Kultur
«Ich bin ein Kulturvermittler»
Dreissig Jahre nach der Räumung des Lettenareals erinnert eine Foto- und Videoausstellung an die damaligen Zustände mitten in der Stadt Zürich. Kuratiert wird die Ausstellung vom Höngger Ethnologen Heinz Nigg.
2. März 2025 — Dagmar Schräder
Es sind eindrückliche Schwarzweissfotografien, die seit vergangenem Donnerstag und noch bis zum 9. März in der Photobastei in Zürich ausgestellt sind: Bilder aus den 1990er-Jahren, welche die offene Drogenszene von damals rund um den Bahnhof Letten wieder zurückbringen.
Bilder von Konsumierenden, von Spritzen und Polizeirazzien, von Nachbarschaften, die sich zu wehren versuchen, von Dreck, Krankheit und Elend. Geschossen wurden die Bilder von der Fotografin Gertrud Vogler, rund 10 000 dieser Zeitdokumente hat sie damals von der Situation auf dem Platzspitz und dem Bahnhof Letten erstellt, 53 von ihnen wurden für die Ausstellung ausgewählt.
Ergänzt werden die Schwarzweissaufnahmen durch Videos, einerseits bestehend aus Fragmenten aus dem Schweizer Fernsehen, andererseits aus Statements von Betroffenen, Anwohnenden, Eltern, Vertreterinnen sozialer Institutionen und Polizistinnen, die Heinz Nigg, der Kurator der Ausstellung, in Videodokumentationen zu Wort kommen lässt.
Nicht vergessen
Das Ziel der Ausstellung, so erklärt Nigg dem «Höngger», ist eine kritische Auseinandersetzung mit einem wichtigen Kapitel der Zürcher Stadtgeschichte. Dabei gehe es nicht nur um den Blick zurück, um die Frage, wie die Menschen von damals heute mit diesen Erfahrungen umgehen, sondern auch darum, vor welchen Herausforderungen die Stadt und die Gesellschaft heute in Bezug auf Drogen steht. «Aus meiner Sicht», so Nigg, «ist es sehr wichtig, nochmals zurückzublicken und die Auseinandersetzung zu suchen, damit die Geschehnisse nicht in Vergessenheit geraten.
Wer heute jung ist, kennt die Situation von damals bestenfalls noch vom Hörensagen – wenn überhaupt. Doch Sucht und Drogen sind Probleme, die nach wie vor in der Gesellschaft präsent sind und es auch immer bleiben werden. Aus der Vergangenheit zu lernen ist auch für die Zukunft wichtig, gerade in Bezug auf die neuen Herausforderungen, welche die synthetischen Drogen mit sich bringen.»
Mitten in den Opernhauskrawallen
Nigg ist jedoch nicht nur Kurator der Ausstellung, sondern auch Sozialwissenschaftler. Er studierte in den 1970er-Jahren in Zürich Ethnologie und konzentrierte sich dabei nicht auf fremde Kulturen, sondern auf Inlandethnologie, also die eigene Gesellschaft und die ihr innewohnenden Gruppen.

Sein Forschungsschwerpunkt waren damals die aufkommenden sozialen Bewegungen in der Stadt, seine Herangehensweise, die der «teilnehmenden Beobachtung», bei der sich der Forscher nah an das von ihm zu untersuchende Forschungsobjekt begibt.
So war er mit einer Gruppe Studierender mit Videokamera dabei, als die Jugendunruhen in Zürich begannen. Bei den sogenannten Opernhauskrawallen hielt er mit seinen Studierenden live vor Ort fest, was passierte. Heute gelten diese Aufnahmen als wichtiges Zeitdokument, andere Videoaufnahmen existieren von den Krawallen nicht.
Doch damals wurde die Arbeit Niggs nicht von allen geschätzt: von Seiten des Regierungsrats wurde ihm vorgeworfen, mit den Dokumentationen Agitation zu betreiben. «In der Folge wurde ich von allen Lehrtätigkeiten an der Uni ausgeschlossen», erinnert sich Nigg.
Dokumentieren, was Menschen bewegt
Seither ist der heute 76-Jährige als freischaffender Ethnologe und «Kulturvermittler», wie er es nennt, tätig. Ihm sei es ein Anliegen, den Dialog zwischen verschiedenen Gruppierungen und Bewegungen innerhalb der Stadt zu fördern, erklärt er.
Und das Medium seiner Wahl ist nach wie vor der Film, insbesondere das Porträtieren von Menschen anhand der Methode der «Oral History». Da lässt er Personen frei zu Wort kommen, von dem zu erzählen, was sie bewegt.
Die Arbeit mit Videos, so sein Credo, ist auch eine Möglichkeit der Partizipation: Menschen eine Stimme geben, die sonst kaum Gehör in den Medien finden. So war er etwa mit Video in der Jugendarbeit tätig und ermutigte Kinder und Jugendliche, sich mit dem damals noch neuen Medium Video auszudrücken.
Es gibt noch viel zu tun
Mit Begeisterung und Enthusiasmus berichtet Heinz Nigg von all seinen Projekten und all dem, was er noch zu tun gedenkt. So möchte er dieses Jahr zusammen mit einem weiteren Höngger ein kleines Fotoprojekt über Höngg machen: Was gefällt, was weniger und was einfach interessant ist, wenn man so durch die verschiedenen Nachbarschaften dieses grossen Stadtquartiers streift.
Doch in den nächsten Wochen wird er zunächst mit der Ausstellung zur offenen Drogenszene beschäftigt sein. Neben der Ausstellung finden zwei Diskussions- und Talkveranstaltungen sowie Führungen statt.
Die Ausstellung
Die offene Drogenszene Zürich
Veranstaltungen zum Thema 30 Jahre Lettenräumung:
Donnerstag, 27. Februar, 19 Uhr:
Offene Drogenszene Zürich – Betroffene erinnern sich
Mittwoch, 5. März, 19.30 Uhr:
Offene Drogenszenen – Grabenkämpfe und die Suche nach neuen Lösungen
Noch bis 9. März, Eintritt frei.
Photobastei, 3. Stock, Kabinett
Sihlquai 125, 8005 Zürich
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