Gastbeitrag: Fliegerbomben auf Höngg vor 80 Jahren

Aufgrund eines tragischen Irrtums bombardierte vor 80 Jahren ein britisches Militärflugzeug die Stadt Zürich. Zwei Sprengbomben verwandelten am 22. Dezember 1940 ein Haus an der Höngger Limmattalstrasse in einen Trümmerhaufen.

Das durch Bomben zerstörte Haus an der Limmattalstrasse 23 in Zürich-Höngg, 22.12.1940.
Blick von Süden her auf das zerstörte Haus an der Limmattalstrasse 23 in Zürich-Höngg, 22.12.1940
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Gastbeitrag von Thomas Bürgisser

Nie schien die Kriegsgefahr grösser als im Mai 1940. Hitlers Feldzug gegen Frankreich hätte vor 80 Jahren auch über die neutrale Schweiz führen können. Die Angst war gross, die Armee stand bereit. Alles Land nördlich der Limmat wäre derweil nicht verteidigt worden. Bis Höngg und Wipkingen hätte man die Wehrmacht durchmarschieren lassen: Die Bunkerlinie der Felddivision 6 lag südlich des Flusses im Industriequartier und in Altstetten. Doch die Stadt Zürich wurde im Frühsommer 1940 nicht zum Schlachtfeld des Zweiten Weltkriegs.

Auch im Dezember 1940 konnte sich das Land allerdings nicht in Sicherheit wiegen. Allein Britannien kämpfte damals gegen Nazi-Deutschland und seine Verbündeten. Die Royal Air Force nutzte ihre Luftüberlegenheit, um nachts die deutschen und italienischen Industriestädte zu bombardieren. Im November führte auch die Schweiz die Verdunkelung ein. Ab 22 Uhr sollten alle Lichter gelöscht werden, um den britischen Bomberpiloten, insbesondere bei ihren Angriffen auf Ziele in Norditalien, nicht die Navigation zu erleichtern. In London führte diese Massnahme, die der Bundesrat neutralitätsrechtlich begründete, zu Befremden. Die Schweiz nehme ein erhöhtes Risiko in Kauf, irrtümlich von britischen Bomben getroffen zu werden und trüge dafür eine Mitverantwortung, beschied der britische Gesandte.

In der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember wurden die Stadt Basel und der Vorort Binningen bei hellem Mondlicht von britischen Flugzeugen überflogen und von rund 80 Spreng- und Brandbomben getroffen. Vier Menschen starben bei dem Angriff, der eigentlich der deutschen Stadt Mannheim gegolten hatte. Drastisch wurden der grenznahen Bevölkerung die Konsequenzen der Verdunkelung vor Augen geführt, wie der Historiker Thomas Bachmann schreibt. Kurz darauf traf es die Stadt Zürich – und auch Höngg.

Um 20.52 Uhr wurde am 22. Dezember Fliegeralarm gegeben. Die ersten zwei Sprengbomben fielen bereits drei Minuten vorher auf das Dreifamilienhaus der Eheleute Meier-Mötteli an der Limmattalstrasse 23, an der Grenze zu Wipkingen beim Eschergutweg. Die Ostseite des Gebäudes wurde von der Detonation völlig auseinandergerissen und stürzte vom Dach her ein. Beim Einsturz wurde eine Person getötet, wie sich auch Zeitzeugen in einem Artikel im «Höngger» vom 9. Oktober 2014 lebhaft erinnern. Dem Reporter der NZZ schilderte ein junger Mann, wie er an diesem Sonntagabend gemeinsam mit seiner Mutter mit dem Schreiben von Neujahrskarten beschäftigt war, als er plötzlich «durch den Luftdruck vom ersten Stockwerk in den Keller geworfen» wurde. Er blieb, wie weitere Bewohner*innen des Hauses, nur leicht verletzt und war mit dem Schreck davongekommen.

Wenige Minuten später kam es im Industriequartier bei der Josefstrasse sowie beim Wipkinger Viadukt zu Explosionen. Die Zahnräderfabrik Maag wurde von fünfzig Brandbomben getroffen. «Überall züngelten kleine Flammen aus dem gefrorenen Schnee und erhellten die Gegend auf Minuten hinaus taghell», berichtete die NZZ. Erst nach Mitternacht, als die Bergungsarbeiten schon im Gange waren, detonierte ein mit Zeitzünder versehener Sprengsatz beim Bahnviadukt und riss einen Arbeiter in den Tod.

