Herausforderung Kinderheim

Das Wohn- und Tageszentrum Heizenholz geht seit einigen Jahren neue Wege in der Jugend- und Elternarbeit. Im Zentrum steht die Einbindung der Eltern in den Alltag der Kinder und Jugendlichen, was – wo gewünscht – eine spätere Rückkehr erst ermöglicht.

Das Wohn- und Heizenholz betreut bis zu 34 normalbegabte Kinder und Jugendliche in vier verschiedenen Wohngruppen.
In den Wohngruppen wird selber gekocht und am grossen Esstisch zusammen gegessen.
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Am Rande der Stadt und am Ende von Höngg liegt das Wohn- und Tageszentrum Heizenholz. Eröffnet wurde es 1972 als sogenannte Jugendsiedlung, seit 2000 gehört es zur Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime. Nach einer zweijährigen Umbauphase wurde es vor neun Jahren neu eröffnet. Auf dem Areal befinden sich drei zweigeschossige Häuser, die sogenannten «Einfamilienhäuser», ein höheres Gebäude mit der öffentlichen Kinderkrippe, der Kinderwohngruppe und Büroräumlichkeiten, sowie ein unabhängiges Mehrgenerationenhaus der Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1. Wer noch nie in einem Kinderheim war, stellt es sich vielleicht so vor wie in den Filmen, die im 19. Jahrhundert spielen. Doch in der ehemaligen Jugendsiedlung ist es weder düster noch unheimlich, die Gemeinschaftsräume der vier Wohngruppen sind hell und freundlich eingerichtet, ein grosser Esstisch steht gleich vor einer offenen Küche, an der Wand hängt ein Kalender, der anzeigt, wann welches Kind hier, im Sporttraining oder bei seinen Eltern ist. Denn es ist nicht so, dass der Kontakt zwischen Eltern und Kind durch den Übertritt ins Heim abbricht – im Gegenteil: Die Zusammenarbeit mit, und die Einbindung der Mütter oder Väter sind zentrale Elemente der Neuausrichtung des Heizenholz’. «Elternaktivierung» heisst das Schlüsselwort. «Früher war es so, dass die Familien zusammen mit den Kindern auch die Verantwortung für sie im Heim abgeben mussten. Die Sozialpädagoginnen und -pädagogen trafen alle Entscheidungen, es wurde einfach angenommen, dass die Eltern dazu nicht in der Lage seien, und dass die Kinder und Jugendlichen es bei Fachleuten besser hätten», erklärt Felix Ochsner, Leiter Fachstelle Pädagogik und Projekte, der seit 2004 im Heizenholz tätig ist. Damit wurden die Eltern zwar entlastet, aber nicht dazu motiviert, sich selber zu engagieren. So war es meistens so, dass zum Beispiel die Begleitung der Hausaufgaben durch das sozialpädagogische Personal übernommen wurde, und man gar nicht daran dachte, die Mutter oder den Vater dabei einzubinden. Weil dadurch der Kontakt weniger wurde, entfernten sich die Familienmitglieder voneinander, eine Rückführung wurde immer unwahrscheinlicher – «und war früher, wenn wir ehrlich sind, auch nicht vorgesehen. Die Eltern hatten es ja nicht geschafft, waren aus Sicht der Fachleute für die Situation verantwortlich», erzählt Ochsner. «Wir hatten als Heim das Gefühl, wir müssten Maximallösungen produzieren, dabei sollte man sich auf das Machbare konzentrieren. Vor ein paar Jahren haben wir realisiert, dass das so nicht funktioniert: Man kann die betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht einfach rausnehmen, <reparieren> und wieder zurück in die Familie schicken. Also machten wir uns auf die Suche nach anderen Ansätzen. Dabei stiessen wir auf das erwähnte Elternaktivierungsmodell. Das hat uns überzeugt, seither versuchen wir diese neue Denkweise bei uns umzusetzen».

