Er begegnete seinem Leben

Der Höngger Joe Bürli ist vielen bekannt. Weniger bei uns im Quartier, sondern im Kreis 5. Dort führt er den Kiosk Quellenstrasse und ist eine lokale Grösse. Nun hat er ein Buch über sein Leben geschrieben.

Joe Bürli in seinem Kiosk im Kreis 5. (Foto: dad)

«Es gibt sie noch! Die guten Seelen wie Joe Bürli», schreibt Regula Esposito alias Helga Schneider im Vorwort des Buches «Der Bub hat nichts Italienisches an sich», der Autobiografie von Joe Bürli. Die Künstlerin führt eine grosse Sympathie für den Protagonisten ins Feld, aber auch für das «Föifi» an sich. Ein Quartier, das den guten alten Quartierkiosk, den Bürli führt, noch braucht. Zeitungen und Tabakwaren, Getränke und ein kleines Sortiment an Lebensmitteln. Doch geht es Esposito selbstverständlich weniger um den vertrauten Treffpunkt an der Quellenstrasse, sondern um die Lebensgeschichte von Bürli. Dabei ist der Autor, der eine so zentrale Rolle im Kreis 5 einnimmt, seit rund einem Vierteljahrhundert in Höngg zu Hause. Hier lebt der 62-Jährige mit seinem Partner Willy und zwei Hunden, hier findet er Kraft und Ruhe als Ausgleich zum pulsierenden Leben im Kreis 5.

Ein Mensch definiert sich bekanntlich aus vielem mehr als seinem Wohnort und dem Arbeitsplatz. Das wird in Bürlis Autobiografie deutlich. Seine Motivation, das Buch zu schreiben, war die Neugier: Er fand es spannend, seinen Wurzeln auf die Spur zu kommen. Ausschlaggebend war der Beginn seines Lebens: Die ersten vier Jahre verbrachte Bürli in Kinderheimen. Die unverheirateten Eltern haben ihn nach der Geburt im Jahr 1962 in ein Säuglingsheim gegeben.

Nicht in der Opferrolle

Was zunächst dramatisch klingt, es ohne Zweifel auch war, hat Bürli anders wahrgenommen: «Mit meinem Buch möchte ich zeigen, dass es eben nicht nur die schlimmen Geschichten gibt, sondern auch gute», sagt er der «Höngger Zeitung». Er wolle sich als Autor nicht in die Opferrolle begeben. Das erinnert an Hape Kerkelings Buch «Der Junge muss an die frische Luft». Der deutsche Entertainer fand ebenfalls die richtigen Worte, um seinen Werdegang, trotz Schicksalsschlägen, erheiternd zu beschreiben. Ehrlich, detailreich und unterhaltsam ging auch Bürli ans Werk.

Wie bei Kerkeling war es auch bei Bürli die Grossmutter, die eine Hauptrolle ab seinem vierten Lebensjahr einnahm. Sie sei eine selbstständige und emanzipierte Frau gewesen. Bei ihr und dem stillen Grossvater fand er im Luzerner Hinterland ein Zuhause. «Sie betrieben einen Laden mit Kolonialwaren und das Haus war immer voller Leben.» Später nahm ihn sein Vater wieder auf und es trat eine Stiefmutter in sein Leben, die es dem «Josefli» nicht leicht machte. Sie bestrafte den selbstbewussten Jungen etwa mit eisigem Schweigen. «Das dauerte manchmal gegen zwei Wochen und quälte mich sehr», schreibt er in seinem Buch. Heute weiss er, warum die Stiefmutter dies tat.

Als Bürli 19 Jahre alt wurde, wollte er nach seiner leiblichen Mutter suchen, sein engstes Umfeld riet ihm jedoch davon ab. Jahre später sollte sich die in Italien lebende Mutter selbst auf die Suche nach ihrem Sohn machen. Sie fand ihn schliesslich wieder, als dieser 35 Jahre alt war. Wie dieses Treffen war, aber auch, warum er als Baby wegegeben wurde, all das schrieb Bürli nieder und ist nun in «Der Bub hat nichts Italienisches an sich» nachzulesen. Er spannt den Bogen aber weiter, von seinen «Lehr- und Wanderjahren» über die jüngere Vergangenheit bis in die Gegenwart.

Eine unbeschwerte Zeit

Die Autobiografie offenbart ein reiches Leben. Die Liebe zur Musik ist auffällig: «Plattenläden waren damals mein Google», schreibt Bürli in seinem Buch. Die 1980er-Jahre waren seine Zeit, Wham seine Lieblingsband, auf der Neuen Deutschen Welle ritt er ebenso mit. Als Model war Bürli sogar in der Jugendzeitschrift «Pop Rocky» zu sehen, dem damaligen Schweizer Pendant zur «Bravo». Das sind amüsante Passagen für Menschen seiner Generation. Auch den beruflichen Werdegang legt er offen, da war die Tierpflege, die Gastrobranche und der CD-Vertrieb. Eben, die Musik.

Bürli beschreibt aber auch sein Privatleben und liefert ein interessantes Zeitdokument: Wir erfahren, wie er als junger Mann, der Männer liebt, in den 1970er-Jahren die Zürcher Szene entdeckte und erlebte. «Es war eine unbeschwerte Zeit», sagt er. Es gab Treffpunkte, Partys und bereits eine gewisse Akzeptanz in der Gesellschaft. Eine Zeit, die Anfang der 1980er-Jahre jäh mit dem Aufkommen von Aids vorerst beendet wurde. Es sind Kapitel wie diese, die tiefe Einblicke gewähren. «Mit dem Buch lasse ich im übertragenen Sinn die Hosen runter», sagt er lächelnd. Aber man müsse vieles preisgeben, um die Lebensgeschichte in ihrer Ganzheit zu verstehen. Zudem: «Ich habe alles erreicht, was ich wollte. Das ist auch der Grund dafür, dass mir heute nichts peinlich ist», sagt er.

Das über 400 Seiten starke Buch, das im Eigenverlag herausgegeben wurde und zahlreiche Fotos enthält, hat selbst eine spannende Entwicklungsgeschichte. Nachdem Bürli die Rohfassung geschrieben hatte, übernahm Liz Müller, eine Freundin seines Partners Willy, das Lektorat «mit viel Geduld und Aufmerksamkeit», wie Bürli sagt. Für die grafische Umsetzung hatte er aber noch keine konkreten Ideen, bis ein treuer Kunde des Kiosks davon erfahren hat. «Aldo Clerici hat sich sofort bereit erklärt, das Layout und die Bildbearbeitung zu übernehmen.» Bevor Bürli das Buch aber in den Händen halten konnte, wurde es von Clerici und dessen Frau Ruth mehrmals auf Fehler überprüft. «Die Produktion war ein Abenteuer für sich», erklärt Bürli. Mittlerweile ist die erste Auflage bereits ausverkauft. Die Exemplare der zweiten Auflage sind bei Bürli direkt erhältlich – und natürlich auch in seinem Kiosk.

Der Bub hat nichts Italienisches an sich

Joe Bürli, Zürich, 2024. Erschienen im Eigenverlag.

Preis: 38 Franken. info@kioskquellen.ch

Erhältlich auch direkt im Kiosk Quellenstrasse, Limmatstrasse 197

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