Stadt
Gelebte Integration im Schulhaus Vogtsrain
Die Integration von Kindern, die aus verschiedensten Gründen bis anhin nicht in Regelklassen unterrichtet wurden, löst bei allen Beteiligten gleichermassen Befürchtungen aus. Im Schulhaus Vogtsrain ist vor zwei Jahren in der Unterstufe ein Pilotprojekt gestartet.
9. Juli 2009 — Fredy Haffner
Die Idee, Kinder mit «besonderen Bedürfnissen» – so der offizielle Sprachgebrauch – in Regelklassen zu integrieren, ist nicht hausgemacht, sondern die Konsequenz aus der 1994 von der Schweiz mitunterzeichneten «Salamanca-Resolution» der Unesco. Diese fordert unter anderem eine gesetzliche Anerkennung des Prinzips der integrativen Pädagogik, die alle Kinder in Regelschulen aufnimmt – ausser es gäbe zwingende Gründe, dies nicht zu tun. «Dies bedeutet», so sagt Klassenlehrer Stefan Mäder, «man versucht Kinder mit besonderen Bedürfnissen in ihrem Wohnquartier zu integrieren. Doch die Ressourcen müssen klar abgeklärt sein, sonst funktioniert es nicht. Ist das gewährleistet, so entstehen auch den Regelklasse-Kindern durch diese Form der Integration keine Nachteile.»
«Ich finde es toll, dass wir Behinderte haben, sonst ist es langweilig.» Alex, 8 Jahre
Vor bald zwei Jahren sind Mäder und die Heilpädagogin Leila Sela mit 16 Kindern einer Regelklasse und vier Kindern der Heilpädagogischen Schule (HPS) mit Wahrnehmungsoder geistiger Behinderung in das Pilotprojekt gestartet. Seither wird die Integration gelebt. «Das war ein Prozess für alle», sagen beide Lehrkräfte unisono. Doch genau betrachtet seien die Unterschiede zur konventionellen Regelklasse gar nicht so gross und je länger je weniger sichtbar: «Es geht so oder so ein halbes Jahr, bis sich eine Klasse gefunden hat», sagt Stefan Mäder und Kollegin Sela ergänzt: «Die Kinder hier mussten aber zuerst lernen, dass gewisse ihrer Mitschüler anders sind, sich anders verhalten – und was das im Alltag bedeutet.» Mittlerweile hat man sich aneinander gewöhnt.
«Ich finde es schön, dass wir mit der ganzen Klasse eine Theatervorstellung gemacht haben.» Zoe, 8 Jahre
Auch Stefan Mäder musste lernen und umdenken, denn plötzlich stand er nicht mehr alleine vor der Klasse. Damit veränderte sich sein Berufsbild. Es beginnt, sich mit jenem des Heilpädagogen zu durchmischen. Bis anhin wurde die Rollenteilung aber noch relativ strikt gelebt. Doch das Ziel ist klar: Die Abgrenzung soll aufgeweicht werden. «Eine Unterscheidung zwischen Lehrer und Heilpädagogin stigmatisiert die Kinder, mit denen ich arbeite», sagt die Heilpädagogin, «mich haben sie teils auch ‹verweigert›, denn ich war für sie die Verkörperung der ‹Behinderung›. Wenn ich mit einem Kind arbeitete, dann hiess das: Dieses Kind ist behindert.»
«Jeder kann in seinem Tempo lernen.» Lucie, 7 Jahre
Auch die Didaktik musste der neuen Situation angepasst werden. «Man kann nicht gleich unterrichten, wenn Kinder etwas kognitiv nicht gleich verstehen», betont Mäder. Jede Schulstunde beginnt mit einem gemeinsamen Einstieg ins Thema. Danach wird in Niveaugruppen gearbeitet. Im Unterschied zu seinen bisherigen Regelklassen gibt es hier, je nach Situation, fünf anstelle von drei Schwierigkeitsgraden. «Wir ermöglichen individuelle Lernziele», sagt Sela, «wichtig ist uns der gemeinsame Anfang und Abschluss der Schulstunde. Dazwischen lernt oder produziert jedes Kind entsprechend seinem Entwicklungsstand und seinen Bedürfnissen.» Und Mäder ergänzt: «Ich habe Kinder, die dividieren und multiplizieren schon jetzt bis 1000 und denen stelle ich auch Aufgaben in diesem Bereich.»