Platzierung als erster Schritt für Veränderung

Einfach war das nicht: «Wir mussten eine 180-Grad-Wende im Denken absolvieren, von der Rolle der <allwissenden> Sozialpädagogen zu selbstkritischen Begleiterinnen, die auch einmal die Eltern um Rat fragt», erzählt Ochsner. «Sozialpädagoginnen und -pädagogen verstehen sich oft als <Macher>, die alles im Griff haben. Sich da zurückzunehmen und vor allem auch daran zu glauben, dass die Eltern selber einen Teil der Verantwortung übernehmen können, ist nicht einfach. Da fällt man schnell in alte Muster, wir sind da auch noch am Lernen. Aber wir sind überzeugt, dass es Dinge gibt, die wir als Betreuungspersonen nicht leisten können, die Eltern aber schon, einfach, weil sie die Familie sind». Wenn jemand ins Heim komme, läge das selten daran, dass er oder sie per se schwierig sei, oder die Eltern unfähig seien, sondern meist sei es das Resultat einer Kombination aus verschiedenen ungünstigen Begebenheiten: Möglicherweise ist das Kind in der Schule in eine seltsame Rolle gerutscht und stürzt ab, oder es kriegt zu Hause von den Eltern nicht das, was es wirklich braucht, weil es spezielle Bedürfnisse hat. «Unsere Idee ist, dass der Eintritt in unser Wohn- und Tageszentrum ein erster Schritt für eine Veränderung sein kann, und eine Voraussetzung für eine mögliche Rückkehr in die Familie. Das ist insofern ein etwas spezieller Ansatz, als dass es in der Jugendhilfe sonst so ist, dass eine Heimplatzierung meist als letzte Möglichkeit wahrgenommen wird. Dann glaubt man, sie selber sei die Lösung. Wir gehen aber davon aus, dass wir eben nicht die Lösung sind, sondern ein Ort, an dem man an einer Lösung arbeiten kann». Oft helfe es nämlich schon, eine räumliche Distanz zwischen Eltern und Kind herzustellen, damit beide die Möglichkeit erhalten, einmal durchzuatmen und eine andere Sichtweise einzunehmen. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigten tatsächlich, dass sich die Aufenthalte verkürzt hätten, sagt Ochsner. Dass ein Kind acht oder zehn Jahre bleibe, könne zwar vorkommen, sei aber nicht mehr die Regel.

«Die anderen Kinder haben einfach mehr Glück»

