Quartierleben
Rezept für eine funktionierende Nachbarschaft
Die ETH-Forscherin und Dozentin Sibylle Wälty hat das Konzept der «10-Minuten-Nachbarschaft» entwickelt. Damit, so meint sie, könnte Verdichtung ohne Zersiedelung und Gentrifizierung funktionieren.
1. Juni 2024 — Dagmar Schräder
Das Problem ist bekannt: Die Bevölkerung wächst, bezahlbare Wohnungen sind rar gesät, zusätzlicher Wohnraum muss geschaffen werden. Doch wie und wo? Der Platz ist begrenzt. Grünflächen ausserhalb von Städten zu überbauen, führt nicht nur zu einem Verlust an ökologisch wertvollen Flächen, sondern auch zu Zersiedelung und einer Zunahme an motorisierter Mobilität.
Bestehende Strukturen auszubauen, ist allerdings auch nicht ganz einfach. Wo in den Innenstädten abgerissen und verdichtet wird, führt dies nicht selten zu einer Verteuerung von Wohnraum und damit einhergehender Gentrifizierung.
In 10 Minuten (fast) alle Bedürfnisse abdecken
Die Raumentwicklungswissenschaftlerin, Stadtökonomin und Architektin Sibylle Wälty hat sich am ETH Wohnforum im Rahmen ihrer Dissertation mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Dabei hat sie das Konzept der «10-Minuten-Nachbarschaft» entwickelt.
Dieses besagt, dass eine nachhaltige Raumentwicklung möglich wird, wenn an mit dem öffentlichen Verkehr gut erschlossenen Standorten in einem Radius von rund 500 Metern, also einer Distanz, die zu Fuss leicht innerhalb von zehn Minuten zu bewältigen ist, eine Mindestdichte von 10 000 Einwohnenden erreicht wird und idealerweise in einem Verhältnis von 2 Einwohnenden zu 1 beschäftigten Person in Vollzeitäquivalenten vorliegt.
Dann sei die Infrastruktur an Gewerbe und Erdgeschossnutzungen so angelegt, dass die Wahrscheinlichkeit gross ist, den täglichen Bedarf innerhalb der Nachbarschaft decken zu können. Und für das Gewerbe sei die Zahl der in Gehdistanz wohnhaften Kunden ausreichend, um die Existenz zu sichern.
Als Folge davon würden in einer solchen Nachbarschaft 60 Prozent der Etappen zu Fuss zurückgelegt werden, das Auto spielte nur noch eine untergeordnete Rolle. «Das Resultat», so Wälty, «ist eine gesunde soziale Durchmischung, viel Leben und vor allem genügend Wohnraum innerhalb der Nachbarschaft.»
«Unterversorgung» an Einwohnenden
Bis anhin aber, so Wälty, wohnten weniger als eine halbe Million der Schweizer*innen in einer derartigen Nachbarschaft. In Zürich etwa gebe es momentan nur wenige Quartiere mit 10-Minuten-Nachbarschaften. Als Beispiel nennt sie das Gebiet um den Idaplatz mit rund 15 000 Einwohnenden und 7500 beschäftigten Personen in Vollzeitäquivalenten. Auch rund um den Lindenplatz in Altstetten sei eine Entwicklung hin zu einer 10-Minuten-Nachbarschaft erkennbar.
Im Rest der Stadt sind solche Gebiete Mangelware. So auch in Höngg. Am dichtesten besiedelt ist das Gebiet rund um den Zwielplatz: Hier wohnen rund 6000 Menschen, die Beschäftigung liegt aber nur bei 2250 Personen.
Der Rütihof rund um die Bushaltestelle Heizenholz kommt auf 500 Metern dagegen gerade mal auf 4000 Einwohnende. Diese geringe Dichte schlägt sich auch bei der Infrastruktur nieder: Es mangelt an Kleingewerbe und attraktiven Erdgeschossnutzungen.
Zu wenig dicht und vor allem extrem unausgewogen ist auch der Campus der ETH Hönggerberg: Dieser weist zwar eine hohe Beschäftigungszahl von rund 3750 Vollzeitäquivalenten auf, doch hier sind nur rund 400 Einwohnende zu zählen.
Ganz generell, so Wälty, fehlen der Stadt Menschen: «In Zürich fehlen rund 300 000 Einwohnende, um eine Stadt der kurzen Wege möglich zu machen, wie es der kommunale Richtplan fordert.» Das Potenzial wäre zwar gross, aber seit den 60er-Jahren habe die Stadt vor allem neue Arbeitsplätze geschaffen, die Wohnraumförderung dagegen vernachlässigt.
Raumplanungsgesetz sieht Dichte vor
Dabei hat sich die Schweiz eigentlich zu einem anderen Vorgehen verpflichtet: Im Raumplanungsgesetz, das im Jahr 2013 revidiert wurde, ist das Ziel klar definiert: «kompakte Siedlungsstrukturen». Das bedeutet, «Innenentwicklung vor Aussenentwicklung» zu setzen, also Wohnraum dort zu erweitern, wo bereits Strukturen vorhanden sind.
Dort, wo Arbeitsplätze, Infrastruktur und öV bestehen. Dieses Prinzip ist nicht nur im Raumplanungsgesetz verankert, sondern auch in den behördenverbindlichen kantonalen und kommunalen Richtplänen, die sich Kantone, vermehrt auch Regionen und Gemeinden gegeben haben.
Doch in den eigentümerverbindlichen Bau- und Zonenordnungen werde es nicht vollzogen, kritisiert Wälty. Denn die herrschenden Vorschriften erschwerten das Bauen in den Zentren und machten es einfacher, auf der «grünen Wiese» zu bauen. Nach wie vor würden deshalb täglich Grünflächen in der Grösse von acht Fussballfeldern zunichte gemacht, um neuen Wohnraum zu schaffen.
Bau- und Zonenordnung anpassen
Wie aber lässt sich ihr Ziel in organisch gewachsenen Gebieten überhaupt erreichen? Natürlich, so Wälty, sei Verdichten nicht überall möglich. Aber die Stadt müsse strategischer vorgehen, um das Raumplanungsgesetz zu erfüllen. Hierzu müsste die Bau- und Zonenordnung angepasst werden, um je nach Standort Aufstockungen, Überbauten oder Ersatzneubauten mit einem Vielfachen an Wohnraum zu ermöglichen. An dafür geeigneten Orten müsste dann viel kompakter und höher gebaut werden, als es heute möglich ist.
In Bezug auf Höngg könnte dies etwa bedeuten, die Gebäude rund um den Zwielplatz um mindestens zwei Stockwerke aufzustocken und teilweise mit Überbauten oder kompakten, noch höheren Ersatzneubauten zu ergänzen. Das würde ausreichen, um auf 10 000 Bewohnende zu kommen.
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