Mitten unter uns – und dennoch nicht hier

Das ist die Geschichte von Besjana*. Und die von Walter, der sie dem «Höngger» erzählte. Besjana konnte dies nicht, denn sie ist weg. Ohne offiziell hier gewesen zu sein. Das ist die Geschichte von Besjana, einer illegal Anwesenden, einer Sans-Papier, die in Höngg Unterkunft fand.

Sans-Papiers: Alleine, isoliert – doch mitten unter uns.

Walter engagiert sich ehrenamtlich für Menschen am Rande der Gesellschaft. Er wohnt zusammen mit seiner fast erwachsenen Tochter in Höngg. Vor vier Jahren erhielt er kurz vor Weihnachten den Anruf einer Bekannten, die für Besjana und ihr einjähriges Kind kurzfristig eine Wohngelegenheit suchte und wusste, dass er seit dem Auszug des Sohnes ein freies Zimmer hatte. Besjana stammte aus Ex-Jugoslawien, hatte über sieben Jahre legal in der Schweiz gelebt und dann, als Folge einer Scheidung, die Aufenthaltsbewilligung verloren. Und auch ihre beiden ersten Kinder, doch dazu später.
Sechs Jahre lebte Besjana illegal mitten unter uns. Sie sprach gut Deutsch, verdiente aber als Putzhilfe nur knappe 500 Franken pro Monat. Meistens schwarz. «Ich fühlte mich von dem Anruf, kurz vor Weihnachten – Mutter und Kind suchen Unterkunft – sofort angesprochen», erinnert sich Walter. Er überschlief den Gedanken, sprach mit seiner Tochter und am anderen Tag rief er zurück.
Ein paar Tage später bezog Besjana mit ihrem Kind das Zimmer. Über die wahren Hintergründe informierte er nur sein allernächstes Umfeld, denn sein Handeln war zwar human, aber illegal. «Erstaunt hat mich», so Walter, «dass kaum Fragen aus der Nachbarschaft kamen. Ich denke, das wäre bei einer männlichen Person anders gewesen. Aber eine Frau mit Kind, da schöpft man keinen Verdacht und das macht auch keine Angst.»

Besjanas Geschichte

Und so lernte Walter die Geschichte der Muslimin Besjana kennen, die um die Jahrtausendwende, von den Familien arrangiert, ihren Landsmann Burim heiratete, der in der Schweiz aufenthaltsberechtigt war und arbeitete. 2002 kommt ein Sohn zur Welt, ein Jahr später die Tochter. Besjana lebt, in ihrem Kulturkreis nicht unüblich, isoliert als Hausfrau und Mutter. Doch Burim ist gewalttätig und so verlässt Besjana ihn, was eine grobe Verletzung der archaischen, religiös geprägten Regeln bedeutet. Dafür bezahlt sie einen hohen Preis: 2007wird die Ehe in ihrem Heimatland geschieden. Der Vater erhält das alleinige Sorgerecht für die Kinder. Besjana muss Unterhalt bezahlen, ein Besuchsrecht wird im Urteil nicht geregelt. Die in der Schweiz gut integrierte Familie des Exmannes sorgt dafür, dass Besjana ihre Kinder nie wieder sieht. «Seit die Kinder älter sind, gelingt ab und zu ein SMS-Kontakt, persönliche Treffen wurden aber verhindert oder sofort unterbunden», erzählt Walter. Doch der Tragik nicht genug. Selbst Besjanas Familie, alle in der Schweiz lebend, bricht den Kontakt mit ihr ab, und: Mit der Scheidung verliert sie ihr Bleiberecht in der Schweiz, denn dieses war nur durch die Ehe gegeben. «Eine Anwältin hat später versucht, das Urteil anzufechten. Auch weil es mit der Nichtregelung des Besuchsrechtes krass gegen die Schweizer Rechtsordnung verstösst», so Walter, «doch da Besjana die Schweiz unterdessen verlassen hat, steht die Antwort aus.» Er kann nur vermuten, warum Besjana sich damals nicht gegen das Urteil gewehrt hatte. Aus Angst vor der Familie des Kindsvaters? Oder aus finanziellen Gründen und weil sie allgemein isoliert und geschwächt war?

Der kurze Hoffnungsschimmer

Jedenfalls schlägt sich Besjana fortan mit Reinigungsarbeiten durchs Leben. Oder pflegt für Kost und Logis eine betagte Frau, deren Sohn ihr eine Heirat in Aussicht stellt und sie ein Jahr später ohne ersichtlichen Grund wieder auf die Strasse stellt. Sie kehrt zurück nach Zürich und lernt Ymer, einen Christen, kennen. Auch er stammt aus einem Balkanstaat, hat keine Papiere und arbeitet illegal für eine Baufirma. Zusammen schaffen sie es sogar, etwas Geld anzusparen.
Dann wird Besjana schwanger. Kurz darauf wird Ymer bei einer Kontrolle erwischt und flieht in die Heimat. Er will zurück in die Schweiz, wegen der anstehenden Geburt, aber auch aus wirtschaftlichen Gründen. Mehrfach versuchte er einzureisen, wurde aber immer erwischt.

Ein unsichtbares Leben

Als Besjana dann bei Walter Unterkunft findet, ist das Kind bereits fast jährig. Besjanas Leben als Illegale, ohne Partner, ohne Familienunterstützung und nur einem ganz kleinen sozialen Netz, ist extrem anstrengend geworden. Sie arbeitet weiterhin als Reinigungskraft. Die Tochter nimmt sie meistens mit, eine Betreuung ist nicht vorhanden oder viel zu teuer. Bei Walter wohnt sie gratis und trotzdem fehlt das Geld an allen Ecken und Enden. Unterstützung – Kleider und kleine Geldbeträge – erhält sie von verschiedenen Hilfsorganisationen. Diese sorgen auch dafür, dass sie bei einer Krankenkasse angemeldet ist und wenigsten ihr letzter Arbeitgeber sie bei der AHV anmeldet (siehe Kasten).
Besjana verhält sich so unauffällig wie möglich. Die Fensterläden ihres Zimmers bleiben auch tagsüber geschlossen. Sie lebt praktisch in Symbiose mit ihrer Tochter, der sie eine liebevolle und fürsorgliche Mutter ist. Wenn sie abends in der Küche kocht und isst, macht sie das im Halbdunkeln. Wenn sie unterwegs ist, begleitet sie die ständige Angst, kontrolliert und ausgewiesen zu werden. Ihr einziger Vorteil: Der Pass ihres Heimatlandes erlaubt ihr, für drei Monate als «Touristin» in der Schweiz zu sein. Und weil damals bei der Ausreise der Grenzbeamte gegen eine Bestechung kein Ausreisedatum in den Pass stempelte und sie an der Schweizer Grenze nicht kontrolliert wurde, ist bei einer Kontrolle nicht feststellbar, wie lange sie schon «Touristin» ist.

Von Notlösung zu Notlösung

Der Aufenthalt bei Walter war nur als Notlösung über die Feiertage gedacht, doch es findet sich keine Anschlusslösung und die wenigen legal anwesenden Kolleginnen unter ihren Landsleuten, die sie hat, getrauten sich nicht, sie bei sich aufzunehmen. So bieten Walter und seine Tochter weiterhin Obdach.
Im Frühling ändert sich die Situation. Besjana lernt einen älteren Schweizer kennen. Er ist frisch geschieden und bietet ihr an, mit ihm in seine neue Wohnung zu ziehen. Walter sieht den Mann nur ein Mal, als er Besjana beim Zügeln hilft –, ein gutes Gefühl hat er nicht. Und tatsächlich: An einem der darauffolgenden Sonntage ist Walters Tochter am Telefon. Besjana habe weinend angerufen. Der Mann sei betrunken nach Hause gekommen und habe Sex mit ihr gewollt, obwohl das Kind neben ihr schlief. Ob sie wieder zurückkommen könne. «Meine Tochter hatte ihr sofort zugesagt!», erinnert sich Walter mit leisem Stolz. Natürlich hätte auch er Besjana nicht abgewiesen. Letztlich bleibt sie insgesamt über ein halbes Jahr in Höngg.