Wie man heute weiss, hatte eine Vickers Wellington der Royal Air Force die Bomben irrtümlich über Zürich abgeworfen. Der Bomber war mit seinem Geschwader einen Angriff gegen die Motorenwerke Mannheim geflogen. Das schlechte Wetter zwang die Besatzung, nach einem Ausweichziel zu suchen. Dabei kam das Flugzeug vom Kurs ab und entlud seine zerstörerische Fracht schliesslich über dem hell erleuchteten Zürich.

Hartnäckig hielt sich das Gerücht, die Briten hätten vorsätzlich, sozusagen als Warnschuss, ein paar Bomben auf die Fabriken und Bahnanlagen Zürichs abgeworfen, weil die Schweiz wirtschaftlich eng mit dem «Dritten Reich» zusammenarbeitete. Dieses «offene Geheimnis» erwähnte jedenfalls eine Verena Zollinger von der Hönggerstrase 105 in Wipkingen in einer Zuschrift vom Januar 1941 an das Aussendepartement in Bern. Wenn die Schweizer Rüstungsindustrie Munition nach Deutschland liefere, «dann haben wir kein Recht mehr, gegen die Verletzung unserer ‹strikten Neutralität› zu protestieren, da wir ja gar nicht neutral sind». Die Engländer würden auch «um unsere Freiheit» kämpfen. Die Deutschen dagegen würden der Schweiz die Freiheit rauben wollen, so die engagierte Bürgerin.

Die Schweizer Militärbehörden glaubten anhand abgefangener Funksignale und der Seriennummern der Sprengkörper zweifelsfrei belegen zu können, dass britische Maschinen die Bombardements verschuldet hatten. Deshalb legte der schweizerische Gesandte in London, Walter Thurnheer, noch vor Weihnachten beim Foreign Office umgehend Protest ein. Unterstaatssekretär Butler und auch Aussenminister Anthony Eden drückten gegenüber dem Diplomaten ihr Bedauern aus. Allerdings wiesen sie darauf hin, dass die Untersuchungen über die Vorfälle in Basel und Zürich noch nicht abgeschlossen seien.

«Militärischerseits war man nämlich gar nicht ohne Weiteres bereit, die Verantwortung zu übernehmen», schrieb Minister Thurnheer nach Bern. Die Royal Air Force hatte bei den beiden Raids die beiden beteiligten Flugzeuge verloren und mit ihnen auch die Flugbücher. «Man hatte den Verdacht, es könnte eine deutsche Intrigue (sic!) im Spiele sein, konnte aber hierfür keine Belege beibringen», so der Gesandte. Trotz fortbestehender Ungewissheit anerkannte die «Regierung Seiner Majestät» am 16. Februar 1941 ihre Verantwortung an den Bombardements und verpflichtete sich zu einer Entschädigung für den Verlust von Menschenleben und Eigentum. Die Geste erfolgte unter expliziter «Berücksichtigung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern» und nicht ohne zu betonen, dass die «tragischen Vorfälle» im Zuge von Britanniens Kampf «für die Tradition der Freiheit und des Widerstandes gegen Tyrannei» erfolgt seien, «für welche die Schweizerische Eidgenossenschaft in früheren Zeiten die Vorkämpferin in Europa und in der Geschichte war».

Im Gegensatz zum Rest des Kontinents, der 1945 in Trümmern lag und Millionen Tote zu beklagen hatte, blieb die Schweiz vom Zweiten Weltkrieg weitgehend verschont. Insgesamt zählte die Armeestatistik 77 Bombenabwürfe über der Schweiz. Dabei kamen 84 Menschen ums Leben, fast die Hälfte davon beim ebenfalls irrtümlichen Angriff auf Schaffhausens am 1. April 1944 durch die amerikanische Luftwaffe. Höngg war an diesem 22. Dezember vor 80 Jahren vergleichsweise glimpflich davongekommen.

Quellen:
– Thomas Bachmann, Hans Rudolf Fuhrer: Alliierte Luftraumverletzungen im Zweiten Weltkrieg. Zürich 2014
– Neue Zürcher Zeitung vom 23.12.1940, Mittags- und Abendausgabe
– Schweizerisches Bundesarchiv, Dossiers E2001E#1967/113#1774* und E2001E#1967/113#1778*

Thomas Bürgisser ist Historiker, lebt in Höngg und arbeitet in Bern an der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis).