Quartierleben
Mit Zeichenstift und Velo statt Smartphone und Auto
Die Porträt-Stafette dreht sich diesmal um Aari Frieden. Bei ihm ist nichts 08/15.
25. März 2019 — Anne-Christine Schindler
Es ist nun schon ein paar Jahre her, dass wir nach Höngg gezogen sind, meine Eltern, meine beiden Brüder und ich. In der Zwischenzeit sind ausserdem zwei Katzen dazugekommen. Vorher haben wir in der Riedtlisiedlung im Kreis 6 gewohnt, in diesen gelben Häusern mit Höfen, in denen wir Kinder spielten. Der Umzug war innerhalb von drei Wochen beschlossene Sache und hat mich etwas überrumpelt, aber meinen Eltern war es an der Winterthurerstrasse zu laut.
In Höngg ging ich dann nur ein oder zwei Monate in die Primarschule. Weil ich es dort nicht aushielt, durfte ich zurück in meine alte Schule im Kreis 6. Danach ging ich eine Probezeit lang ins Langzeitgymi, aber weil ich vorher nie hatte lernen müssen und den Aufwand nicht gewohnt war, wechselte ich bald in die Sek. Dort baute ich schnell einen Freundeskreis auf, der mir geblieben ist, obwohl ich nach der dritten Sek wieder ans Gymi wechselte.
Ans Gymi ging ich, ohne zu wissen, was ich dort eigentlich will. Ich hatte auch nicht gross gelernt für die Aufnahmeprüfung und mir fehlte die Motivation, mir all diese Dinge in den Kopf zu schaufeln. In dieser Zeit ging mein altes Velo kaputt und ich bekam zum Geburtstag ein neues, das ich in einer Velowerkstatt selbst zusammenstellen konnte. Ich merkte, dass mir dieser Beruf gefiel, und so beschloss ich, Velomech zu werden.
Nach den Sommerferien letzten Jahres schnupperte ich an verschiedenen Orten und fand so bei der Hardbrücke eine Lehrstelle. Im Oktober verliess ich das Gymi und suchte einen Job als Velokurier, fand aber keinen, weil ich noch nicht volljährig bin. Seit ein paar Wochen arbeite ich dafür vier Tage die Woche in der Werkstatt, in der ich meine Lehre machen werde. Ich kenne mich gerne aus in dem, was mir Freude bereitet, und Velos sind meine Leidenschaft. Ich bin immer mit dem Rennvelo unterwegs. Mit der Zeit lernt man, den Verkehr einzuschätzen und stets aufmerksam zu sein. Es ist dann, als stünde man mit dem Verkehr im Dialog, oder als spielte man ein Spiel, bei dem es darum geht, den schnellstmöglichen Weg ans Ziel zu finden – das macht mir mega Spass. Ich fahre übrigens schnell, aber immer mit Helm, Licht und richtigen Bremsen.
In Höngg auf dem Hügel zu wohnen, ist eine willkommene Herausforderung. Es stachelt mich immer an, wenn mich Leute auf dem E-Bike überholen – ohne zu schwitzen und trotzdem viel schneller. E-Bikes sind eine gute Lösung für Menschen, die sonst nicht Velo fahren würden, aber kein Auto wollen; denn Autofahren in der Stadt, das macht keinen Sinn.
Am Klimastreik Mitte März war ich nicht. Hätte ich frei gehabt, wäre ich gegangen, aber ich glaube, dass ich mit meiner Arbeit in der Velowerkstatt auch einen sinnvollen Beitrag leiste. An der Klimademo im Februar war ich dabei. Sonst gehe ich an Demos, wenn mich ein Thema beschäftigt, zum Beispiel Flüchtlinge, soziale Themen oder das WEF – die grossen Wirtschaftsmächte, die versuchen, noch mehr Kapital anzuhäufen, sind mir zuwider.
