«Es wird nicht geschlafen»

Unsere Redaktorin Dagmar Schräder schreibt über die grossen und kleinen Dinge des Lebens. Heute über die Erziehung zum Wachbleiben.

Symbolbild Freepik.com

Kürzlich war ich am späteren Nachmittag im öffentlichen Verkehr unterwegs. Neben mir reiste eine Mutter mit ihren beiden Kindern, das eine etwa sechs Jahre, das andere vielleicht zwei Jahre alt. Der Kleine sass im Kinderwagen, der grössere stand mit der Mutter daneben und plauderte in einem fort. Der Jüngere allerdings war nicht ganz so munter. Mit schweren Augenlidern blickte er um sich und es war klar, dass er kurz davor war, wegzudösen. Gemütlich und voll entspannt. Doch das passte seiner Mutter gar nicht: «Hey, es wird nicht geschlafen», ermahnte sie ihr Kind und rüttelte sanft am Kinderwagen. Der Sohn zeigte sich wenig beeindruckt, blinzelte matt, der Kopf begann sich langsam Richtung Brust zu senken.

Die Mutter wiederholte ihre Worte, strich ihm über den Kopf, versuchte es mit einem Gespräch: «Wollen wir draussen noch in den Sandkasten?», begann sie, und fuhr dann fort: «Oh, schau mal, ein rotes Auto». Der Kleine reagierte immer noch nicht, der Grosse dagegen wollte gerne mit ihr über die Sandkastenoption diskutieren. Doch die Mutter hatte keine Zeit für ihn, ihre Mission war es, das Wegdämmern ihres Jüngsten zu verhindern.

Aus sicherer Distanz beobachtete ich das Familiengeschehen, leicht belustigt, leicht befremdet. Natürlich ist es nervig, wenn der Sohnemann um 17 Uhr einschläft. Das bringt dann den ganzen Tages- und vor allem Nachtablauf komplett durcheinander. Nix mit elterlichem Feierabend und ungestörtem Abend. Verständlich, dass die Mutter da alle Hebel in Bewegung setzt, um dem Schlaf entgegenzuwirken.

Auf der anderen Seite empfand ich tiefes Mitleid mit dem kleinen Tropf. Denn ich kenne dieses Gefühl; diese übermächtige Müdigkeit, die einen plötzlich übermannt. Das ist dieselbe Müdigkeit, die mich immer vorm Fernseher ergreift. Da versuchen meine Kinder auch vergeblich, mich wachzuschütteln. Da hilft gar nix: Was schlafen muss, das schläft. Und die Qual, sich wachzuhalten ist immens. Ich erinnere mich an unzählige Schulstunden, in denen ich einen 45-minütigen Kampf gegen den Schlummer führte. Das war hart, sehr hart.

Und darum war ich bei der Szene versucht, mich einzumischen. Der Mutter zu sagen: «Lass das Kind schlafen». Aber das mache ich natürlich nicht. Mich in das Privatleben einmischen. Und dennoch. Soll er doch schlafen, wenn er müde ist. Das ist das Privileg der Kleinkinder. Sobald er in der normalen Tagesstruktur angekommen ist, kann er sich sowas nicht mehr erlauben. Und dann dauert es mit Sicherheit mehr als 60 Jahre, bis er sich diese Freiheit wieder rausnehmen darf.

Zum Glück hatte die Geschichte für alle Beteiligten ein Happy End: Bevor der Knabe endgültig ins Reich der Träume abglitt, war die Station erreicht, an der die Familie aussteigen musste. Mutter schob den Kinderwagen ins Freie, Bruder hüpfte raus. Und der Kleine sah einen Hund vorbeilaufen und war urplötzlich wieder hellwach.

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