Menschen mit Behinderung
Menschen mit Down-Syndrom «leiden» nicht
In der Schweiz leben geschätzt 5000 Menschen mit dem Down-Syndrom. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Einer von ihnen ist Philemon aus Höngg. Der «Höngger» war bei ihm und seiner Familie zu Besuch.
13. Mai 2019 — Patricia Senn
Mittwoch ist traditionell Wähentag bei Familie Huber Haller in Höngg. Philemon ist gerade dabei, den Teig für zwei Bleche auf dem Stubentisch auszuwallen, sein Vater Stefan bringt verschiedene Früchte aus der Küche. «Meinst Du, der reicht für beide Wähen?», fragt er. Philemon hält kurz inne, begutachtet sein Werk mit prüfendem Blick und antwortet: «Ja, sicher».
Sie seien sich recht ähnlich, meint Stefan. Vor allem das Zeichnen verbinde die beiden: Der Vater ist Grafiker und Comic-Zeichner, Philemon, der ältere von zwei Söhnen, hat vor ein paar Jahren damit begonnen, die Asterix- und Obelix-Bände abzuzeichnen. Band Fünf ist fast fertig, über 1700 Zeichnungen hat der bald 16-Jährige mittlerweile zusammen. Auch die Wände zeugen von seiner kreativen Ader: Sie sind mit Porträt-Zeichnungen seiner zahlreichen Stofftiere tapeziert. Jedes der Tiere hat einen eigenen Namen, ein Alter und ein Lieblingsessen. Jeden Tag dürfen zwei von ihnen Philemon in die Schule begleiten. Morgen sind es das Büsi und das Säuli.
Während Philemon mit der Gabel sorgfältig ein Muster in den Teig sticht, erzählt Stefan, dass Philemon ins Lachenzelg zur Schule geht, früher ins Vogtsrain. Dass es an der Sekundarschule anfangs Probleme gab, weil der Junge Mädchen anfasste oder spukte. Dass es Reklamationen gab, weil die Leute nicht Bescheid wussten. Denn: Philemon hat das Down-Syndrom. Das bedeutet, dass das 21. Chromosom in seinen Zellen dreimal vorkommt, also einmal mehr als bei anderen Menschen. Daher kommt auch der Name «Trisomie 21». «Ich bekam ein <Fünf-Minuten-Fenster>, um Philemon an einem Berufswahlabend vorzustellen», erinnert sich Stefan. Das würde nie im Leben reichen, soviel war klar. Also schrieb und zeichnete er mit Philemons Hilfe einen Comic, in dem er Philemons «Anders-Sein» erklärte. Dass der Jugendliche manchmal mit sich selber spricht oder mit seinen Stofftieren, dass manche Dinge ihm schwerer fallen als anderen, oder dass er seine Begeisterung auch gerne offen zeigt. «Die Eltern und Mitschüler*innen haben diese Information sehr geschätzt», meint Stefan. Beim nächsten Mal würde er das von Anfang an so machen.
Leidenschaftlicher Schauspieler
In vielen Dingen unterscheidet sich Philemon aber gar nicht so sehr von anderen Jugendlichen: Er spielt gerne Fussball und liebt Musik. Wie die meisten in seinem Alter, will auch er «cool» sein und dazugehören, wobei das Markenbewusstsein bei ihm nicht vorhanden ist. Seine grosse Leidenschaft ist das Theaterspielen. Immer samstags reist er – mitterweile sogar unbegleitet – nach Oerlikon, wo Theaterpädagoge Urs Beeler die TheaterWerkstatt «machtheater» für Kinder und Jugendliche mit einer Beeinträchtigung leitet. Philemon steht schon auf der Bühne seit er neun ist und hat kaum je eine Probe verpasst. Im Juli wird das aktuelle Stück aufgeführt.
Philemon geht gerne zur Schule, Mathe ist sein Lieblingsfach. Es gibt noch andere Kinder mit einer Beeinträchtigung im Lachenzelg, manchmal arbeiten sie zusammen in einer Kleingruppe, manchmal in der Klasse. Eine Heilpädagogin unterstützt sie jeweils im Unterricht. Mittwochs besucht der Jugendliche die Logopädie und das Sozialtraining an der Heilpädagogischen Schule in Wiedikon, dort lernt er einerseits, wie man richtig mit anderen Menschen umgeht und Konflikte austrägt, andererseits aber auch praktische Dinge wie Einkaufen. Im Sommer wird Philemon ans «15plus» wechseln, ein Anschlussprogramm der Fachschule Viventa. Darauf freut er sich, denn er kennt schon einige andere Jugendliche, die dort zur Schule gehen. Die Ausbildung ist sehr praxisbezogen und dauert zwei bis vier Jahre. Die Schüler*innen können an ein bis zwei Tagen in der Woche an verschiedenen Orten Schnuppern gehen. Was er einmal werden will, weiss Philemon noch nicht richtig. War es früher einmal Bäcker, könnte er sich heute für Comic-Zeichner begeistern. Seine Eltern liebäugeln mit einem Platz in der «Kunstfabrik Wetzikon», in welcher Menschen mit besonderen Bedürfnissen lernen und arbeiten können. «Wenn er in einer geschützten Werkstatt neun Franken in der Stunde verdient, könnte er stattdessen auch gleich auf Kunst setzen», überlegt Stefan. Gerade jetzt ist Philemon aber sehr beschäftigt damit, die Wähenbleche mit Früchten zu belegen. Er verteilt erst Himbeeren, dann Brombeeren und Aprikosen auf das kleinere Blech. «Lass noch etwas Platz für die Bananen und Kiwi», mahnt Stefan. «Und wo kommen jetzt die Zwetschgen hin?»