Es gibt auch eine Velodemo in Zürich, an der war ich bisher einmal. Die Velowege in der Stadt könnten sicher besser sein. Bei der Europaallee gibt es beispielsweise einen, der in eine Einbahnstrasse führt und dann plötzlich aufhört – das ist gefährlich. Dafür gibt es zunehmend separate Ampeln, die an Kreuzungen Zeitfenster für die Velos schaffen, indem sie etwas früher grün werden.
Ich kann auch Ein- und Kunstrad fahren. Das habe ich im Kinderzirkus Robinson gelernt, wo ich ab fünf und bis 16 dabei war. Diese elf Jahre lang war der Zirkus ein grosser Lebensinhalt für mich. Wir trainierten zweimal die Woche, traten im Sommer am Hechtplatz auf und reisten jedes Jahr in eine andere Stadt, samt Bühne und dem Programm, das wir im Winter entwickelt hatten. Im Herbst gab es jeweils vier Aufführungen und die Dernière war jedes Jahr im Zelt des Zirkus Monti. Mit dem Zirkus habe ich schliesslich aufgehört, weil ich eben älter wurde und irgendwann genug hatte. Ich war aber in diesen Sportferien das erste Mal als Assistenztrainer in einer Zirkusferienwoche dabei. Aus dem Zirkus habe ich auch einen Freundeskreis. Man muss dort zusammenhalten und einander vertrauen, damit es nicht gefährlich wird, und das verbündet sehr.
Auch aus dem Kindergarten habe ich einen Freund, mit dem ich jedes Jahr eine Velotour dem Rhein entlang mache. Angefangen haben wir mit Zürich-Schaffhausen, letztes Jahr sind wir bis Mannheim gekommen. An einer Stelle wollten wir den Fluss durchwaten, weil die nächste Brücke zu weit weg war. Das Wasser war dann doch nicht so seicht, und plötzlich war ich samt Rucksack am Schwimmen. Zum Glück war der wasserdicht, so ist der ganzen Elektronik dort drin nichts passiert.
Apropos Elektronik: Mittlerweile habe ich kein Smartphone mehr und ich habe auch die sozialen Medien aufgegeben. Ich hatte mich immer wieder dabei ertappt, wie plötzlich drei Stunden verpufft waren, ohne dass ich etwas Sinnvolles gemacht hatte. Dabei könnte man sich gerade in dieser Zeit mit sich selbst beschäftigen und lernen, auch mit schlechten Gefühlen umzugehen, statt sich ständiger Reizüberflutung auszusetzen. Ich zeichne jetzt mehr und hoffe, für die BMS Gestaltung und Kunst aufgenommen zu werden. Eine 08/15-Laufbahnberatung sähe zwar eine technische BMS vor, aber tatsächlich ist der Bereich frei wählbar und nur die Berufsschule ist auf die Lehre zugeschnitten.
Einmal die Woche arbeite ich in der Roten Fabrik plastisch mit Lumpen und Draht, die ich mit einer papiernen Haut überziehe. Ich fotografiere auch sehr gerne. Im Moment mache ich viele Schwarz-Weiss-Fotos, um das Licht zu verstehen. So bin ich an vielen Orten mit vielen Dingen beschäftigt. Nur mit Höngg verbindet mich wenig – ausser eben, dass ich jeden Tag diesen Hügel hinaufradle.
In diesen monatlichen Beiträgen werden ganz normale Menschen aus Höngg porträtiert: Man braucht nicht der Lokalprominenz anzugehören und muss auch nicht irgendwelche herausragenden Leistungen vollbracht haben, nein, denn das Spezielle steckt oft im scheinbar Unscheinbaren, in Menschen «wie du und ich».
So funktioniert’s: Die zuletzt porträtierte Person macht drei Vorschläge, an wen der Stab der Porträt-Stafette weitergereicht werden soll. Die Redaktion fragt die Personen der Reihe nach an und hofft auf deren Bereitschaft.
Sollte die Stafette abreissen, sind wir froh, wenn auch Sie uns mögliche Kandidat*innen melden. Kontaktangaben bitte per Mail an redaktion@hoengger.ch oder Telefon 044 340 17 05.
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