Meine Relativitätstheorie

Unsere Redaktorin Dagmar Schräder schreibt über die grossen und kleinen Dinge des Lebens. Heute über die Zeit – und wie schnell oder langsam sie manchmal vergeht.

Dagmar Schräder bringt ihre Gedanken aufs Papier. (Foto: dad)

Mein jüngster Sohn hat sich einen Kalender auf ein Blatt Papier gemalt. Also eigentlich sind darauf nur lauter Kästchen. Und jeden Tag hakt er eines dieser Kästchen ab. Ab heute sind es noch genau 43. Dann sind endlich Sommerferien. Für ihn kann’s gar nicht schnell genug gehen. Jeden Tag zählt er nach und kann es kaum fassen, dass es sooo langsam vorwärtsgeht.

Auch ich freue mich auf die Sommerferien. Aber im Gegensatz zu meinem Sohn will ich nicht, dass die Tage einfach so verfliegen. Denn ich bin mittlerweile in einem Alter, in dem ich immer staune, wie schnell die Zeit verrinnt. Himmel, gerade war doch noch Weihnachten? Wenn das in dem Tempo weitergeht, ist bald alles vorbei …

Deswegen habe ich überlegt, wie ich die Zeit verlangsamen könnte. Anhalten wäre natürlich noch besser, aber das krieg ich wahrscheinlich nicht hin. Ich konzentrier mich also drauf, diese 43 Tage wieder als so unendlich lang empfinden zu können, wie das mein Sohn tut. Man könnte vielleicht die Tage etwas weniger vollpacken und riskieren, sich ab und zu ein wenig zu langweilen? Nein, das ist doof, auf Langeweile hab keine Lust. Es muss auch anders gehen. Aber was macht er anders als ich?

Ich glaube, es ist das Planen und Stressen. Beides kennt er nicht. Er plant seinen Tag meist nicht weiter als bis zum Schulschluss, wenn er sich mit seinen Freunden verabreden kann. Und dann vergisst er die Zeit komplett. Das will ich auch. Jeden Augenblick bewusst geniessen und nicht schon an den nächsten denken. Nicht ganz einfach. Aber ich versuche es. Heute früh habe ich gleich damit angefangen. Eigentlich war ich schon beim Aufstehen leicht gestresst, weil ich wusste, was heute noch alles zu erledigen ist. Und bereits jetzt zu spät dran war. Macht aber nix, sagte ich mir.

Stattdessen besann ich mich kurz, blieb ganz im Moment und weckte meinen Sohn behutsam. Naja, so behutsam wie’s geht, er ist nicht ganz einfach wachzukriegen. Aber es gelang mir, dabei entspannt zu bleiben. Anschliessend half ich ihm dabei, im Chaos seines Zimmers seine Socken zu finden. Sicher zehn Minuten gingen dabei drauf, aber hey, auch das kann «Quality-Time» sein.

Ein kurzer Blick auf die Uhr: Was, schon halb acht? Aber nein, nicht stressen. Ich erinnerte ihn vorsichtig an die Uhrzeit, er packte ebenso vorsichtig seine Schulsachen ein. «Mist!», rief er plötzlich. «Ich glaube, heute ist Sporttag.» Das war’s dann mit der Gemütlichkeit.

Stattdessen die Eltern seiner Freunde kontaktieren, nachfragen, ob die Aussage stimmt. Denn der Infozettel der Schule war unauffindbar. Schnell die Sportsachen einpacken, einen Znüni improvisieren, eingekauft war natürlich nix. Ein hastiges Frühstück zu zweit, ein flüchtiger Gruss zum Abschied. Gerade noch rechtzeitig verliess er das Haus.

Und ich begann, dem restlichen Tagesprogramm hinterherzuhasten. Das mit dem Verlangsamen der Zeit üben wir weiter. Mir bleiben immer noch 42 Tage bis zu den Sommerferien.

0 Kommentare


Themen entdecken