Rütihof – Erinnerungen an einen Bauernweiler

Nur die Hurdäckerstrasse zeugte bis vor Kurzem noch davon, wie es im Rütihof bis Ende der 70er Jahre ausgesehen hat. Doch noch gibt es viele Zeitzeug*innen, die im idyllischen Bauernweiler aufgewachsen sind.

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Ernst Geering in Kanada bei einer seiner Lieblingsbeschäftigungen .
Erika Giger in ihrem Wintergarten Im oberen Boden.
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Da ist zum Beispiel Ernst Geering. Ein «Ur-Rütihöfler» par excellence: Seine Vorfahren kauften 1586 den Birchrütihof und damit zwei Drittel des Landes im Rütihof. Das dritte Drittel verteilte sich auf mehrere auswärtige Besitzer. Ernst kam 1937 als mittleres von fünf Kindern von August und Emma, geborene Rohner, zur Welt. Der Vater führte, ebenso wie sein Cousin Heinrich, einen Bauernhof im Rütihof. Beim Abendessen sassen jeweils zehn Personen am Tisch: Neben der Familie lebten noch zwei Knechte und eine Magd auf dem Hof. Es war selbstverständlich, dass die Kinder auf dem Hof mitarbeiteten. «Wenn wir im Sommer einmal in der Woche einen halben Tag in die Badi durften, waren wir glücklich», erzählt Geering. Es gab immer viel zu tun. Zum Beispiel das Garbenbinden während der Getreideernte. Nach einer festen Hierarchie hatte jedes Kind seine Aufgabe: Das zweitjüngste musste das Garbenbändchen, mit dem das Stroh zusammengebunden wurde, schön hinlegen. Das nächstältere legte fünf Häufchen Stroh darauf, und dann kam das nächste, das das Garbenbändchen zusammenband. Hier kam das allerjüngste Kind ins Spiel, das dem Ältesten das Ende des Bändchens mit dem «Tözli» hochhalten musste. Geering, der unlängst seinen 82. Geburtstag feierte, erinnert sich noch lebhaft daran. Neben Ackerbau betrieben die Eltern auch Viehhaltung, bauten Obst und Beeren an. «Die Himbeerenlese war schlimm für mich, meine Mutter schimpfte stets, weil ich nicht alle Beeren erwischte», lacht Geering. Erst in der Oberstufe stellte sich heraus, dass er an einer speziellen Farbblindheit leidet und manche Beeren deshalb gar nicht richtig sehen konnte. Zur Schule beim Wettingertobel liefen die Kinder zu Fuss, von Frühling bis Herbst sogar barfuss. «Es war nicht so, dass wir uns keine Schuhe hätten leisten können, aber es war einfach praktischer so», meint Geering rückblickend. Auch auf den Feldern wurde barfuss gearbeitet, «wir wussten, wie wir die Füsse aufsetzen mussten um uns nicht zu verletzen». Manchmal brannten die Risse dennoch ein bisschen, vor allem im Stall. «Kuhmist kann da Wunder bewirken», schmunzelt Geering.