Ein Junge mit starkem Willen
Als die Wähe schliesslich im Ofen ist, hat Philemon ganz kalte Hände von den gefrorenen Früchten. Vor dem Abendessen bleibt noch Zeit für mindestens eine Runde Schach mit seinen Stofftierfreunden. Eine kleine Klavieraufführung für den Besuch? Nein, leider nicht, vielleicht nach dem Essen. Philemon weiss ganz genau, was er will, oder eben nicht, und kann das meistens auch kommunizieren. «Er hat einen klaren Plan, wie sein Tag aussieht», erklärt Stefan. Wenn man etwas von ihm wolle, müsse man das bereits ein paar Tage vorher ankündigen, damit er sich entsprechend arrangieren könne. Inzwischen ist auch Serafin, Philemons jüngerer Bruder, vom Bogenschiessen nach Hause gekommen. Er wird bald 13 Jahre alt und besucht die Rudolf-Steiner-Schule. Der Junge wirkt recht erwachsen, wenn er über seinen Bruder spricht. Von seinem starken Durchsetzungswillen, der jetzt in der Pubertät noch ausgeprägter zu werden scheint. «Wenn er etwas machen soll, das er nicht machen will, funktionieren Druckmittel nicht, er weigert sich dann einfach». Es brauche Geduld und Zeit, aber von guten Argumenten seines Bruders lasse er sich manchmal schon überzeugen, sagt Stefan. Serafins Lehrer*innen attestieren dem Jugendlichen eine hohe Sozialkompetenz und er selber sagt, dass er durch Philemon gelernt habe, dass man Menschen nicht schlecht behandeln dürfe, nur, weil sie anders aussehen oder sich anders verhalten. So langsam wächst auch Philemons Selbstwahrnehmung. «Die Pubertät ist für sich selbst ja schon kompliziert genug. Wenn man zusätzlich feststellt, dass man anders ist, kann das schon negative Gefühle auslösen. Aber bis jetzt geht es ihm gut», meint Stefan.
Alle Kinder können einem Sorgen machen
Die Eltern haben angefangen, die beiden Jungs auch einmal alleine zu lassen am Abend. Dann übernimmt Serafin die Leitung und bereitet den Znacht vor, während Philemon den Tisch deckt. «Wir möchten sie langsam an die Selbstständigkeit heranführen», so der Vater. Wie alle Eltern, wünschen sich auch Philemons Eltern, dass ihr ältester Sohn einmal auf eigenen Füssen stehen, eine Arbeit und eine Wohnung haben kann. «Es wäre schön, wenn er beruflich etwas machen könnte, das ihm auch gefällt». Dasselbe gilt natürlich für Serafin, aber bei ihm geht es in diesem Fall einfach etwas leichter – was ja nicht zwangsläufig der Fall sein muss: Auch Kinder ohne Down-Syndrom können einem Sorgen bereiten. Man solle ohnehin nicht alle Menschen mit Trisomie 21 über einen Kamm scheren, meint Stefan. Genauso wie alle anderen haben auch sie ihre eigenen Charaktere, geformt durch Sozialisation und Gene. «Die Leute <leiden> auch nicht unter dem Syndrom. Wenn sie leiden, dann höchstens unter den Reaktionen oder Hindernissen, auf die sie treffen», ist er überzeugt.
Draussen hat sich inzwischen ein kleiner Sturm zusammengebraut, es wird bald regnen. Zeit, den Tisch zu decken für den Znacht, die Wähe steht schon bereit.
Weiter Informationen zu den erwähnten Institutionen:
machTheater:
www.machtheater.ch
«15plusSHS» an der Fachschule Viventa:
www.stadt-zuerich.ch/ssd/de/index/jugend-_und_erwachsenenbildung/15plusSHS.html
Kunstfabrik Wetzikon: www.kunstfabrik-wetzikon.ch
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