vogtsrain 2.