Grosse Solidarität – doch reicht sie bis zum Schluss?

Am Montag war es soweit: Die ersten Dienstleistenden konnten ihren Betrieb wiederaufnehmen. Wie ist es ihnen in den vergangenen Wochen ergangen? Und wie lange ist der Atem derjenigen noch, die bis im Mai ausharren müssen?

Der Herren-Coiffeur Michele Cotoia freut sich, endlich wieder seiner Passion nachgehen zu können.
Fusspflegerin Jacqueline Falk mit Maske: «Sehr gewöhnungsbedürftig».
Schuhmacher Ilija hofft, seinen Laden bald wieder öffnen zu können.
Seit Montag sind auch Sehtests und Kontaktlinsenanpassungen wieder möglich.
Wenn «Die Pest» wieder ausverkauft ist.
Die (Wald-)Spielgruppen mussten schliessen und erhielten erst spät Nothilfe.
1/6

Ein erster Schritt in die Normalität wurde diesen Montag, 27. April, mit der Öffnung von Coiffeur-, Massage- und Kosmetikstudios sowie Baumärkten, Gartencenter, Blumenläden und Gärtnereien gemacht. Am 11. Mai sollen auch alle anderen Läden wieder Kund*innen empfangen dürfen. Die Lockerungen werden durch Schutzkonzepte begleitet, je nach Branche in Form einer Pflicht oder einer Empfehlung, Masken zu tragen.

Keine Hilfe bei der Beschaffung von Masken

An den Tag vor dem Lockdown wird sich Jacqueline Falk immer erinnern: «Es war mein Geburtstag», erzählt die Fusspflegerin am Telefon. «Ich hatte Besuch und gerade auf die anstehenden Ferien angestossen, als bekanntgegeben wurde, dass ab Montag alles geschlossen sei». Statt in die Ferien fuhr sie am nächsten Tag ins Geschäft, holte ihre Agenda und fing an, die Termine für die kommenden vier Wochen abzusagen. Geholfen haben ihr in dieser Zeit der starke Rückhalt ihres Mannes und ihrer Familie, die immer da war und sie finanziell unterstützen würde, wenn es nicht mehr ginge. «Ich erhalte zwar glücklicherweise die Beiträge der Stadt für Selbstständige, aber wenn man ehrlich ist, ist der Betrag zu hoch, um zu sterben, und zu niedrig, um zu überleben», sagt Falk. Verbittert ist sie nicht, zu gross ist die Solidarität, die sie in diesen Zeiten von ihren Kund*innen erlebt: «Zwei meiner Kundinnen haben mir eine Überraschung in den Briefkasten gelegt», sagt sie dankbar. Viele würden ihr aufmunternde Nachrichten schreiben und versprechen, nach dem Lockdown sofort wieder zu einer Behandlung zu kommen. Dieses Versprechen haben sie nun eingelöst: Seit der Bund die erste Lockerung ausgesprochen hat, klingelt das Telefon ohne Pause. Die kommenden zwei Wochen sind bereits komplett ausgebucht. «Es sind Zehn-Stunden-Tage, aber jetzt muss ich die verlorene Zeit aufholen». Bevor sie ihr Studio wieder öffnen konnte, musste sie erst Masken und Desinfektionsmittel beschaffen, kein einfaches Unterfangen, wie sich herausstellte. Vom Branchenverband kam bislang keine Unterstützung, die Selbstständigen mussten sich im Internet und bei ihren Lieferanten die nötigen Materialien irgendwie zusammenkaufen. Solange es kein zweites Lockdown gibt, werde sich ihr Geschäft wieder erholen, zeigt sich Falk zuversichtlich. «Das Wichtigste ist meiner Meinung nach immer noch, dass wir gesund bleiben, den Humor nicht verlieren und liebe Menschen um uns herum haben.