«Wir können gegenseitig voneinander lernen.» Miguel, 8 Jahre
Gerade in Lernzielen gründen viele Ängste der Eltern, die sich fragen, ob ihr «normales» Kind in einer Integrationsklasse nicht zu kurz komme. Mäder kann beruhigen, die Lernziele seien bisher alle gut erreicht worden. «Und zudem», fügt er an, «auch bei Regelklassen ist bei Schul eintritt die Bandbreite des Vorwissens sehr gross. Die einen können bereits lesen und rechnen, die anderen noch nicht.» Mäder ist kein Schönredner, die Ängste der Eltern nahmen er und Sela immer sehr ernst. Im ersten Schuljahr fanden zwei Elternabende statt, Chancen wurden aufgezeigt und Ängste und Befürchtungen thematisiert. Mitgeholfen hat sicher auch, dass die Pilotklasse durch eine Studie der Universität Freiburg begleitet wird, die den Nutzen der Integration für alle Kinder untersucht.
«Mich freut es, dass wir auch Behinderte in der Klasse haben, weil sie auch nett sind, auch wenn sie manchmal stören.» Linda, 8 Jahre
Wie aber steht es mit Spötteleien unter den Kindern, wenn ein sogenannt «normales» Kind von seinem Können her trotzdem in der Niveaugruppe mit Behinderten arbeiten muss? Da herrsche Nulltoleranz, sagen beide Lehrkräfte: Wenn so etwas auftaucht oder gar gelacht wird, dann wird das angesprochen und unterbunden. Auch im wöchentlichen Klassenrat ist das Thema Behinderung oft präsent. Dort wird über alles gesprochen und die Kinder nehmen sich gegenseitig ernst. Das ist etwas, das, ganz dem Ziel der Salamanca-Resolution entsprechend, auch ausserhalb der Schule Früchte tragen und auch dort zur Integration von behinderten Kindern beitragen soll. Im Schulhaus Lachenzelg ist dies dem Vernehmen nach gelungen. Eigentlich müsste dies auch in einer erhöhten Sozialkompetenz der Kinder feststellbar sein, doch die Begleitstudie misst diesen «weichen» Faktor nicht. Subjektiv betrachtet sind Mäder und Sela aber vom positiven Einfluss überzeugt. Rückmeldungen anderer Lehrkräfte hätten zudem gezeigt, dass die Kinder der Integrationsklasse besser und mit einem differenzierteren Vokabular kommunizieren als Gleichaltrige.
«Ich habe viele neue Freunde gefunden.» Noëmi, 9 Jahre
Alles scheint zu funktionieren. Mögliche Schwierigkeiten auf dem Weg zu einer flächendeckenden Einführung der Integrativen Schule liegen in den Rahmenbedingungen: Diese Form des Unterrichts bedingt mehr Personal-, Raum- und Materialressourcen – und die Klassengrösse muss angepasst sein. Das Zürcher Volksschulamt sieht maximal 22 Kinder vor. Das klingt nach einem diametralen Widerspruch zu den realen Entwicklungen im Schulwesen, denn Integrationsklassen sind keine Sparmassnahmen, sondern allenfalls eine Ressourcenverschiebung. Nicht nur im finanziellen Bereich, sondern auch im personellen sind Anpassungen gefragt: Die Anforderungen an die Lehrkräfte steigen an allen Fronten, nun sollen sie auch noch mit Kindern der HPS in der Regelklasse arbeiten – selbst wenn sie sich einst bewusst gegen eine Ausbildung im heilpädagogischen Bereich entschieden hatten. Das Berufsbild verändert sich, entziehen kann sich dem niemand.
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