Armut
«… und schon zweimal unehelich geboren…»
Wer als arm galt, das war auch früher eine Frage der Definition. Und wie man mit Armut gesellschaftlich umging war eine Frage des gerade herrschenden Zeitgeistes. Ein Blick in die «Armengeschichte» von Höngg zeigt dies schön auf – und führt vor Augen, dass Armutsrisiken sich im Wandel der Zeit gleichen.
30. Mai 2018 — Fredy Haffner
Steuerdaten waren, wie heute auch noch, so schon früher mehr oder weniger verlässliche Quellen, um zu erfahren, wie gut es den Bürgerinnen und Bürgern einer Gemeinde geht. Oder früher ging. So zeigt auch die «Ortsgeschichte Höngg» (OGH) anhand von Steuerdaten des Jahres 1467 auf, dass sich «in Höngg eine Beobachtung einer Oberschicht und einer deutlich abgesetzten Unterschicht» nicht nachweisen lässt. Doch «sicher gab es Arme und Reiche», so die OGH, «diese lebten aber offenbar nicht in klar geschiedenen Klassen». Die eigentliche Armenfürsorge war in jener Zeit eine Aufgabe der Kirche. Im frühen Mittelalter galt die Regel, dass ein Viertel der Einnahmen des Zehnten, welche an die Kirchgemeinde flossen, den Armen zu Gute kommen sollte. Doch erst die Reformation brachte im Zürcher Gebiet mit der Almosen-Ordnung von 1525 eine dauerhafte Regelung.
Bettlerjagden und Bettlerfuhren
Eine seltsame Art der «Fürsorge» waren die sogenannten «Bettlerjagden» oder «Bettlerfuhren». Um die Bettler loszuwerden, wurden diese kurzerhand eingesammelt und zur Gemeindegrenze geführt. Kranke, gehunfähige Bettler wurden in die Stadt ins Spital gefahren – wenigstens hätte man dies tun sollen, doch die Höngger beliessen es oft dabei, diese «Kunden» einfach an der Grenze zu Wipkingen abzuladen. Sollten doch die Nachbarn schauen. Die Höngger wurden für dieses Tun regelmässig verurteilt. So klagten 1626 die Wipkinger über das Tun der Höngger, und der Zürcher Rat gab ihnen Recht: die Höngger sollen ihre Bettler bis zum Spital führen und nicht in Wipkingen abladen. Das Urteil wurde 1694 bestätigt, was zeigt, dass die Höngger dem Urteil von 1626 wohl keine nachhaltige Beachtung geschenkt hatten.
Parallelen zu heute
In die andere Richtung, von der Stadt auf das Land, wurden Arme mit Brotlieferungen unterstützt. Erste Hinweise darauf gibt es gegen Ende des 16. Jahrhunderts und bis 1839. Das Almosenamt in Zürich unterstützte Bedürftige auf dem Land, also auch in Höngg, zudem mit Geld oder Winterkleidern. Für das Jahr 1590 sind in Höngg fünf Erwachsene und 23 Kinder vermerkt, die zu Brot kamen und «wenig später» 15 Erwachsene und über 30 Kinder. Der Rat von Zürich liess ihnen wöchentlich elf Viertel Brot liefern.
Im Hungerjahr 1692 hatten die Pfarrer der Landschaft ihre «Sozialfälle» dem Zürcher Almosenamt zu melden. Der Höngger Pfarrer meldete 23 «Almosengenössige», sieben weitere, die nur Winterkleider bezogen und 14 Personen, «die sich nicht mehr durchbringen mögen». Zürich lieferte daraufhin wöchentlich 43 Brote für 21 Empfänger und zur Verteilung an sieben Empfänger monatlich 11 Pfund 5 Schilling Bargeld. An 21 Personen wurden 48 Paar Schuhe, 13 Paar Strümpfe und ein Unterrock verteilt.
