Quartierleben
Präzise Blasmusik und ein den Weltfrieden suchender Hippie
Seit 134 Jahren gibt es den Musikverein Zürich-Höngg, und seit vielen Jahren ist sein Unterhaltungskonzert der Magnet für Freunde der Harmonischen Blasmusik – so besuchten am letzten Samstag um die 360 Besucherinnen und Besucher den Auftritt der 70 Musikerinnen und Musiker.
25. März 2015 — Redaktion Höngger
Samstagabend, strömender Regen – kaum einer ist in Höngg unterwegs, es sei denn, er oder sie möchte ans Konzert des Musikvereins Zürich-Höngg, kurz MVZH, im grossen Saal des reformierten Kirchgemeindehauses. Dort angekommen, betritt man eine andere Welt: Das Motto «An Evening in New York» wird voll durchgezogen, sogar einen Hot-Dog-Stand mit passendem Look hat es im Foyer, und ein ganzer Tisch voller Muffins, Cup-Cakes, Brownies und Kuchen – allesamt wundervoll verziert, glitzernd, mit der Freiheitsstatue oder mit Rosen – harren ihrem Ende in der Pause oder nach Konzertende entgegen.
Dem Konzertanfang entgegen harren jedoch die 70 Musikerinnen und Musiker – die Bühne im grossen Saal musste gegen das Publikum hin vergrössert werden, sonst hätten nicht alle darauf Platz gehabt. In ihren adretten schwarzen Anzügen mit weissen Hemden und Blusen sitzen und stehen sie da, vor sich auf Hochglanz polierte Instrumente – Flöte und Piccolo, Klarinette, Saxofon, Oboe, Trompete, Waldhorn, Posaune, Euphonium und Bass sowie Perkussion warten auf ihren Einsatz.
Kriegerisches zum Anfang
Losgelegt wird mit «American Salute», Variationen über das Kriegslied «When Johnny comes marching home». Begrüsst werden die Besucherinnen und Besucher damit, weil New York zu Beginn der Kolonialisierung durch die Niederländer auf der Spitze der Halbinsel in der Sprache der Indianer «Manna-hatta» hiess, daraus wurde Manhattan. Die Wallstreet mit ihrer Mauer als Verteidigungs- und Schutzanlage wird bis heute im Zusammenhang mit Überfällen und Kriminalität genannt – und so passe doch ein Kriegsstück zur Begrüssung, fand Ansager Frédéric Voisard-Horisberger.
Seit 2006 ist er «nur» noch Passivmitglied, aber dafür engagierter Ansager an den jährlichen Konzerten, begrüsst das Publikum und erzählt, passend zur Videoprojektion der Freiheitsstatue im Hintergrund, die Geschichte der «Miss Liberty», die ja eigentlich «Mademoiselle Liberté» heissen müsste, weil sie ein Geschenk der Franzosen zu 100 Jahren Unabhängigkeit der USA, 1876 war die magische Zahl, war. «Die >Miss Liberty> steht übrigens auf einem Sockel, welcher Teil einer Befestigungsanlage war», so der begabte Ansager.
Im ersten, zweiten oder dritten Frühling schwelgen
Zu «The Hounds of Spring» von Alfred Reed, dem New Yorker «Blasmusik-Guru» schlechthin, sei es Zeit, sich an den «ersten, zweiten oder dritten Frühling zu erinnern» und die Verliebten könnten ja in der Pause oder nach dem Konzert «Taten folgen lassen», so der Basler Ansager, der damit viele Publikumslacher erntet. Das Orchester spielt den ganzen Abend präzise und auf den kleinsten Ton genau, denn so gibt Dirigent Bernhard Meier es auch vor – nicht umsonst war er acht Jahre lang Berufsoffizier im Kompetenzzentrum Schweizer Militärmusik, nachdem er die Miliz-Ausbildung zum Musikoffizier absolviert hatte.