Bob statt Kühe

Im Alter von 19 bis 21 absolvierte Geering die Landwirtschaftsschule im Strickhof, eine intensive Ausbildung mit 30 Fächern, daneben arbeitete er im eigenen Betrieb. Ein eigenwilliger Typ war der Ernst schon immer: Als er mit 38 Jahren das Bobfahren entdeckte – ein Alter, indem die meisten damit wieder aufhören – gab er den Viehbetrieb auf, da er keine Zeit mehr für das Melken hatte, wenn er in Sankt Moritz trainieren musste. Seine ungewöhnliche Entscheidung brachte ihm eine Schlagzeile im «Blick» ein, im Sinne von «Angefressener Bauer verkauft Kühe, um Bob zu fahren». «Meine Mutter war nicht sehr amüsiert darüber», lacht Geering und der Schalk funkelt in seinen Augen. Er führte also seinen Betrieb ohne Tiere weiter und gewann dafür zweimal den «Grand Prix von St. Moritz». Mit 53 Jahren war dann Schluss. «Ich würde heute noch fahren, aber mein Herz spielt da leider nicht mehr mit», bedauert er. Es ist ein ereignisreiches Leben, das Ernst Geering gelebt hat und immer noch lebt. Anfangs der 80er Jahre baute er am Oberen Boden eine Siedlung, in der er heute selber eine Wohnung bezogen hat. 1987 übernahm er das Restaurant Grünwald, das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gut lief. «Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen, wie ich in Chur – wir waren am Schützenfest – am Kiosk die Zeitung kaufte und unter einem Strauch lass, dass der Gemeinderat am Vortag beschlossen hatte, mir den Baurechtsvertrag für das Restaurant zu geben», strahlt der ehemalige Wirt, der eigentlich gar nie einer sein wollte. Doch mit dem Geschäftsführer, den er erst eingestellt hatte, lief es nicht gut, da musste er halt selber in die Bresche springen. Etwas, das ihm ehrlicherweise sowieso am besten liegt, denn «am liebsten erledige ich die Dinge selber». Das Restaurant, der Landwirtschaftsbetrieb und die Verwaltung der Häuser wurden ihm dann jedoch zu viel, und er gab die Verwaltung ab. Mit 65 übergab er schliesslich sein Landwirtschaftsland an einen jüngeren Landwirt aus Watt und widmete sich ganz dem Restaurant, bis er 2008 nach 20 Jahren in Spätrente ging. Inzwischen hat er eine andere Beschäftigung gefunden: Seit 1999 reist er regelmässig für ein paar Monate nach Kanada, wo er in seinem Haus Gäste empfängt, Freunde besucht und Fischen geht, oder «einfach lebt», wie er es nennt. Es ist ein privilegiertes Leben, das weiss auch Geering. Das war nicht immer so: «Unser Vater hat die Begleichung gewisser Rechnungen jahrelang hinausgeschoben, um uns Kindern die Ausbildungen zu finanzieren», sagt er. «Das Glück der Bauern am Stadtrand war das Land, das sie verkaufen konnten, und das auch ihm den Wohlstand gebracht habe», meint er. Mit dem Quartier ist er noch immer eng verbunden, er war unter anderem in den 70er Jahren an der Entwicklung und Durchsetzung des Quartierplans Rütihof beteiligt. Doch dazu mehr im kommenden «Höngger».

«Ich habe sehr glückliche Erinnerungen an meine Kindheit»