Anna* zum Beispiel verbringt jedes Wochenende bei ihrem Vater und ihrer Schwester. Die Zwölfjährige ist gerade von der Kinderwohngruppe Kappa in die Wohngruppe Zeta für Kinder und Jugendliche umgezogen. So genau weiss sie nicht mehr, wieso die Eltern sie vor sieben Jahren hierherbrachten, nur daran, dass es oft Streit gab zu Hause und dass der Vater sie ständig anschrie, erinnert sie sich noch. Das blonde, zierliche Mädchen verschwindet fast in ihrem schwarzen Sitzsack. Das Zimmer ist nicht dekoriert, «aber zu Hause hängen in meinem Zimmer überall ZSC-Plakate», erzählt sie. Von Montagmittag bis Donnerstagabend lebt sie im Heizenholz und geht in Höngg zur Schule. Am Donnerstagabend fährt sie jeweils nach Oerlikon ins Training – seit sechs Jahren ist sie leidenschaftliche Eiskunstläuferin. Danach bleibt sie über das Wochenende bei ihrem Vater. Mit ihm läuft es inzwischen besser, sie besuchen oft zusammen die Spiele der ZSC Lions im Hallenstadion, und wenn er sich über den Spielverlauf ärgert, geht er für ein paar Minuten raus an die frische Luft, um sich zu beruhigen, erzählt Anna. Die Eltern haben sich getrennt, sie und ihre Schwester sind beim Vater in ihrem alten Zuhause geblieben. Wenn der Sozialdienst, der die Familie zu unterschiedlichen Tageszeiten besucht und auch schon mal zum Einkaufen mitgeht, einen guten Bericht abgibt, darf sie zu «99.9 Prozent im Sommer wieder ganz zu ihnen zurückziehen», hat ihr Vater gesagt. Der Entscheid der KESB soll im April eintreffen. Eigentlich gefällt es ihr gut in Höngg. In der Schule hat sie eine beste Freundin – oder «BFF», wie sie es nennt – und viele Kolleginnen, «und auf dem Schulweg kenne ich eigentlich jeden, dem ich begegne», erzählt sie. Die Reaktionen darauf, dass sie ein «Heimkind» ist, seien völlig unterschiedlich, manche fänden es blöd, anderen sei es egal, ihre Freundinnen interessiere es dafür total. Sie habe auch kein Problem damit, darüber zu sprechen, nur nicht in der Öffentlichkeit, wenn es alle hören könnten. Ansonsten beschäftigen sie dieselben Dinge wie andere Jugendliche in ihrem Alter: Die «Ämtli», die alle Mitbewohnenden im Haushalt übernehmen müssen, findet sie nicht so toll, am wenigsten das Kochen. Am besten sei noch das Entsorgungsämtli, das wähle sie eigentlich immer. Manchmal nerven die Erwachsenen, manchmal die anderen Jugendlichen in der Wohngruppe. Manchmal aber auch gar nicht. Sie will die Sekundarschule besuchen, weil sie neben dem Gymi keine Zeit mehr für das Schlittschuhlaufen hätte. Ihre fünf Jahre ältere Schwester hat ihr geraten, sich jetzt schon zu überlegen, was für einen Beruf sie einmal lernen möchte, sie hat sich für Tiermedizinische Praxisassistentin mit Berufsmatur entschieden, «damit ich mich später noch zur Tierärztin weiterbilden kann». Und wieso nicht gleich studieren? Da müsse sie ja noch zwölf Jahre zur Schule gehen und könne nicht von zu Hause ausziehen, meint sie. Denn selbstständig ist die Zwölfjährige schon: An einem freien Mittwochnachmittag fährt sie manchmal allein in die Stadt oder ins Glattzentrum, «zum Shoppen», wie sie stolz erzählt. Aber sie freut sich, wenn sie endlich ganz zu ihrer Familie zurückziehen kann. «Die Kinder, die zu Hause leben können, haben einfach mehr Glück. Ihre Eltern sind für sie da. Hier im Heim haben viele keine Eltern mehr, oder diese haben keine Zeit für sie».

Nicht zu viel abnehmen

Wie realistisch ist es wirklich, dass sich Eltern aktiv einbringen können, um die Situation für sich und die Familie zu verändern? Gibt es nicht einen Grund, einen Moment der totalen Überforderung, der dazu führt, dass man seine Kinder weggibt? «Das ist tatsächlich ein Knackpunkt», sagt Ochsner. «Es gibt zwei grundsätzliche Ausgangssituationen, die dazu führen, dass jemand zu uns kommt: Entweder interveniert jemand von ausserhalb, zum Beispiel die KESB, dann haben die Eltern keine Wahl. In diesem Fall können wir den Eltern aber helfen, die Auflagen der Behörde zu erfüllen, damit das Kind oder der Jugendliche allenfalls wieder nach Hause kommen kann. Im zweiten Fall merken die Beteiligten selber, dass es nicht mehr geht, weil sie beziehungsmässig, finanziell, gesundheitlich oder sozial am Limit sind, und suchen Hilfe. Tatsächlich fühlen sie sich überfordert, sie wissen nicht, wie sie mit dem Problem umgehen sollen. Wir versuchen, dort anzusetzen und gemeinsam mit ihnen einen anderen Zugang zu finden. Das ist natürlich leichter gesagt, als getan. Dass das schwierig ist, rechtfertigt aber noch lange nicht, eine Platzierung einfach als Dauerlösung zu installieren und sie nicht mehr zu hinterfragen», meint Ochsner bestimmt. «Stattdessen versuchen wir, den Eltern nicht zu viel abzunehmen und sie in Alltagsfragen wirklich zu involvieren. Das bedeutet auch, dass wir so oft wie möglich mit ihnen in Kontakt sind und sie auch aktiv anfragen, ob sie zum Beispiel vorbeikommen können, wenn ihr Kind krank ist oder Ähnliches». Es bedeutet aber auch, dass es bei acht Kindern in einer Wohngruppe, neben den Hausregeln, die für alle gelten, acht individuelle Abmachungen gibt, zum Beispiel über Handynutzung oder Freizeitgestaltung. «Es bewährt sich sehr und macht den Betrieb lebendiger, ist aber auch ein sehr hoher Anspruch an die betreuenden Mitarbeitenden. Die individuelle Betreuung erfordert mehr Aufmerksamkeit und Flexibilität, da kann man schon auch mal an seine Grenzen stossen», gibt der Leiter Fachstelle Pädagogik und Projekte zu.

