Quartierleben
Funktioniert die Idee der gewaltfreien Welt?
Im Rahmen der Elternbildungsreihe der Reformierten Kirche war Ron Halbright in Höngg zu Gast. Der ausgewiesene Fachmann für Gewaltprävention stellt sich dem Fragezeichen in dieser Titelzeile immer wieder.
24. März 2011 — Fredy Haffner
«Gewalt überall – und ich?», lautete der Titel der Veranstaltung am Mittwoch, 15. März, zu der Monika Golling, die Sozialpädagogin der Reformierten Kirche, die Anwesenden gleich mit dem offenen Bekenntnis begrüsste, dass sie es manchmal selbst kaum schaffe, die vielen Gesichter der Gewalt zu ertragen, und sich dann frage, wie wohl erst Kinder und Jugendliche damit umgehen. Die 19 Mütter und Väter im Publikum sahen sich mit ähnlichen Ungewissheiten konfrontiert, wie Ron Halbright von NCBI Schweiz (siehe Kasten) auf seine Frage nach der Motivation zum Besuch im Kirchgemeindehaus zu hören bekam: «Meine Kinder sind noch sehr klein, ich bin hier, um zu erfahren, wie sie bereits jetzt Stärke üben können», bekundete eine Mutter. Einen Vater trieb die Frage um, wie er dem rauen Umgangston – den die Kinder als normalen Alltag erleben – begegnen könne. Gemeinsam war vielen der Wunsch, besser entscheiden zu können, wann bei Konflikten unter Kindern eingegriffen werden sollte, und Verhaltensweisen zu lernen, um Konflikte besser auflösen oder gar verhindern zu können. Halbright sammelte, notierte und stellte dann ein rasantes Feuerwerk an Fragen zum ganz persönlichen Erleben oder Ausüben von Gewalt in der eigenen Kindheit und forderte auf, bei einer Bejahung kurz aufzustehen: «Wurden Sie wegen Ihrem Aussehen oder Ihrer Sprache gehänselt? Wurden Sie geschlagen? Haben Sie sich mit Ihren Geschwistern gerauft? Standen Sie bei einer Schlägerei unter den Zuschauern im Kreis oder waren Sie in der Mitte und machten mit? Haben Sie oft gerauft?» Lächelnd konstatierte er, dass auf die Frage, ob man mit seinen Geschwistern gerauft habe, viel weniger aufstanden als auf die Frage nach den Raufereien mit anderen. Nicht dass nur Einzelkinder im Saal gesessen hätten, doch hier wurde die erste Diskrepanz offenbar: Was wird überhaupt als «Gewalt» wahrgenommen? Raufereien unter Geschwistern offenbar nicht zwingend. So ernst das Thema sein mochte, die Einsicht in eigene Verhaltensweisen brachte oft ein Schmunzeln zu Tage und die Annäherung an das vermeintlich immer nur andere betreffende Thema wurde sofort persönlicher. Doch Ron Halbright beschwichtigte: «Sie brauchen Ihren Kindern ja nicht die schlimmsten Geschichten Ihrer Jugend zu erzählen, aber Offenheit tut gut.» Den Schwung mitnehmend, wurde zusammen festgehalten, was alles als Gewalt empfunden wird. Beleidigungen, Mobbing, Schuldzuweisungen, Liebesentzug, Vernachlässigungen, Selbstverletzungen, sexuelle, verbale oder Körpergewalt, Sachbeschädigungen und vieles mehr füllten schnell das Flip-Chart. «Und nun, wie ist das?», fragte Halbright die Runde, «gibt es auch gute Gewalt? » – «Strafen», kam die Antwort und die zusammengetragene Präzisierung, dass Strafen nur dann gut sind, wenn sie zur Einsicht führen, verhältnismässig, konsequent und nicht nachtragend sind. Über einen kleinen Schwenker, dass «Strafen» noch immer oft mit «Schlagen» gleichgesetzt werde, kam Halbright auf schlagende Kinder zu sprechen. Jedes Kind hat eine Phase, in der es zu schlagen beginnt. Oder es wird von anderen geschlagen. Doch es sollten zumindest Regeln befolgt werden. Stopp heisst Stopp. Klar sind Kinder damit oft überfordert – und gerade hier hätten Eltern gerne ein einfaches Universalrezept, wann ein Eingreifen angezeigt ist – doch ein solches, betonte Halbright, gäbe es nicht: «Reden Sie mit Ihrem Kind über die Formen der Gewalt – das Kind entscheidet schliesslich selbst, wann es Gewalt anwenden muss und wann nicht.» Das Konzept der Peacemaker an Schulen – Kinder, die darin geübt werden, bei Konflikten einzugreifen – haben gezeigt, dass es zentral ist, einen Streit «entziffern» zu können. Wie entwickelte sich ein Streit? Welche Motivation lag ihm zugrunde? Nicht zu richten ist das Ziel, sondern zu lösen und Verhaltensregeln festzulegen. Oft entwickelt sich ein Streit über verschiedene Stufen in einem Hin und Her der Konfliktparteien: Verbal begonnen endet er in handfesten Schlägereien. «In einer solchen Gewalt spirale», hält Halbright fest, «weiss niemand mehr, wer angefangen hat – nur noch, wer gerade dran ist.» Der Verlierer, der Geplagte, plagt darauf den Schwächeren – die Gewaltkette setzt sich fort. Schlimm wird dies für die sogenannten Sündenböcke. Sie bilden das Endglied verschiedener Gewaltketten und benötigen Hilfe, um aus dieser Rolle hinauszufinden. So dicht die Thematik, so schnell war auch die geplante Zeit des Abends vorbei. Und nie hätten alle Fragen beantwortet werden können. Der Umgang mit Gewalt aber, das hatte dieser Abend erneut gezeigt, ist ein lebenslanger Prozess: Eltern begleiten ihre Kinder – und stecken selbst mitten drin. In einem unscheinbaren Klammersatz hatte Ron Halbright die Idee einer gewaltfreien Welt erwähnt, die noch immer ihren Platz in den Köpfen der Menschheit suche. Wie realistisch sind diese Vorstellungen für einen, der sich tagtäglich mit den Formen der Gewalt beschäftigt? «Ich glaube noch nicht, dass eine Welt ohne Gewalt möglich ist, doch wie derzeit in einzelnen arabischen Ländern Regime weitgehend gewaltfrei zum Rückzug bewegt werden, das inspiriert mich», gab der Fachmann als Gedanken mit auf den Weg.
Zur Person
Der Pädagoge und Autor Ron Halbright, 54, wuchs in New York auf und lebt seit 20 Jahren in Thalwil. Er ist Co-Präsident des National Coalition Building Institute Schweiz (NCBI), eines konfessionell und parteipolitisch neutralen Vereins, der sich unter anderem für Gewaltprävention einsetzt (www.ncbi.ch). Ferner ist er Mitbegründer des «Netzwerks Schulische Bubenarbeit », einem Verein, der die geschlechtsbezogene Arbeit mit Buben und männlichen Jugendlichen in der Schule verstärken will. Weitere Informationen: www.nwsb.ch
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