«gutmütig, leichtsinnig, ab 1875 Wittwer, gebrechlich, sank er mehr und mehr ins Trinken, und ward arbeitsunfähig»
Interessant und mit deutlichen Parallelen zu heute noch armutsgefährdete Personengruppen ist, was über die Bezüger dieser Gaben vermerkt wurde: Elf Frauen, deren Männer «entlaufen» waren, zwei davon in ausländische Militärdienste. Ferner vier Ehepaare, neun Witwen, zwei Wittwer und je zwei alleinstehende Frauen und Männer. Und auch die Scham, Hilfe entgegen zu nehmen, war damals schon gegeben. Zumal zum Beispiel die Brote in der Kirche, öffentlich, abzuholen waren: 1804 wurde auch für einen Jakob Grossmann wöchentlich ein Brot zugeteilt, dann aber wieder abgeschrieben, weil er zu stolz gewesen sei, es abzuholen.
Ab 1871 führte Pfarrer Weber einen «Armenrodel», ein Verzeichnis, das 16 und später bis zu 74 Personen auflistete. Dabei fügte er jedem Namen eine kurze Charakterisierung an. So über einen Kaminfeger, dass dieser «gutmütig, leichtsinnig, 1875 Wittwer, gebrechlich, sank er mehr und mehr ins Trinken, und ward arbeitsunfähig». Die OGH nennt auch ein Beispiel dafür, wie hart es bei der Armenpflege zugehen konnte: 1902 hatte «Jungfer» Elise Notz vor der Armenpflege zu erscheinen, wo man ihr vorwarf, einen leichtsinnigen Lebenswandel zu führen und schon zweimal unehelich geboren zu haben. So könne es nicht weitergehen, wurde befunden, und man steckte sie für drei Jahre in das «Asyl für gefallene Mädchen Refuge». Wie die OGH lakonisch vermerkt «mit durchschlagendem Erfolg», habe sie doch erst anderthalb Jahre nach ihrer Entlassung aus dem Asyl ihr drittes Kind zur Welt gebracht.
Ein Brauch hielt sich bis heute
Doch drehen wir das Rad der Geschichte zurück ins Jahr 1667. Damals wurde auf dem Land eingeführt, was in der Stadt schon seit 1525 Brauch war: Nach dem Gottesdienst wurden beim sogenannten «Säcklein-Aufheben» beim Kirchenausgang an einer Stange befestigte Beutel jedem hingehalten. Daraus entwickelte sich die heute noch übliche Kollekte. Für 1795 wurde festgehalten, dass zwei Drittel des «Säckli-Gutes» für «Tischgelder, Kleider-, Arzt und Leichenkosten», also Armenunterstützung, dienen solle. Der letzte Drittel ging mutmasslich ins Kirchengut.
Seit mindestens 1769 führte der Pfarrer in Höngg eine Rechnung über das «Almosengut». Um 1799, mit Anfang der Revolution, setzte man einen Armenpfleger ein, doch bereits vier Jahre später übernahm der Pfarrer wieder dieses Amt.
Von der Kirche zum Staat
Nur langsam und über einen Zeitraum von fast 80 Jahren wurde die Armenfürsorge von der Kirche gelöst. 1831 übernahm wieder ein «Armenpfleger» der Gemeinde die Rechnungsführung, zuständig blieb aber der «Stillstand», eine Vorläuferbehörde der heutigen Kirchenpflege: Schon seit 1525 wurden in jeder Kirchgemeinde zwei bis vier Männer bestimmt, die nach der Predigt nicht gleich weggingen, sondern «stillstanden», daher der Name, um Verhandlungen zu führen, wobei es allerdings meistens um Sittenvergehen ging.
Erst 1840, als sich die drei Gemeinden Höngg, Oberengstringen und Rütihof einen Dotationsvertrag aufsetzten und so das mit 16’932 Gulden dotierte Armengut äufneten, bekam der «Stillstand» einen festen Betrag, den er auch verwalten konnte. 1841 zählten 18 von etwas über 300 Höngger Haushaltungen als armengenössig. Doch Zinsen aus dem Armengut und «Säckli-Geld» reichten nicht aus und so erhob Höngg 1855 erstmals eine Steuer für das Armengut. So auch 1874, 1880 und dann, ab 1882, regelmässig.