Erika Giger kennt Ernst Geering noch aus der Kindheit, sie spielten zusammen mit anderen Kinder des Rütihofs im Heustock von Vater August Verstecken. Die Eltern kauften in den 30er Jahren gemeinsam mit zwei Arbeitskollegen des Vaters Im oberen Boden ein Stück Land und errichteten 1937 drei Einfamilienhäuser darauf. Heute steht ihr Elternhaus als einziges noch zwischen zwei Mehrfamilienhäuser. «Damals verstanden die Leute nicht, wieso meine Eltern aufs Land ziehen wollten, der Rütihof war völlig abgelegen», erzählt Giger. Wenn man heute aus dem Wohnzimmerfenster Richtung Höngg blickt, erinnert nichts mehr an die Felder und Obstbäume ihrer Kindheit, man blickt über ein Dächermeer auf die Stadt. Doch hinter dem Haus liegt der Wald, in dem sie zusammen mit ihrer Schwester und zwei Nachbarsmädchen regelmässig auf Entdeckungsreise ging. Wenn sie zurückblickt, zeichnet sie ein idyllisches Bild dieser Zeit. Sie musste zu Fuss ins Bläsi Schulhaus und über Mittag wieder nachhause, «wir hatten zwei Stunden Zeit, eine davon benötigten wir für den Schulweg». Einen Bus gab es noch nicht. Einmal in der Woche durften sie bei Bekannten am Meierhofplatz essen. Manchmal sammelten die Mädchen auf dem Schulweg unter den Obstbäumen die heruntergefallenen Früchte und verzehrten sie unterwegs. Wenn sie im Zentrum beim Bäcker Zaugg Brot kaufen mussten und der Hunger auf dem Heimweg zu gross wurde, war der Laib manchmal schon ein bisschen angeknabbert, bis sie schliesslich zuhause ankamen. Eine unheimliche Stelle auf dem Nachhauseweg war die Tannenreihe an der Giblenstrasse, erinnert sich Giger, «wir hatten im Dunkeln immer Angst, dass sich ein böser Mann dahinter verstecken könnte». Wenn sie alleine unterwegs war, rannte sie so schnell sie konnte daran vorbei. Obwohl es die Nachkriegszeit war – es gab Rationsmarken, die man in Höngg einlösen musste – sind es sehr glückliche Erinnerungen. Die Eltern pflegten einen grossen Freundeskreis, es gab Musikabende und auch mit den Kindern im Rütihof und in Höngg verstand man sich gut. Im Garten wuchs fast alles, was sie zum Leben brauchten, Eier und Obst holte man bei den Bauern im Rütihof. Obwohl die Familie sparsam lebte, konnte sie sich in den Bergen leisten – die Eltern waren beide sehr sportlich und schwärmten schon früh für Skitouren. «Aus Spargründen mussten wir dann jedoch mit angeschnallten Fellen neben dem Skilift hochsteigen!» Lebhaft in Erinnerung sind ihr auch die Winter im Rütihof, «wir bauten Schneehütten, die lange Zeit Bestand hatten, und steile Zufahrtssträsschen zum oberen Boden war unser Schlittelweg». Wahrscheinlich war es die naturverbundene Kindheit, die ihren Berufswunsch prägte: Als junge Frau liess sie sich zur Laborantin im Bereich Pflanzenpathologie ausbilden, danach wechselte sie zur Insektenkunde an die ETH. Über einen Professor, der sie vermittelte, konnte sie für eineinhalb Jahre nach Paris um dort am Entomologischen Institut zu forschen. «Ich wohnte am Boulevard Saint-Michel in einem Dachzimmer, das war eine tolle Zeit», strahlt sie noch heute. Zurück in Zürich arbeitete sie am Institut für Biochemie an der Universität Zürich als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Als sie 24 Jahre alt war, nahm ihr Vorgesetzter sie als Assistentin mit nach Chicago, wo er für ein Jahr an die Medical School berufen worden war. Auch diese Erfahrung ist für sie unbezahlbar. «Ich hatte viel Glück», meint sie rückblickend, doch wenn man der mittlerweile 80jährigen Frau zuhört, ist klar, dass sie auch sehr hart dafür gearbeitet hat. Später heiratete sie und zog nach Gockhausen. Die Arbeit ihres Mannes führte sie zweimal in die USA, erst auf Cape Cod, Boston, dann an die renommierte Universität Stanford, Kalifornien. Als Erika Gigers Eltern ins Alters- und Pflegeheim Riedhof zogen, kehrte die Familie, mittlerweile mit Sohn und Tochter, in den Rütihof zurück. Alles hatte sich verändert, «es dauerte eine Weile, bis ich das neue Ortsbild einigermassen akzeptieren konnte», sagt sie. «Architektonisch ist es wirklich nichts Besonderes, aber wir mussten uns daran gewöhnen.»