«Ich möchte bis zum Ende meiner Lehre hierbleiben»

Nicht immer ist jedoch der Kontakt zu den Eltern erwünscht. Rafael* hat den Kontakt zu seinem Vater vorläufig abgebrochen, seine Mutter sieht er alle 14 Tage. «Das stimmt so für mich», sagt der 15-Jährige, der vor zwei Jahren hierherkam und sich anfangs lieber in sein Zimmer zurückzog, als in der Gruppe zu sitzen. Zu Hause war alles zu viel geworden: Der strenge Vater mit den hohen Erwartungen, der Druck an der Schule und das tägliche Streiten belasteten den Jungen so sehr, dass er in der Schule Dampf ablassen musste und seinen Frust an anderen ausliess. Wenn man Rafael gegenübersitzt und ihm zuhört, wie er leise spricht und seine Worte mit Bedacht wählt, kann man sich nicht vorstellen, dass dieser schmale, junge Mann einen Wutausbruch haben könnte. Da passt schon eher, dass er sagt, dass er seine Eltern nie beleidigen oder ihnen widersprechen könnte. Seit er hier lebt, ist der innere Druck von ihm abgefallen, er explodiert nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit und hat gelernt, wie man mit Konflikten umgeht. «Hier wird auch nicht ständig etwas von mir erwartet, im Gegenteil: Die Leute unterstützen mich bei den Hausaufgaben und zeigen Verständnis, wenn ich mal einen schlechten Moment habe. Sie lassen mich dann auch mal ein «Ämtli» unterbrechen und ins Zimmer gehen, um es am nächsten Tag fertig zu machen». Gegen die Aufgaben im Haushalt hat der Jugendliche grundsätzlich nichts, immerhin zeige es, dass man Verantwortung übernehmen könne. Ausserdem lerne man richtig zu putzen, meint der junge Erwachsene. Als 15-Jähriger darf er bis 22 Uhr draussen bleiben, am Wochenende sogar bis Mitternacht, «ich bleibe aber oft im Heizenholz, es ist gemütlich und ich verstehe mich gut mit den anderen Jugendlichen hier, wir können alles zusammen besprechen». Dennoch vermisst er manchmal die Nachmittage, an denen sich die ganze Grossfamilie bei einer Tante zum Essen traf. «Die Sozialpädagoginnen und -pädagogen im Heim sind nett und schauen zu uns, ohne sich aufzudrängen, das finde ich gut. Aber als Familie würde ich sie nicht bezeichnen. Das ist etwas Anderes, aber das ist ok für mich», sagt der Junge. Wichtig für ihn sei jetzt, dass er sich auf sich selber konzentrieren könne. Obwohl er niemand sei, der gross vorausplane, müsse er sich langsam um eine Lehrstelle kümmern. Chemielaborant will Rafael werden, in Mathe und Chemie ist er gut. Die Suche ist nervenaufreibend und setzt ihn etwas unter Druck, deshalb hat er beschlossen, das 10. Schuljahr zu absolvieren, um sich etwas mehr Zeit zu verschaffen. Im Sommer verschickt er seine erste Bewerbung. Auch das gehört dazu: Er hatte in den letzten zwei Jahren dringendere Themen, die ihn beschäftigten. Rafal wirkt schon sehr reif und bei sich angekommen, er hat auch kein Problem damit, anderen zu sagen, dass er in einem Heim lebt: «Das ist nichts, wofür man sich schämen muss», meint er und zieht kurz die Augenbrauen hoch. Seine älteren Freunde hätten sich sogar für ihn gefreut, weil sie seine Situation zu Hause kannten. Die neueren Kollegen reagierten schon etwas erstaunt und hätten viele Fragen. «Ich habe ihnen erklärt, dass es etwa so sei, wie in einer eigenen WG mit anderen Jugendlichen zu wohnen», sagt er. Vielleicht wird sich Rafaels Verhältnis zu seinem Vater irgendwann einmal wieder verbessern. Zurückkehren wird er aber wohl nicht: «Ich möchte solange wie möglich hierbleiben, am besten, bis ich meine Lehre abgeschlossen habe», meint der junge Mann.

