Letten: vom Drogensumpf zum Hotspot

Der Zürcher Letten war einst die Drogenhölle Europas. Unterhalb der Kornhausbrücke grassierte in den frühen 90er-Jahren ein Elend, das sich immer mehr ins Wohnquartier Wipkingen ausbreitete.

Heute ist die Badi Letten Treffpunkt für eine ganz andere Szene.
Die Drogenszene am Letten.
Drogenszene zog vom Platzspitz zum Letten.
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Wer heute an den Letten geht, besucht einen der beliebtesten Treffpunkte der Stadt Zürich. Vor allem in den Sommermonaten ist der Platz unterhalb der Kornhausbrücke an der Grenze zwischen Wipkingen und Unterstrass dicht besiedelt; viele junge Menschen treffen sich hier zum Volleyballspielen, zum Schwimmen, Skateboarden, Sonnenbaden. Doch der einstige Hotspot war vor mehr als 25 Jahren die grösste offene Drogenszene Europas. Hunderte Fixer bereiteten sich in Dreck und Armut ihre Spritzen zu, es tobten harte Dealerkriege. In den Hauseingängen an der Wasserwerkstrasse waren die herkömmlichen Lampen mit Blaulichtlampen ersetzt worden, damit die Süchtigen sich dort keinen «Schuss» mehr setzen konnten. Das spezielle Licht erschwerte den Einstich mit der Nadel in die Arme. Und auch die Nischen im Bereich der SBB-Tunnelausgänge beim Bahnhof Wipkingen wurden statt mit weissen Neon- mit Blaulichtlampen ausgerüstet.

Kurz: der Letten war früher das komplette Gegenteil von heute, ein schmutziger, trostloser Ort, an dem viele Süchtige ihre letzte Ruhestätte fanden. Täglich patrouillierte die Polizei, und die Dealer lieferten sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit ihr. Aber bevor die Szene an den Letten zog und sich somit auch im angrenzenden Quartier Wipkingen verbreitete, befand sie sich auf dem Platzspitz hinter dem Hauptbahnhof. Die Drogenabhängigen und Dealer blieben unter sich. Doch am 5. Februar 1992 wurde der Platzspitz in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von der Stadt dichtgemacht. Die Junkies mussten sich einen neuen Ort suchen, was zur Folge hatte, dass die Szene in die Kreise 5, 6 und 10 überschwappte. Die Quartiere verelendeten und der Staat verlor zeitweise die Kontrolle.

Der Letten mutierte zu einer der brutalsten Fixerszenen in Europa. Es gab mehrere Morde unter den verschiedenen Dealerbanden, die Polizei erschien nur noch in kugelsicheren Westen auf dem Platz. Auch der damalige Zürcher SP-Stadtpräsident und Wipkinger Josef Estermann war schockiert von der dortigen Hoffnungslosigkeit und Gewalt. Jeden Tag spazierte er über die Kornhausbrücke und dachte sich: «Ich muss etwas dagegen tun».

Lettenschliessung drei Jahre später

Am 14. Februar 1995 war es soweit, die Anwohner*innen konnten endlich aufatmen: der Letten wurde von der Polizei offiziell geschlossen und abgeriegelt. Wer aus der Stadt selbst kam, wurde einer Behandlungsstation zugeteilt, wer von ausserhalb anreiste, wurde in seine Heimatgemeinde zurückgebracht. Zahlreiche lokale und internationale Journalist*innen und Medienschaffende strömten nach Zürich, um den historischen Moment mit der Kamera festzuhalten.

Die Polizei verstärkte die Präsenz, gut 3000 Dealer wurden verhaftet. Provisorisch errichtete man sogar ein Notgefängnis in der Zivilschutzanlage Waid, um die Kriminellen unterzubringen. Der ehemalige Bahnhof Letten an der Wasserwerkstrasse glich damals einer Geisterstadt – die Junkies waren zwar verschwunden, übrig blieben jedoch Gestank, Dreck und Ratten. Eine 20 Zentimeter dicke Schicht Dreck bedeckte die Gleise. Doch bis zur Schliessung war es ein langer Weg und Kampf, so Estermann. Denn erst als die Lage eskaliert war und der Letten ein immer schlimmerer Ort wurde, konnten der Bund und andere Kantone hinzugezogen und der Platz definitiv geschlossen werden. «Wir mussten das Verständnis für die Stadt Zürich stärken, dass sie das Problem nicht alleine lösen kann», berichtete Estermann in einem Interview mit SRF.

Das damalige Konzept des Zürcher Stadtrates konnte die Drogenproblematik nachhaltig bekämpfen: Prävention, Repression, Schadensminderung und Therapie haben sich bis heute bewährt. Die damaligen Junkies sind mehrheitlich verschwunden, die Szene existiert nur noch in kleinem Rahmen. Vereinzelt sieht man noch Süchtige am Limmatplatz oder am Stauffacher. Für Estermann war die Lettenräumung ein grosser Erfolg, der Auswirkungen weit über Zürich hinaus hatte.

Pfarrer Ernst Sieber, der im Mai 2018 verstarb, kümmerte sich damals um die Junkies am Letten. Sieber hatte im März 1989 das Kleinspital «Sune-Egge» an der Konradstrasse im Kreis 5 eröffnet, das sich vor allem an Akutkranke aus der Drogen- und ¬Obdachlosenszene richtete. Dort behandelte er auch Aidspatienten im Endstadium und bot ihnen Betreuung und Unterschlupf. Später gründete er mit Unterstützung der damaligen Zürcher Sozialvorsteherin Emilie Lieberherr das «Letten-Dörfli», eine provisorische Container-Siedlung für Obdachlose am Letten. Die von ihm ins Leben gerufene Stiftung «Sozialwerke Ernst Sieber» war bereits zu dieser Zeit eine bedeutende Hilfsorganisation und hatte zwölf Einrichtungen. Ein Vierteljahrhundert später konnte die Stadt Zürich eine positive Bilanz ihrer Drogenpolitik der frühen 90er-Jahre ziehen. «Es gibt keine kollektive Verwahrlosung mehr, weniger Fixer, weniger Beschaffungskriminalität, weniger Obdachlose und weniger Drogentote»», sagte Michael Herzig, der damalige Drogenbeauftragte der Stadt Zürich in einem Interview. Junkies können legal Methadon beziehen, es gibt zahlreiche Anlaufstellen für Süchtige. In einer Volksabstimmung vom 2. Dezember 1990 hatten die Zürcher Stimmberechtigten für eine niederschwellige Methadonabgabe sowie für sieben Kontakt- und Anlaufstellen gestimmt.

Nirgends mehr sehe man Menschen, die sich öffentlich einen Schuss setzen. Herzig: «Die Szene ist Geschichte». Auch wenn es heutzutage nach wie vor Heroinabhängige gibt, sei die Situation unter Kontrolle.

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