Zur «Pavane from <Symphonette#2>» von Morton Gould, dem Schöpfer der Verbindung von Folk und Jazz, erzählt Frédéric Voisard-Horisberger, dass der Tanz «Pavane» von Vogel Pfau komme: «Und wenn man in den Zürcher Zolli, äh pardon, in den Züri Zoo meine ich, geht, dann sieht man, dass dieser Tanz, genau wie eben der Pfau, eine leichte, elegante Angelegenheit ist». Das Publikum kann nicht umhin, den Basler für seinen Zolli-Ausrutscher wohlwollend ein bisschen auszulachen, schliesslich ist man in Zürich, im «Dorf» Höngg.
Begehrter Solist André Desponds spielte
Vor der Pause gibt es die «Rhapsody in Blue» von George Gershwin zu hören, gespielt von Solist André Desponds, der in seinen schwarzen Lackschuhen perfekt zum schwarz glänzenden Konzertflügel mit discomässiger LED-Beleuchtung passt. Diese Verbindung von Jazz, Blues und konzertanter Sinfonik spielt er hingebungsvoll, seine Finger fliegen nur so über die Tasten, mit überkreuzten Händen spielt er sich tosenden Publikumsapplaus ein. «Bei André Desponds gilt <Manhattan oder män hät en nöd – der Musikverein Zürich-Höngg hät en>!», so Wortspieler Frédéric Voisard-Horisberger.
Der Pianist spielt das berühmte Stück zum ersten Mal mit einem Blasorchester, was bei Musikern und Publikum gleichermassen gut ankommt. Als zweite Zugabe gibt es eine Eigenkomposition des Pianisten, die die meisten ebenfalls noch nie gehört haben dürften. Die konzentrierten Gesichter der Musikerinnen und Musiker und auch des Dirigenten zeigen, wie ernst sie ihren Auftritt nehmen und wie viel das perfekte Spiel abverlangt.
Im «Groove-Rausch» zum Hot-Dog-Stand entlassen
Im «Groove-Rausch», so der Ansager, entlassen Musiker und Ansager das Publikum in die Pause, zu Hot-Dog, Drinks und Cup-Cakes. Danach geht es weiter mit Medleys aus den Musicals «My Fair Lady» und «Hair» und einem Medley zu «The Best of Billy Joel», natürlich mit dem «Uptown Girl», immer eingeführt vom Basler Ansager, der findet, «Zoifter» könne er schon rein wegen seines Dialektes nie werden – er sei schon froh, dass er beim Musikverein Zürich-Höngg die Ansagen machen dürfe.
Junger Posaunen-Solist zeigt Blasmusik-Energie
Das Stück «This nearly was mine» wird vom jungen Posaunisten Jean Michel Sassel musikalisch geführt, er zeigt, dass Blasmusik nicht nur für Ältere ist – er und die meisten Musiker des MVZH sind zwischen 20- und 72-jährig, der Durchschnitt liegt aktuell bei genau 35,7 Jahren. «For Once in my Life» ist Frank Sinatra, dem New Yorker mit den blauen Augen schlechthin, gewidmet. Zur Ansage von «Hair Selection» betritt ein Hippie die Bühne – Frédéric Voisard-Horisberger hat sich die Krawatte als Haarband um den Kopf gebunden, das Hemd aus der Hose gezogen – und ruft «Zum Kampf gegen das Establishment» auf, er wolle «Platz für Protescht!», zudem lasse er sich seine langen Haare (die er nicht hat) sicher nicht von einem Stahlhelm frisieren, und auch der Konzertflügel, der für André Desponds zweiten Einsatz wieder hervorgerollt wird, bekommt ein paar böse Worte ab – doch der rebellische Hippie wandelt sich im Sekundentakt: «Herzlichen Dank, dass Sie in dieser Kommune Platz genommen haben – Love, Peace and Happiness – lassen Sie uns zusammen diskutieren und eine Friedenspfeife rauchen», schloss er das Konzert mit dem kriegerischen Anfang und dem friedlichen, im übertragenen Sinne deliriösen, betörenden Ende.
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