Kein Schubladendenken

Angesprochen auf die mögliche Stigmatisierung von Heimkindern, muss Felix Ochsner kurz nachdenken. Es sei schwer zu beurteilen, wenn man selber Teil der Institution sei. «Wir bemühen uns, nicht in diesen Kategorien zu denken, also die Gründe für die Platzierungen nicht einfach auf Begriffe wie «schwererziehbar», «verhaltensauffällig» oder «soziale Unterschicht» zu reduzieren. Das sind Sackgassen, die ausschliessen, dass sich die Situation positiv entwickeln kann. Und wir halten an unserer Überzeugung fest, dass sich Familienkonstellationen verändern können».

Durch alle Maschen gefallen

Wohl ein «Opfer» dieses Schubladendenkens, wenn auch auf eine ganz andere Weise, wurde Alice Meier, die ihren richtigen Namen nicht in einer Zeitung lesen will. Ihr mittlerer Sohn, nenne man ihn Manuel, lebt zurzeit in der Aussenwohngruppe Omega in Wiedikon. Auch ihre Tochter wohnte eine Weile dort, ist mittlerweile aber zum Vater gezogen. Doch bis die Familie die Hilfe bekam, die sie so dringend benötigte, vergingen Jahre und es geschahen Dinge, die vielleicht hätten vermieden werden können. In ihrer grosszügigen Wohnung sitzt Alice Meier auf einem Sofa mit schwarzweissem Blumenmuster, unter dem Fenster steht eine elegante Longchair, kleine dekorative Details verraten die kreative Ader der Frau, die nun rasch und eloquent ihre Leidensgeschichte erzählt, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Alles will sie erzählen, weil es ein Tabu ist, wer gibt schon seine Kinder weg? Das geschieht nur in anderen Familien. Aber gerade ihr ist es passiert, ihr, die so gar nicht ins Schema derer passen will, «denen sowas geschieht». Und genau das war das Problem.

