Quartierleben
Gedankenreisen mit der «Stillen Post»
Am letzten Sonntag lud das Forum Höngg zu einer literarischen Soirée mit Urs Widmer in den Fasskeller der Weinkellerei Zweifel. Er las aus seinem jüngsten Buch «Stille Post» und überzeugte mit äusserst vielschichtigen Texten.
1. November 2012 — Dagmar Schräder
Freie Plätze gab es am Sonntagabend im Fasskeller trotz der schlechten Witterungsverhältnisse keine mehr: Über 50 interessierte Hönggerinnen und Höngger hatten den Weg durch den Schnee gefunden und begrüssten gemeinsam mit den Organisatoren François und Yves Baer den Schriftsteller Urs Widmer zu diesem literarischen Abend. Der 74-jährige gebürtige Basler lebt und arbeitet seit 1984 in Zürich und ist wohl nicht nur einer der bekanntesten, sondern auch einer der vielfältigsten zeitgenössischen Autoren der Schweiz. Nachdem er zunächst als Lektor tätig gewesen war, verfasste er 1968 seinen ersten Roman «Alois» und hat seither eine umfangreiche Sammlung an Essays, Romanen, Theaterstücken, Kolumnen sowie Übersetzungen veröffentlicht.
Schreiben produziert Glück
Was er denn am liebsten schreibe, fragte ihn Yves Baer angesichts der Fülle seines Repertoires und Widmer antwortete: «Am liebsten schreibe ich – was es ist, ist nicht so entscheidend.» Schreiben sei für ihn ein «Glücksherstellungsmechanismus» und ein nicht nur sinnlicher, sondern zuweilen gar erotischer Vorgang. Woran er momentan gerade arbeite, dass wollte er jedoch nicht ausführen. Sein nächstes Werk werde – nachdem er in jüngster Vergangenheit einige Theaterstücke geschaffen hatte – wieder einmal Prosa sein. Genaueres wollte er nicht bekanntgeben, ein unfertiger Text sei immer sehr fragil und zerbrechlich und könnte «zerredet werden, bevor er überhaupt fertig ist – und das wäre ja schade», erläuterte Widmer augenzwinkernd.
Skurrile Geschichten mit viel Sprachwitz
In der Folge las er drei Textstücke aus seinem 2011 erschienenen Buch «Stille Post», einer Sammlung verschiedener Prosastücke, die teilweise bereits an anderen Orten publiziert wurden. Zunächst begann Widmer mit einer Kurzgeschichte. «Reise nach Istanbul» ist die abstrakte und skurrile Reiseerfahrung eines Mannes, der mit Frau und Kind in einem Zug unterwegs ist und diesen an einem Bahnhof kurz verlässt, um Zigaretten zu kaufen. Den Weg zurück gibt es jedoch nicht mehr und so muss er eine abstruse Irrfahrt durch seine eigene Lebensgeschichte durchlaufen, um seine Familie schliesslich um Jahrzehnte gealtert wieder im Zug anzutreffen. Die temporeiche Aneinanderreihung alptraumhafter Sequenzen, atmosphärisch dicht beschrieben und mit viel Sprachwitz verfeinert, vermochte das Publikum gleich von Beginn an zu fesseln.
Im Dialog mit seinem vergangenen Alter Ego
Anschliessend präsentierte Widmer sechs ältere Textfragmente aus den späten 70er-Jahren, die in Vergessenheit geraten und erst kürzlich wieder aufgetaucht sind. Über 30 Jahre später hat Widmer sich nun selbst auf diese Texte geantwortet und führt dabei gewissermassen einen Dialog zwischen sich und seinem damaligen Alter Ego. Bissig und sarkastisch, auch zivilisationskritisch und mit einer gehörigen Portion Ironie kamen die Texte daher. Sie handelten etwa von der Sintflut, dem Jüngsten Gericht und Hiroshima, Tod und Verderben und der verlorenen Schönheit der Welt. Es bedurfte jeweils nur einiger weniger Sätze Widmers, um den Zuhörern ein ganzes Kaleidoskop an Bildern und Gedanken zu eröffnen und sie gehörig ins Grübeln zu bringen.
Grappa und schwatzhafte Tanten als versöhnlicher Abschluss
Ganz so nachdenklich konnte der Literat seine Zuhörerschaft denn doch nicht entlassen. «Von Moll nach Dur», so hatte Widmer zu Beginn angekündigt, würden sich die von ihm vorgetragenen Texte bewegen – und tatsächlich: Zum Abschluss seiner Lesung trug er mit «Grappa und Risotto» ein durch und durch erheiterndes Stück Familiengeschichte vor, in dem der Grappa das verbindende Element ist und deren Protagonisten diejenigen Verwandten sind, die in jeder Familie anzutreffen sind: die dicke Tante, die stumme Tante, die Tante mit den nassen Küssen und die jeweiligen dazugehörigen Onkel sowie Alma, die über jede und jeden zu berichten weiss, was in ihrem Leben gerade passiert. So viel redet sie, dass sogar der liebe Gott Angst davor hat, sie zu sich zu rufen und sie deshalb die meisten ihrer Familienmitglieder überleben lässt. Spielerisch hatte Widmer damit in nur einer Stunde seine Zuhörer vom Jüngsten Tag bis zu der schwatzhaften Tante Alma quer durch alle Facetten des menschlichen Lebens getragen. Vergnügt beendete er seine Lesung und gab dem interessierten Publikum beim anschliessenden Apéro die Gelegenheit, noch einige persönliche Worte mit ihm zu wechseln.
Urs Widmer verstarb am 2. April 2014 in Zürich
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