Auch die Coiffeursalons dürfen wieder Kunden empfangen, mit entsprechenden Schutzmassnahmen und nur auf Reservation. Michele Cotoia ist Frisör, seit er 15 Jahre alt war. Er empfing seine Kunden in Höngg all die Jahre immer ohne Termin. Dass dies nun nicht mehr so sein soll, ist schwer zu akzeptieren, für manche Kunden, aber vor allem für Cotoia selber. Doch gerade in seinem Fall ist es überlebenswichtig, dass die Schutzmassnahmen eingehalten werden: Der Coiffeur ist selber ein Risikopatient, sein Herz machte ihm schon oft zu schaffen. Von seiner Passion, dem Haareschneiden, kann ihn aber niemand abbringen. Also hält er sich daran: Gearbeitet wird mit Maske und Handschuhen, beim Bartschneiden montiert der Frisör zusätzlich eine Art Visier aus Plexiglas, weil der Kunde die Maske ja ablegen muss. «Die Masken und die Desinfektionsmittel zu beschaffen, war ziemlich schwierig», erzählt Cotoias Tochter Cristina. Und das Material sei sehr teuer. Glücklicherweise habe ihr Vater Kurzarbeit anmelden können und die Vermieterin sei ihm mit der Miete entgegengekommen, «das ist extrem grosszügig und hat den finanziellen Schaden abgefedert», sagt die Tochter, die selber Immobilien verkauft. Wie das Geschäft anlaufen wird, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. «Unsere Kunden reagieren sehr unterschiedlich auf die Öffnung: Für manche kommt sie zu früh, sie trauen sich noch nicht, so engen Kontakt mit anderen Menschen zu haben». Wieder andere hätten sich in der Not eine Glatze geschnitten – das Los des Herrencoiffeurs.

Reicht der Atem noch?

«Es geht nicht gut». Jet Schneider wartet noch immer auf die Beiträge der Stadt, für eine Angestellte konnte er Kurzarbeit beantragen. Das Geld ist aber noch nicht da. Die Miete für sein Geschäft – eine städtische Liegenschaft – konnte er aufschieben, ganz erlassen wird sie ihm aber nicht, er wird sie später in Raten zurückzahlen müssen. «Am Anfang konnte ich noch Aufträge erledigen, die vor der Schliessung reingekommen waren, jetzt heisst es für mich nur noch warten», meint der Schneider niedergeschlagen. Er versteht die Vorsichtsmassnahmen. Dennoch ist ihm nicht klar, wieso Haareschneiden und Kosmetik möglich sind, er aber einzelne Kund*innen in seinem Geschäft nicht empfangen darf.
Schuhmacher Ilija Filipovic, der seinen kleinen Laden an der Regensdorferstrasse betreibt, hat in den vergangenen Wochen seine Ersparnisse aufgebraucht, um sich über Wasser halten zu können. Nun will er sein Geschäft sobald wie möglich wieder öffnen. «Die Schuhgeschäfte sind geschlossen. Meine Kundschaft kauft nicht im Internet ein, sie ist darauf angewiesen, dass sie ihre Schuhe reparieren lassen kann», meint der Mann mit den grossen Händen. Ihm ist es wichtig, sich nicht zu verschulden, deshalb hat er auch grosszügige Angebote seiner Kund*innen dankend abgelehnt. «Wenn ich jemandem Geld schulde, kann ich nicht ruhig schlafen», meint er und lächelt verlegen.