Alles hatte so gut angefangen, sie heiratete einen Schweizer, den sie liebte, von dem sie aber wusste, dass er kein 08/15-Typ war, er war zu diesem Zeitpunkt bereits depressiv. Doch sie selber hatte auch schon eine Menge erlebt mit ihrer eigenen Familie und war entsprechend auch nicht gerade eine gewöhnliche Frau. In kurzem Abstand kamen drei Kinder zur Welt, ein Mädchen und zwei Jungen. «Sie waren gesund und gefrässig», erinnert sich die Mutter mit einem Lachen, «aber auch intelligent und fordernd». Anfangs blieb der Ehemann zu Hause und schaute zu den Kindern, während sie bei einem angesehenen Arbeitgeber mit einem 50%-Pensum weiter arbeitete. Was anfangs ganz gut ging, forderte mit der Zeit ihren Tribut. Im Nachhinein ist sie überzeugt, dass beide mit der Familiensituation überfordert gewesen waren. Die Schweizerin mit tschechischem Ursprung hatte keine Verwandten in der Schweiz, die ihr Rückhalt hätten geben können, als ihr Mann sich weigerte, seine Depression medizinisch zu behandeln. Sein Wohlbefinden hing von nun an alleine davon ab, wie gut sie ihn behandelte und seine Wünsche erfüllte – eine Erpressungsmasche, die sie aber mitspielte, wie sie heute einsieht. «Ich habe das alles zugelassen, das war mein Fehler. Ich hätte uns früher Hilfe holen sollen». Ihr schwaches Selbstwertgefühl, das sie von der eigenen Familie mitbekommen hatte, machte sie zum leichten Opfer. Er drohte ihr damit, dass er nicht auf die Kinder aufpassen würde, wenn sie nicht machte, was er verlangte. Wenn sie ihn ignorierte, wurde er noch wütender, schlug sie, auch vor den Kindern. Schliesslich eskalierte es. Eines nachts riss er sie an den Haaren aus dem Bett und bedrohte sie mit einem Messer – vor den Augen der Kinder. Schon vorher hatte er regelmässig damit gedroht, sie umzubringen, wären da nicht die Kinder. «Aber erst in diesem Moment glaubte ich ihm das wirklich». Als die Polizei einrückte, war auch jemand dabei, der sicherstellen sollte, dass die Kinder nicht verwahrlost waren. «Sie waren erstaunt, als sie sahen, dass jedes Kind einen eigenen Arbeitsplatz hat und es in der Wohnung sogar Bücher gibt. Wir entsprechen einfach nicht den Standartkriterien, die von den Behörden und Fachstellen üblicherweise erwartet werden». Das führte wahrscheinlich auch dazu, dass sie solange nicht ernstgenommen wurde, respektive von ihr erwartet wurde, dass sie das Problem schon alleine gelöst kriegen würde. Alice klagte ihren Mann schliesslich an, die Richter sprachen ihn wegen Unzurechnungsfähigkeit frei, gewährten ihm aber weiterhin ein Aufsichtsrecht. «Die Kinder, damals drei, fünf und sieben Jahre alt, waren völlig traumatisiert», erzählt Meier.

Wo ist das Problem?

Endlich machte sie sich auf die Suche nach professioneller Hilfe, klapperte Kinderpsychologen, Soziale Dienste und die KESB ab, wurde auch in der Schule vorstellig und erzählte ihre Geschichte. Dabei stellte sie schnell fest, dass es nicht sehr gut ankommt, wenn man offen über häusliche Gewalt spricht und: dass ihr nicht geglaubt wurde. «Sie begutachteten meine Kinder und fragten, <wo liegt das Problem? Sie sind unauffällig, gut in der Schule, ordentlich erzogen>. Das stimmte auch: Wenn wir das Haus verliessen, hielten alle die Fassade einer funktionierenden Familie aufrecht. Sobald jedoch die Tür unserer Wohnung hinter uns in Schloss fiel, brach das Chaos aus». Die Kinder, vor allem der mittlere Junge, spielten die Gewaltszenen der Erwachsenen nach. Und: «Im Stress schlug ich meine Kinder», sie spuckt den Satz fast aus. Sie weiss, das kommt nie gut an, aber wieso es nicht zugeben, wem nützt die Lüge? Doch niemand reagierte. Sie erhielt keine Entlastungsperson, arbeitete weiterhin 50 Prozent, und musste irgendwie die Schulden ihres Mannes abstottern. «Ich verdiene gut, aber es reichte einfach nicht. Ich wollte eine Sozialpädagogische Begleitung, wie sie anderen manchmal aufgezwungen wird, aber ich sollte sie selber bezahlen». 2010 endlich wurde sie eingeleitet, aber die Diagnose lieferte keine neuen Erkenntnisse: Sie seien eine atypische Familie. Nach sechs Monaten zog das Mädchen mit zehn Jahren zu ihrem Vater. «Das Verhältnis zu ihr war sehr schwierig, deshalb brachte die Distanz zwischen uns etwas Erleichterung. Sie wusste, dass sie in der Verantwortung stand, wenn es um das Thema Gewalt gegen die Kinder ging. Nur die Gewalt ihres Mannes ihr gegenüber wurde von den Stellen nie thematisiert, obwohl diese den Anfang der Negativspirale gebildet hatte.