Beiträge reicher Bürger
Es kam auch immer wieder vor, dass einzelne Bürger sich für die Armenpflege finanziell engagierten. Zum Beispiel Kaspar Appenzeller, der es vom armen Fischerknaben, aufgewachsen im Haus Am Wasser 87, in Seidenhandel und -fabrikation zum Millionär gebracht hatte. 1859 gingen die Geschäfte so gut, dass er beschloss, künftig zwei Drittel seines jährlichen Ertrags wohltätigen Zwecken zu widmen. Anlässlich der Hochzeit seiner ältesten Tochter begründete Appenzeller 1870 das «Spendgut», das vom Pfarrer verwaltet und nach eigenem Gutdünken eingesetzt werden konnte. 1874, allerdings in Brüttisellen, gründete er eine Erziehungsanstalt für Knaben, die sich mit der Fabrikation von Schuhen beschäftigte – daraus hervorgegangen ist später die Schuhfabrik Walder.
«1841 galten 18 von etwas über 300 Haushaltungen als armengenössig, 1955 erhob Höngg erstmals eine Steuer für das <Armengut>»
Auch das Pestalozzi-Denkmal an der Bahnhofstrasse wurde von Appenzeller gespendet – dies zwar kein direkter Beitrag an die Armen, doch eine Ehrung jenes Pädagogen und «Waisenvaters», der viel Zeit bei seinem Grossvater, Pfarrer zu Höngg, verbracht hatte. 1893 gründete der Höngger Posthalter Jakob Winkler den Armenverein, der um die 200 Mitglieder zählte und ähnlich wirkte wie das Spendgut. 1918 vermachte der in Höngg aufgewachsene und als Kaufmann in Alexandrien reich gewordene Jakob Albert Schmid-Wörner der Gemeinde Höngg 150’000 Franken, deren Ertrag für Alters- und Jugendfürsorge verwendet werden sollte – was bis heute in der Schmid-Wörner-Stiftung Höngg geschieht. Ein Artikel zu dieser Stiftung erscheint anlässlich deren 100-Jahr-Jubiläum im «Höngger» vom 14. Juni)
Von der Selbsthilfe zum Schrebergartenverein
1910 teilte sich in Höngg die Armenpflege auf: in die Kirchenpflege, die sich nicht mehr mit der Armenfragen beschäftigen musste, und in die Armenpflege der Gemeinde. Der erste Weltkrieg brachte der Armenpflege dann viele neue Aufgaben, da der «Lohnausgleich», die Hilfeleistung für Wehrmänner und ihre Familien, erst im zweiten Weltkrieg eingeführt wurde. So gab es von 1914 bis 1916 eine «Mietnotkommission», die bei Schwierigkeiten mit Vermietern verhandelte und sich um Zuschüsse von den Heimatgemeinden Bedürftiger bemühte. Diese Kommission ging später in die «Hilfsstelle» über, die aus eigenen Quellen Hilfe leistete und allgemein Unterstützung der Heimatgemeinden vermittelte.
Ferner wurden in den Kriegsjahren eine Suppenküche betrieben und die Gemeinde Höngg gab ab 1915, als Hilfe zur Selbsthilfe, Pflanzland für Gemüse in Pacht ab – 1919 ging daraus der «Verein für Familiengärten Höngg» hervor.
1927 wurde das neue Armengesetz eingeführt, das die Zuständigkeit vom Heimatort weg zum Wohnort der Bedürftigen verlegte. Höngg gab so 31 «Fälle» ab, also Höngger Bürgerinnen oder Bürger, die in anderen Gemeinden wohnten, die Armenunterstützung aber bislang von ihrer Heimatgemeinde bezogen hatten. Gleichzeitig musste Höngg aber auch 28 Personen übernehmen, die aus anderen Heimatgemeinden kommend hier wohnten und nun neu von Höngg versorgt werden mussten. Bereits sieben Jahre später, 1934, wurde Höngg von der Stadt Zürich eingemeindet – die Fürsorge ist seither Sache der städtischen Instanzen, wenn auch verschiedene Höngger Institutionen weiterhin engagiert sind.
Quelle
Ortsgeschichte Höngg, Georg Sibler, sowie in verschiedenen «Mitteilungen der Ortsgeschichtlichen Kommission des Verschönerungsvereins Höngg, erhältlich im Infozentrum des «Hönggers» am Meierhofplatz 2 oder im Ortsmuseum Höngg, Vogtsrain 2.
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