Mieterlass nicht überall selbstverständlich

Optiker durften in den vergangenen Wochen eigentlich Terminvereinbarungen machen. «Eigentlich», denn, so Tiziana Werlen von He-Optik: «Sehtests und Linsenanpassungen waren nicht erlaubt, einzig Reparaturen waren gestattet». Das bedeutet: Wenn jemand mit einer kaputten Brille zu ihnen ins Geschäft kam, mussten für die Gläser die alten Brillenwerte genommen werden, selbst wenn sich die Sehleistung der Person verschlechtert hatte. «Mit anderen Worten: diese Öffnung war eine Alibiübung», meint Werlen enttäuscht. «Wir haben dies für unsere und auch auswärtige Kundschaft dennoch sehr gerne gemacht», fügt sie hinzu. Der finanzielle Einbruch seit dem 16. März liegt beim Optikergeschäft bei 80 Prozent. Die Fixkosten sind es, die den Geschäften jetzt das Genick brechen können: Für die Angestellten konnte zwar Kurzarbeit beantragt werden, aber für die Miete für Geschäft-, Lager- und Büroraum von 5000 Franken im Monat fehlt das Geld. «Wir haben unserer Vermieterin geschrieben, dass wir im April nur die Hälfte der Kosten bezahlen können», seither warte man auf ein konstruktives Gespräch und hoffe auf Verständnis. Glücklicherweise konnten die Lieferungen, die bereits im Januar an einer Messe bestellt worden waren, gestoppt werden, storniert jedoch nicht. «Das heisst, diese Kosten werden später noch auf uns zukommen», sagt Werlen. Das gilt ebenso für Kredite, die aufgenommen werden, ein Grund, wieso viele dies wenn möglich vermeiden wollen. Das bedeutet: Auch wenn die Geschäfte wieder öffnen, ist die Krise noch lange nicht überstanden. Bis mindestens Ende Jahr müssen alle ihren Gürtel enger schnallen. Die Familie versucht das Loch aus ihrem privaten Vermögen zu decken, so gut es geht. Werlen arbeitet ohnehin ohne Lohn im Geschäft ihres Mannes, dafür können sie eine junge Optikerin und zwei Lehrlinge beschäftigen, eine Förderung, die ihr persönlich sehr am Herzen liegt. Trotz allem bleibt die gelernte MPA immer noch zuversichtlich und zählt auf die Solidarität der Höngger Bevölkerung. Ab dem 11. Mai will He-Optik den Normalbetrieb wiederaufnehmen, in welcher Form dies geschehen wird, hängt von den verhängten Massnahmen ab.

Wenn «Die Pest» ausverkauft ist

Schwer vorzustellen, aber Bücher gehören nicht zur «lebensnotwendigen Grundversorgung». Die noch junge Buchhandlung im Quartier, Kapitel 10, traf die Corona-Krise schon vor der angeordneten Schliessung durch den Bundesrat. Es begann rund zwei Wochen vorher, als immer mehr Kunden dem Laden fernblieben. «Insbesondere ältere Menschen waren, aus nachvollziehbaren Gründen und völlig zu Recht, fast nicht mehr im Kapitel 10 anzutreffen», erzählt Inhaber Andreas Pätzold. Dank Online-Shop und grosser Flexibilität werde er die eigentliche Schliessung mit einem blauen Auge überstehen, meint er aber. «Ich habe in der Zeit seit dem 17. März unglaublich viel Wertschätzung der Höngger*innen gespürt. Viele waren froh um den kostenlosen Lieferservice, haben Gutscheine für die Zeit der Wiedereröffnung gekauft, im Bekanntenkreis und in der Nachbarschaft vom Kapitel 10 erzählt und mit dieser Mund-zu-Mund-Propaganda mitgeholfen, dass ich neue Kund*innen gewinnen konnte», so Pätzold. Häufig sei es ihm gelungen, Bestellungen noch am gleichen Tag auszuliefern. Diese prompte Belieferung habe sich schnell herumgesprochen. «Da jede Krise auch eine Chance ist, habe ich die Zeit der Schliessung genutzt, um die Planung des Herbstprogrammes voranzutreiben». Spannend sei zu sehen, was Menschen in solchen Zeiten lesen: «Wer hätte noch vor einigen Monaten gedacht, dass ein Klassiker wie Albert Camus <Die Pest> auf einmal wieder ausverkauft und kurzzeitig nicht mehr lieferbar sein würde».