Endlich passiert etwas

Irgendwann griff die trockene Alkoholikerin, die 22 Jahre lang keinen Tropfen angerührt hatte und auch jetzt nicht mehr trinkt, zur Flasche. Obwohl es etwas besser lief, war sie nach jahrelangem Kampf zermürbt und kaputt. Als die Tochter nach einiger Zeit wieder zurückkommen wollte, ahnte die Mutter, dass sie Hilfe brauchen würde, doch ihre Beiständin hatte keine Zeit, wegen angeblichen Personalengpässen vor Weihnachten. «Im Sozialzentrum schickte man mich zur Polizei, das wollte ich nicht. Zurück in der Wohnung erzählte ich es den Kindern, daraufhin griff meine Tochter selber zum Hörer. Da endlich passierte etwas. Auf einmal standen alle da und wollten etwas tun. Der Junge kam für eine Auszeit in den Florhof, eine Art Kriseninterventionszentrum für Kinder, die Tochter folgte wenig später auch. Inzwischen hatte aber das Betreibungsamt die Pfändung eingeleitet, weil sie die sozialpädagogische Begleitung nicht fristgerecht bezahlt hatte. «Bei mir haben alle diese Auffangmechanismen nicht gegriffen, ich fiel durch alle Maschen und war am Ende selber fix und fertig». Die Tochter geht mittlerweile in eine Lehre, die Situation hat sich etwas entspannt. Manuel, der sensible der drei Kinder, schaffte es ins Frühgymi, wo er sich auch wohl fühlte, aber im zweiten Jahre fiel er in eine Krise und verschloss sich vor der Welt, blieb der Schule fern. «Da hat die Beiständin, die wir nun seit ein paar Jahren haben, sehr gut reagiert. Er wollte sich selber aus dem ganzen Rummel rausnehmen, also ging er ins Heizenholz, in die Wohngruppe Omega, die liegt gleich neben der Schule, die er besuchte. Er repetierte ein Jahr am Gymnasium und ist nun am Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Gymi, wo es – seine Worte – auch noch andere «Nerds» wie ihn gäbe. Der früher verschlossene Jugendliche fühlt sich offensichtlich wohl dort. Nach seinem Auszug hatten sie anfangs nur wenig Kontakt, aber sie war immer überzeugt, dass er eines Tages zu ihr zurückkehren würde. «Das sozialpädagogische Personal von Omega hilft uns dabei. Wir machen jetzt zum Beispiel ein Probewohnen, alle zehn Tage übernachtet er einige Male hier hier, und wir besprechen es jedes zweite Mal mit der Wohngruppe. Mittlerweile steht das Datum fest: Mitte August soll er nach Hause kommen. Er ist viel selbstbewusster geworden, hat viel gelernt in der Wohngruppe, das ist sicher auch das Verdienst der Sozialpädagoginnen und -pädagogen, die ihn dort betreut haben. Dennoch ist sie nicht immer einverstanden mit den Gepflogenheiten im Kinderheim. «Manchmal muss man einfach durchgreifen und sagen, <Stopp, so nicht Maitli>, und nicht nur fragen <wie hast du die Situation jetzt so erlebt?>, wenn jemand Mist macht», meint die Frau, die weiss, dass sie unbequem sein kann und fordernd. Wenn sie mit einer Behandlung nicht einverstanden ist, sagt sie das auch deutlich. Mittlerweile geht es Alice sehr gut. Sie habe gelernt, sich besser abzugrenzen sei viel ausgeglichener und entspannter. «Das Familien- und Berufsleben meistere ich gut und habe auch Freude daran, ich bin froh, dass ich fast nie aufgegeben habe. Das merkt auch mein ganzes Umfeld», meint sie zum Abschied.

Auch das ist etwas, mit dem die Mitarbeitenden des Wohn- und Tageszentrums Heizenholz umgehen können müssen. Auf die Vorgeschichte der Familie und die Entscheidungen vor der Platzierung haben sie keinen Einfluss, ihre Arbeit beginnt danach und ist ein sich ständig entwickelnder Prozess. Sie können versuchen, den betroffenen Menschen unvoreingenommen zu begegnen und die Bedürfnisse abzuschätzen, eben nicht in Kategorien zu denken, sondern die einzelnen Personen ernstzunehmen, auch die Eltern. Eine grosse Herausforderung.

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