Er macht aus Tabletten Kunst

Martin Baumann, 48, ist Kunstschaffender aus Höngg und stellt derzeit seine Videoinstallation «Life & Death» in Neuhausen aus. Dem «Höngger» erzählt er, warum die Kunst Fluch und Segen zugleich sein kann.

Der Künstler Martin Baumann in seinem Atelier. (Foto: zvg)
Ein Bild aus der immersiven Video-Show «Life & Death» (Foto: zvg).
In der Rhyality Immersive Art Hall. (Foto: zvg).
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Es geschah vor zwei Jahren und war purer Zufall: Eine Tablette fiel mir ins Wasserglas, die sich darin völlig entfaltete. Ich sah staunend zu, dieses Fliessende, das ich nicht steuern konnte, diese Farben und Formen. Es waren genau solche Bilder, die ich einfangen wollte. Also beschloss ich, weitere Tabletten aufzulösen und den Prozess zu filmen. Konkret sagt man dazu «Fluid Art». Die Bilder und Videos des französischen Künstlers Thomas Blanchard dienten mir als Inspiration.

Was sich simpel anhört, ist überaus aufwendig. Zunächst das Material: Seither habe ich über 2500 Pillen verbraucht. Die schönsten Aufnahmen entstanden definitiv aus Gelatinekapseln, häufig sind es auch Schmerzmittel. Zunächst plünderte ich meine Hausapotheke, später hatte ich die Gelegenheit, auf legalem Weg abgelaufene Tabletten zu erhalten. Die Zusammensetzung der Wirkstoffe spielt eine wesentliche Rolle, deswegen suchte ich den Kontakt zu Pharmafirmen. So konnte ich mir viel chemisches Wissen aneignen.

Für den eigentlichen Film baute ich mir ein kleines Studio mit einer Reprokamera. Die meisten Aufnahmen habe ich von oben her gemacht, die Tabletten lagen dann in einer quadratischen Box auf schwarzem Grund. Bei horizontalen Aufnahmen benutzte ich ein Aquarium. Auch eine Unterwasserkamera kam zum Einsatz. 

Beim Abfilmen lernte ich zudem, dass das Wasser warm oder sogar heiss sein muss, um einen erwünschten Effekt zu erzielen – sollte er denn auftreten, nicht alle Tabletten tun das. Die fachgerechte Entsorgung des Wassers war ebenfalls zwingend. Mit der Zeit kamen schliesslich viele Aufnahmen zusammen.

Leben und Tod

Es sind Bilder, die seit dem Frühjahr in Neuhausen am Rheinfall in der «Rhyality Immersive Art Hall» zu sehen sind. In diesem immersiven Kino, in dem ein Film mit 360 Grad und sowohl auf dem Boden wie an der Decke gezeigt wird, sah ich die ideale Plattform, um meine Kunst zu zeigen. Dieses Kino ist in der Schweiz einzigartig. Also habe ich dort angefragt und es hat funktioniert: «Life and Death», so der Titel meines Films, nahm Gestalt an.

Wie ging ich vor: Ich hatte acht Wände, die Decke und den Boden zu bespielen, also habe ich einen langen Streifen mit Videos angelegt, was eine riesige Rechenkapazität benötigt. Dank 25 Beamern und rund 100 Lautsprecher werden die Szenen alle gezeigt. Der Film ist etwa zehn Minuten lang und in drei Akte aufgeteilt – im dritten Akt platzen die Pillen im extremen Zeitraffer und es ist wie ein gewaltiges Feuerwerk, dazu wird Musik gespielt. Ich bin zufrieden mit dem Ergebnis.

«Life & Death» hat mich aber einiges gekostet, nicht nur Zeit und Mühe. Die gesamten Ausgaben trug ich selbst. Subventionen oder Sponsoring habe ich bisher trotz unendlichen Anfragen und Bitten an Stiftungen und Firmen nicht erhalten.

Das hat mich aber nicht aufgehalten und die positiven Reaktionen haben mich bestärkt. Ich denke, die Bilder verbinden. Selbst Menschen, die der modernen Medizin gegenüber skeptisch eingestellt sind, können sich den Aufnahmen nicht entziehen. Die heilsarme Wirkung von Kunst mag umstritten sein, aber ich bemerke, dass meine Bilder den Menschen guttun.

Von Luzern nach Zürich

Ursprünglich stamme ich aus einem kleinen luzernischen Dorf, später absolvierte ich eine vierjährige Lehre als Typograf beim Ringier-Verlag. Es zog mich beruflich früh nach Zürich. In Höngg wohne ich erst seit rund fünf Jahren, aber das Quartier kannte ich bereits, da meine Partnerin hier lebt. Mein Werdegang brachte mich zu den grossen Werbeagenturen, aber ich war auch in einer Buchdruckerei in Oerlikon engagiert. Dort, in der Druckvorstufe, war ich ein Allrounder. Das war ungemein kreativ und ich konnte mich mit den nötigen IT-Kenntnissen vertraut machen.

Mein erstes Filmprojekt realisierte ich Ende der 1990er-Jahre, der Titel war «Geschichtsscherben aus 2000 Jahren». Teil davon war ein Interview mit H.R. Giger, jenem leider verstorbenen Künstler, der das Alien-Monster erschuf. Ausserdem war Giger sehr kamerascheu. Eine spannende Erfahrung, die ich nicht missen möchte.

Auch ausgestellt habe ich schon: Vor zwei Jahren zeigte ich einen Film im Kunsthaus Interlaken, das Thema war «Schneemanns Garn». Es gab Malereien, Skulpturen und eben auch Videos. Ich zeigte, wie sich Knetmasse zu einem Schneemann formt, die «Berner Schneemann-Suppe».

Aktuell habe ich keinen Job, sondern absolviere ein Studium an einer Zürcher Filmschule. Dort lernen wir alles rund um den Film – Idee, Konzeption, Drehbücher schreiben, technische Grundlagen usw. Ich erhalte so die Möglichkeit, mit verschiedenen Kameras von hoher Qualität zu experimentieren. Zwei Tage die Woche drücke ich also die Schulbank, dazu kommen rund drei Tage für das Selbststudium. Kinofilme haben mich aber nie sonderlich interessiert, eher Dokumentarfilme, das reizt mich, dort sehe ich meine Stärken.  

Doch nach einem Jahr wird es jetzt finanziell eng, ich muss wieder Geld verdienen. Das Studium werde ich wohl unterbrechen, um es später wieder aufzunehmen. Ich bin mir aber noch nicht ganz sicher. Und bald werde ich 50, vielleicht sollte ich mich doch langsam um die Altersvorsorge kümmern. Soll ich meinem Verstand folgen oder dem Herzen? Ich zerbreche mir den Kopf darüber. Wir werden sehen. Vielleicht kann ich «Life & Death» einmal in einem anderen immersiven Kino zeigen. In Asien soll es grosse Anlagen geben, das würde mir gefallen.

Aufgezeichnet von Daniel Diriwächter

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