Der Januarlöchler

Der Januarlöchler, Foraminis januaris, gehört zur Gattung der hinterhältigen Schlupfkrabbler. Er ist ein typischer Kulturfolger und hat sich vor allem auf dicht besiedelte Gebiete spezialisiert.

In Zürich kommt er, glaubt man Gastronomiebetrieben, mit Ausnahme des Südhanges des Zürichbergs so ziemlich überall vor, sogar in Höngg. Grün Stadt Zürich, sonst um keine Statistik verlegen, kann oder will leider keine genaueren Auskünfte erteilen. Januarlöchler sind sehr scheue Wesen. Eigentlich kennt man von ihnen nur ihre leeren Hinterlassenschaften. Es macht stutzig, dass es dem Fotografen dieser Rubrik, der sonst jedes Lebewesen irgendwie vor die Linse bekommt, nicht gelungen ist, eine Aufnahme von ihm zu liefern. Deshalb ist hier nur das ungenaue, aus Erinnerungen an überraschende Beobachtungen entstandene Modell abgebildet.
Bekannt – wenn auch nur aus logischen Schlussfolgerungen – ist hingegen das Paarungsverhalten der Januarlöchler. Als typische Hermaphroditen, also Zwitter, treffen sie sich in der Vorweihnachtszeit. Früher bedeutete dies Anfang Dezember, doch in den letzten Jahren – und dies nicht unter dem Einfluss des Klima-, sondern des Ökonomiewandels – verlagerte sich die Paarungszeit: Bereits Anfang November treffen sich die ersten Januarlöchler-Paare. Als Balzplatz galten traditionell Kaufhäuser und Gaststätten, neuerdings werden die Balzrituale vermehrt im Internet beobachtet. Noch unveröffentlichte Studien spekulieren, dass dies letztlich den Tod der Löchler bedeuten könnte, da sie durch ihr Verhalten ihren Wirt selbst, den Homo sapiens, in seinem Fortbestehen bedrohen. Was für die Kurzsichtigkeit der Löchler sprechen würde, die nun zuerst in einem rauschähnlichen Zustand eruieren, wer die Eier legen wird. Als Eiablagestelle werden ausschliesslich Geldbeutel oder Bankkonten gewählt. Dort legt das als Weibchen gewählte Individuum exakt 31 Eier ab. Nun aber tritt zuerst eine für eierlegende Lebewesen einmalige Keimruhe (Dormanz) ein, das bedeutet, dass die befruchtete Eizelle sich erst zeitverzögert zum Embryo weiterentwickelt. Verschiedene Tierarten greifen zu diesem Trick der Natur, weil dann, wenn sie Zeit für die Paarung haben, das Futterangebot nicht reichhaltig genug für die Jungenaufzucht ist. Beim Januarlöchler entwickeln sich die Embryonen erst nach dem 25. Dezember. Um die Überlebensrate zu steigern, hat sich der Januarlöchler im Verlauf seiner evolutionären Entwicklung eine weitere, einmalige Strategie zugelegt: Exakt am 1. Januar des darauffolgenden Jahres schlüpft der erste Löchler und danach, bis Ende Monat, jeden Tag ein weiterer. Jeder einzelne frisst sich restlos durch den Geldbeutelinhalt «seines» einzigen Lebenstages und stirbt, sobald ihm die Nahrung ausgeht. Erst jene Foraminis januaris, die nach dem 25. Januar schlüpfen, leben lang genug, um Geschlechtsreife zu erreichen, da nach diesem Datum wieder etwas mehr Bargeld in die Geldbeutel gelangt. Diese sechs Januarlöchler einer Brut sind es, die nun bis Ende Oktober in einer Negativzinsstarre verharren werden, um dann, gelockt vom Duft der Festtagsumsätze, wieder zu erwachen und den Zyklus des Lebens erneut zu starten.
Ein faszinierendes Wesen, diese sagenumwobenen Januarlöchler. Wirklich schade, dass es keine Aufnahmen von ihnen gibt. Versuche, einen Januarlöchler mit der Schuldenfalle zu fangen, sind bislang übrigens alle gescheitert.

Fredy Haffner
(In Vertretung seiner Schwester Dr. Marianne Haffner, die leider an überraschendem Schreibstau (scriptum oppilatio) leidet. Wir wünschen gute Besserung)

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