Ich will keine Schokolade …

Unsere Redaktorin Dagmar Schräder schreibt über die grossen und kleinen Dinge des Lebens. Heute darüber, wie ein Stück Schokolade ihr zum besseren Verständnis eines komplexen ökonomischen Systems verholfen hat.

Dagmar Schräder bringt ihre Gedanken aufs Papier. (Foto: dad)

Endlich habe ich ihn begriffen, den Kapitalismus. Hat lange gedauert und ein ganzes Soziologiestudium hat dafür nicht gereicht. Da musste erst eine Tiktokerin daherkommen, um mich aufzuklären. Darf ich es Ihnen erklären?

Das Prinzip funktioniert nämlich so: Man nehme ein x-beliebiges Produkt, das es irgendwo auf der Welt gibt. Darf noch nicht allzu bekannt sein, irgendein Nischenprodukt, am besten nur lokal begrenzt erhältlich. Der Einfachheit halber ein Nahrungsmittel. So was wie, erfinden wir mal fröhlich etwas, eine «Höngger Traubentorte».

Dann suche man sich eine Influencerin auf Social Media, die einige Followers hat. Wirklich berühmt muss sie nicht sein, ihre Person spielt keine Rolle, sie dient nur als Katalysator. Besagte Influencerin filmt sich dann dabei, wie sie von dieser Traubentorte isst. Und tut dabei überzeugend so, als schmecke ihr das Produkt ausserordentlich.

So, und das reicht eigentlich auch schon. Den Rest erledigt die Maschinerie von selbst. Die Menschen kucken das Video an, posten es, verteilen es. Die ganze Welt spricht plötzlich über Höngg und seine Traubentorte, auf jeden Fall mal eine bestimmte Zielklientel im Alter zwischen 10 und 20. Alle wollen sie plötzlich haben.

Die Regale mit Trauben sind in den Grossverteilern schlagartig leergefegt. Im Internet kursieren tausend Tipps, wie die Torte am besten gelingt, Kinder nerven ihre Eltern so lange, bis sie mit ihnen eine Torte backen. Immer mehr Versionen davon tauchen auf. Und die Profibetriebe in Höngg, die sie im Sortiment haben, können sich vor Anfragen kaum noch retten. Wer eine der Süssspeisen ergattern kann, postet natürlich sofort ein Selfie damit.

Das Ganze rumort jetzt so ein paar Tage und Wochen in den sozialen Netzwerken, bis die grossen Konzerne, die weltweit die Tortenproduktion unter sich haben, darauf aufmerksam werden. Hoppla, denken sie sich, da könnte man ja Geld verdienen. Und sie fangen ebenfalls an, Traubentorten zu produzieren. Allerdings nicht in grossen Mengen, sondern nur in ganz kleiner Auflage, exklusiv, von Hand gefertigt. Sie lancieren den Verkauf zu einer ganz bestimmten Zeit, nur 500 Exemplare sind erhältlich. «Leute kommt und kauft!», heisst die Devise.

Und das funktioniert. Die Menschen warten vor der Fabrik, stehen sich eine ganze Nacht lang die Füsse in den Bauch, in der Kälte, mitten im November. Haben nichts Besseres zu tun als auf ihr Stück Torte zu warten. Ein Stück Torte, wohlgemerkt, dass zu einem völlig überrissenen Preis verkauft wird: 50 Franken muss die Kundschaft dafür hinblättern.

Wie die Torte überhaupt schmeckt? Völlig egal. Genuss ist sekundär. Sicher, die Kombination mit Trauben ist vielleicht nicht ganz alltäglich, aber eigentlich ist Erdbeerkuchen immer noch viel besser. Doch das spielt keine Rolle, das Bedürfnis in der Menschheit ist geweckt, egal was der Nutzen des Produkts ist. Bis in ein paar Wochen der nächste Trend startet.

Absurde Vorstellung, sagen Sie? Mitnichten. Googeln Sie mal «Dubai-Schokolade», falls der Hype tatsächlich an Ihnen vorbeigegangen sein sollte.

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