Die Zeit der Bauernidylle ist vorbei

Dass Beat Kämpfen ausgerechnet Architekt wurde, ist kein Zufall, davon ist der Rütihöfler überzeugt. Als nämlich seine Eltern am 1. Dezember 1954 im Rütihof ihr neues Zuhause bezogen, war seine Mutter hochschwanger. Die Arbeiten im Haus im Landhausstil waren zu diesem Zeitpunkt trotz anderslautender Versprechungen des Architekten noch nicht abgeschlossen. So kam Beat Kämpfen am 8. Dezember – einen Monat zu früh – quasi auf einer Baustelle zur Welt. «Das hat mich nachhaltig geprägt», meint Kämpfen mit einem Augenzwinkern.
In seiner Kindheit gab es im Rütihof fünf intakte Bauernhöfe: Da war der Guschti-Geering, der Geering von der Kreuzung, Stutz, Meier und Hubacher. Es gab eine Wäscherei, die gleichzeitig als Schlachthaus diente. Wenn der Störmetzger da war, konnte man die ausgeweideten Rinder von der Decke hängen sehen, ein Anblick, der dem jungen Kämpfen immer etwas Angst machte. Wenn er zurückblickt, scheint es ihm so, als habe er seine Kindheit laufend verbracht: «Zum Kindergarten im Lachenzelg waren es 2,2 Kilometer, die legte ich mit meinem Freund Peter zusammen zu Fuss zurück. Soweit ich mich erinnern kann, war ich immer zu spät, denn wenn ich ankam, waren die anderen Kinder bereits am Spielen», lacht Kämpfen. Später konnten sie für die Reise zum Schulhaus Bläsi den Bus von der Endhaltestelle Heizenholz nehmen. Als das Schulhaus Riedhof gebaut war, stiegen Peter und er auf das Fahrrad und brausten hinunter, obwohl das eigentlich verboten war – erst ab zwei Kilometern war es den Kindern erlaubt mit dem Velo zu kommen. «Wir haben unsere Fahrräder dann einfach im Gebüsch versteckt und sind die letzte Strecke bis zum Schulhaus gelaufen.» Als er in der Stadt ins Gymnasium kam, habe man an seinen verdreckten Schuhen erkennen können, dass er ein Landkind war, weil er die Abkürzung über den Acker zur Bushaltestelle genommen hatte, erzählt er. Auch Kämpfen hat den Bauernweiler in guter Erinnerung, hält die Romantik aber für übertrieben, denn selbst Höngg war zu dieser Zeit noch ein Dorf.
Kurz vor dem Beginn des Baubooms zog Kämpfen in die USA. Als er 1991 zurückkam, erkannte er sein Quartier kaum wieder. Nach dem Tod seines Vaters baute er das Elternhaus in ein Zweifamilienhaus um, die Mutter zog ins Stöckli und die Familie mit zwei Kindern ins Einfamilienhaus. «Dieses Drei-Generationen-Haus hat sich sehr bewährt, so konnte die Mutter bis ganz am Schluss zuhause leben.» Dass der Rütihof architektonisch nicht so prickelnd sei, findet auch der Architekt. Aber so schlecht wie sein Ruf sei er nicht. Ein grosser Vorteil sei das Sackgassensystem mit den Kehrplätzen, so gäbe es sehr wenig Verkehr und die Kinder könnten auf der Strasse spielen. «Ich habe auch das Gefühl, dass sich die Leute in diesem durchmischten Quartier sehr wohl fühlen und nur wegziehen, weil sie Wohneigentum suchen», meint Kämpfen. Was fehlt sei ein Zentrum mit Läden und Cafés, ein Problem, das man ja auch im Höngger Zentrum kenne. Städteplanerisch findet der Architekt es sinnvoll, dass jetzt auch noch die letzten Bauzonen verbaut und verdichtet würden. So könnten hier 4000 Menschen auf kleinem Raum leben, aber dafür von einem unverbauten Naherholungsgebiet profitieren. Aus Rütihof ist eine Satellitenstadt geworden. «Ich werde nicht nostalgisch, wenn ich an frühere Zeiten zurückdenke», meint Kämpfen. «Es ist heute eine andere Welt, die Bauernromantik ist einfach nicht mehr Realität. Wir befinden uns gerade in einer etwas seltsamen Übergangsphase, aber was die Zukunft betrifft, bin ich zuversichtlich.»

1 Kommentare


edwin geering aus portugal

27. Februar 2024  —  17:38 Uhr

alte erinnerungen tut gut.besten dank

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