Immer wieder ausgenutzt

Walter fragte sich oft, wo Besjana die Kraft zum Weiterkämpfen findet, obwohl sie von Arbeitgebern noch und noch ausgenutzt wurde. «Sie arbeitete absolut zuverlässig», erzählt er, «man vertraute ihr Schlüssel zu Wohnungen und Büros an, doch ihre Situation wurde immer wieder schamlos ausgenutzt.» Man zahlte ihr einen tiefen Lohn und oft genug wurde ihr am Ende sogar dieser verweigert – im Wissen darum, dass sie es nicht wagen würde, rechtlich dagegen vorzugehen. Unter den Firmen sind laut Walter auch bekannte Namen, die er aber nicht nennen will. Erschwerend war auch, dass sie ihr Kind mit zunehmendem Alter nicht mehr zur Arbeit mitnehmen durfte und immer wieder wechselnde Betreuungspersonen bezahlen musste. Manche von denen kannte sie kaum: «Sie hörte irgendwo jemanden in ihrer Muttersprache reden und sprach die Leute an. Eine andere Möglichkeit hatte sie nicht und so wusste sie nie sicher, wie es ihrem Kind gehen würde, während sie für einen unsicheren Lohn schuftete.»
Ihren Freund Ymer, den Vater ihres jüngsten Kindes, besuchte sie gelegentlich in seiner Heimat. Von einem dieser Besuche kam sie schwanger zurück. Das Arbeiten wurde noch beschwerlicher und die Perspektiven noch schlechter, der illegale Aufenthalt wäre künftig noch schwerer zu kaschieren. Schliesslich gibt  Besjana erschöpft und frustriert auf.

Abschied mit Tränen

«Als sie abreiste», blickt Walter zurück, «fragte ich sie, ob sie zuhause von Ymer finanziell unterstützt würde.» Da seien ihr die Tränen gekommen: Nein, er würde ganz sicher nichts von seinem Verdienst für die beiden Kinder und sie abgeben wollen. Sie müsse sich eine Arbeit suchen. Auch wenn es ihr unsäglich peinlich war, aber sie musste Walter um ein kleines Startgeld bitten. Dies gab er ihr, hatte er die Frau in all der Zeit doch als grundehrlich kennengelernt.
Besjanas zweites Kind müsste unterdessen auf der Welt sein. «Ich habe seit ihrer Abreise leider nichts mehr von ihr gehört. Sie wollte eigentlich zurückkommen, um die Kleider und den Kinderwagen für das Baby zu holen, die sie in meinem Keller gelassen hat. Und», erwähnt Walter zum Schluss beiläufig, «sie hat immer noch einen Hausschlüssel.»
Die Frage, ob er wieder gleich handeln würde, erübrigt sich.

* Alle Namen, Daten und sonstigen Angaben in dieser Geschichte sind zum Schutz aller Beteiligten anonymisiert.

Sans-Papiers in der Schweiz
Je nach Schätzung leben und arbeiten 90 000 bis 250 000 Sans-Papiers, Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in der Schweiz.
Sozialversicherungen – AHV, IV, ALV, UVG und Pensionskasse – sind für alle in der Schweiz lebenden Menschen obligatorisch. Sie sind verpflichtet, wie die Krankenkassen auch, Sans-Papiers zu versichern. Auch öffentliche Schulen müssen alle, also auch Sans-Papier-Kinder, einschulen. Dies gilt bis zum Ende des neunten Schuljahres. Auch der Besuch des Kindergartens ist in mehreren Kantonen Pflicht. In einigen Kantonen ist zudem der Besuch von weiterführenden Schulen möglich. Berufslehren sind hingegen zurzeit für jugendliche Sans-Papiers nicht möglich. Eine Gesetzesänderung ist aber vorgesehen. Ärzte, Schulen und auch die Sozialversicherungen dürfen Daten von Sans-Papiers nicht an die Polizei weitergeben.
Weitere Informationen unter www.sans-papiers.ch