Durch die Maschen gefallen

Wenig erfreulich waren die vergangenen Wochen für Spielgruppen: Diese erhielten im Gegensatz zu den Kitas und Tagesfamilien keine Finanzierung ihrer Ertragsausfälle. «Dies, weil es sich bei Spielgruppen um nicht bewilligungspflichtige Angebote handelt, die keine Kontraktvereinbarungen mit uns haben und zum Beispiel keine subventionierten Plätze anbieten können», sagt Heike Isselhorst, Leiterin Kommunikation des Sozialdepartements der Stadt Zürich, auf Anfrage. Im Gegensatz zu den Kitas, die gemäss Bundesrat zu den systemrelevanten Betrieben gehören und ihre Leistungen weiterhin anbieten müssen, wurden die Spielgruppen im Kanton Zürich geschlossen. Dies, obwohl Dr. Koch vom BAG im Freien spielende Kinder als unbedenklich eingestuft hatte. Erst am 16. April kommunizierte der Bundesrat, dass auch die bisher nicht berücksichtigten Betriebe Nothilfe beantragen können. Viviane Lauer, Geschäftsführerin der Waldspielgruppe Wurzelstufe Höngg, hat dies sofort gemacht, denn ihre Situation war mittlerweile prekär. Die Zahlungen sind noch ausstehend. Der Kontakt mit den Kindern wurde weiterhin mit Geschichten, Fotos und Briefen aufrechterhalten. «Zum Glück gibt es Eltern, die uns weiterhin unterstützen», sagt Lauer. Lauer findet es ungerecht, dass kleine und offenbar nicht wirtschaftsrelevante Betriebe erst so spät und so wenig Unterstützung erhalten. «Ich hätte mir vom Bund erhofft, dass er sein Versprechen, dass niemand zu kurz kommen werde, einlöst».

Keine einheitliche Meinung im Gastgewerbe

An seiner Medienkonferenz vom 16. April liess der Bundesrat das Thema Restaurants unerwähnt, ein Umstand, der in der Gastroszene für Unmut sorgte. Gastrosuisse habe dem Bundesrat ein Konzept zukommen lassen, wie die Gastro-Betriebe wieder öffnen könnten. Darauf wurde nicht eingegangen. Am Sonntag dann ein erster Lichtblick: Bundesrätin Simonetta Sommaruga machte Hoffnung, dass erste Betriebe möglicherweise bereits ab dem 11. Mai teilweise geöffnet werden könnten. Diesen Mittwoch, nach der Produktion der Zeitung, wird sich der Bundesrat zu diesem Thema im Detail äussern. Nicht alle Restaurantbetreibende sind für eine sofortige Öffnung mit reduziertem Betrieb: Die Fixkosten sind hoch, die Margen tief, wenn nur ein Drittel des Umsatzes erwirtschaftet werden kann, bringt das manche Betriebe ebenfalls in Schwierigkeiten. Wie die Höngger Gastronomen auf die Vorschläge des Bundesrates reagieren werden, ist Bestandteil eines zukünftigen Artikels in der Höngger Zeitung.

Die Krise ist auch mit der Öffnung noch lange nicht vorbei

Die Wahrnehmung der Zeit war in den vergangenen Wochen paradox: Einerseits verliefen die Entwicklungen rasant, wer konnte, passte nach dem Lockdown im Eiltempo seinen Online-Auftritt an. Während manche vor der Krise den Onlinehandel eher als Feind wahrnahmen, mussten sie sich nun gezwungenermassen damit auseinandersetzen. Gleichzeitig fand in Teilen der Gesellschaft eine Entschleunigung statt, Spaziergänge durch das Quartier machten wohl so manchen erst bewusst, was es in Höngg alles zu finden gibt. Da die Öffentlichen Verkehrsmittel gemieden werden sollten, kaufte man vermehrt wieder lokal ein. Es sei eine grosse Solidarität zu spüren, hörte man immer wieder im Gespräch mit Höngger Geschäftsführer*innen. Diese Rückbesinnung auf das Lokale, die in anderen Ländern bereits etwas weiterentwickelt ist, hat sich in den vergangenen Wochen verstärkt. Ob es gereicht hat, dieses Verhalten zu verinnerlichen, damit es auch nach der Öffnung weitergelebt wird, oder ob man bald wieder dazu übergeht, bei den grossen Geschäften in der Stadt einzukaufen, wird sich zeigen. Für die Gewerbetreibenden wäre es überlebenswichtig, dass die Solidarität der Höngger Bevölkerung anhält, denn die Krise wird nach dem 8. Juni mit der kompletten Öffnung noch lange nicht vorbei sein.

0 Kommentare


Themen entdecken