Wir sind Höngg
«Ich lese ‹Ulysses› seit 40 Jahren»
James Joyce zu lesen, gilt als schwierig. Fritz Senn aber ist von dem irischen Autor fasziniert. Einst stolperte er mehr zufällig über dessen Werk, heute leitet er die Zurich James Joyce Foundation.
14. Februar 2024 — Dagmar Schräder
Aufgezeichnet von Dagmar Schräder
Ich lebe bereits seit über 90 Jahren in Zürich. Geboren bin ich 1928 zwar in Basel, doch als ich fünf Jahre alt war, ist meine Familie nach Zürich übergesiedelt. Aufgewachsen bin ich in Unterstrass, anschliessend lebte ich in Unterengstringen und bin 2006 nach Höngg gekommen, wo auch meine Tochter wohnt.
Die Leidenschaft zum Beruf gemacht
Meine schulische Ausbildung habe ich an der Oberrealschule Zürich, dem heutigen Realgymnasium, abgeschlossen. Anschliessend studierte ich an der Universität Germanistik und Anglistik, konnte mein Studium aber leider nicht abschliessen, weil das tägliche Leben zum Zug kommen musste. Daraufhin war ich lange Jahre als Korrektor in einer Druckerei und anschliessend als Lektor beim Diogenes-Verlag tätig.
Schon während meines Studiums versuchte ich mich an James Joyce; er galt als schwierig, und ich wollte ausprobieren, ob ich mich zurechtfinden konnte. Das Werk faszinierte mich und liess mich nicht mehr los, es war eine willkommene Ablenkung. In der Auseinandersetzung mit den Texten lernte ich andere Leute kennen, denen es ähnlich ging und die wie ich kaum mehr loslassen konnten – und schon bald gehörte ich zum weiten Kreis von «Joyceanern».
Den weltbekannten irischen Autor verband einiges mit der Stadt Zürich: Er lebte während des Ersten Weltkriegs einige Jahre hier und verfasste mehrere Kapitel seines monumentalen Werks «Ulysses» im Seefeld und an der Universitätsstrasse 38 und 29. Anschliessend an seinen Aufenthalt in Zürich verbrachte er zwanzig Jahre in Paris, bevor er während des Zweiten Weltkriegs hierher zurückkam – allerdings für sehr kurze Zeit: Nur wenige Wochen nach seiner Ankunft verstarb er an den Folgen eines Darmdurchbruchs. Er ist auf dem Friedhof in Fluntern begraben, genau wie seine Frau Nora und sein Sohn Giorgio.
1985 wurde in Zürich die James-Joyce-Stiftung mit ihrer umfangreichen Bibliothek gegründet, deren Leitung ich übernahm. Damit wurde mein Hobby zum Beruf, und so sollte es noch eine Weile bleiben. Ich bin also Tag für Tag hier in den Räumlichkeiten am Strauhof anzutreffen. Anhaltendes Interesse lässt das Alter (beinahe) vergessen.
Das Rätsel entschlüsseln
Unsere Stiftung besitzt eine umfangreiche Joyce-Sammlung, dazu Übersetzungen in viele Sprachen, Interpretationen und Sekundärliteratur. Daneben findet sich hier eine Fülle an persönlichen Gegenständen und Erinnerungsstücken aus seinem privaten Leben, so dass wir uns als «Joyce-Museum» bezeichnen könnten. Wir empfangen hier nicht nur Gäste und organisieren Lesungen, Vorträge und Ausstellungen, wir treffen uns auch regelmässig jeden Donnerstag zur gemeinsamen Lektüre.
Nachmittags lesen wir uns durch den nicht so unlesbaren Roman «Ulysses», abends beschäftigen wir uns mit «Finnegans Wake». Es fasziniert, diese Werke gemeinsam zu lesen und immer wieder Neues zu entdecken. Denn einfach zu verstehen sind Joyces Werke nicht. Auch nach einer so intensiven Beschäftigung mit dem Werk, nach über 40 Jahren Lektüre, kann ich immer noch nicht alles erklären. Vor allem «Finnegans Wake» ist sehr kryptisch angelegt, mit literarischen Exkursionen in alle möglichen Sprachen, Wortneuschöpfungen und Bedeutungsüberlagerungen.
Oft versteht man nicht, ob es sich beim Geschilderten um einen Traum, eine Gedankensequenz oder ein reales Erlebnis handelt. Da hilft es, sich untereinander auszutauschen. Jede Leserin hat einen anderen Hintergrund, anderes Wissen und eine ganz eigene Herangehensweise und so können wir uns gut ergänzen.
Und wenn die anderen das Werk genau so wenig verstehen wie ich selber, weiss ich wenigstens, dass ich nicht der einzige Dumme bin. Genau gesehen, geht es uns doch mit vielen Dingen im Leben so – wir merken es nur nicht, weil wir uns mittlerweile daran gewöhnt haben, dass wir keine Erklärung für sie finden.
Hohe Ehren in Irland
Mit der Arbeit unserer Stiftung stellen wir einen irischen Aussenposten in Zürich dar, was erst vor zwei Wochen mit einem Preis der irischen Regierung belohnt wurde, dem «Presidential Distinguished Service Award». Das führte zu einer Reise in Begleitung meiner Tochter nach Dublin, wo ich den Preis übernehmen durfte. Auch sonst war ich bereits viel in Sachen Joyce unterwegs, mit Vorlesungen und gelegentlichen Gastprofessuren. Diese Woche reise ich nach Rom zu einer weiteren Veranstaltung, doch allmählich werde ich mit dem doch mühsamen Reisen etwas zurückstecken.
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