Ein Wimpernschlag fehlte für eine paralympische Medaille

An den Paralympics in London kämpften Athleten aus der ganzen Welt um Bestzeiten und Podestplätze. Lukas Weber aus Höngg erreichte mit seinem Liegevelo den ausgezeichneten vierten Rang.

Lukas Weber auf dem Handbike.

Wer Lukas Weber in seinem Zuhause im Zentrum von Höngg besucht, lernt einen dynamischen, sportlichen Mann kennen, dessen Enthusiasmus und Tatendrang schnell vergessen macht, dass er im Rollstuhl sitzt. Behände bewegt er sich in der lichtdurchfluteten Wohnung, deren Flair unwillkürlich an jemanden denken lässt, der sich auch beruflich gerne mit moderner Technologie beschäftigt. «Ja, tatsächlich, ich bin Informatiker», erzählt der schlanke 42-Jährige und lacht ob der zutreffenden Vorahnung des Besuchers. Doch diesen Beruf, für den er jahrelang an der ETH Physik studiert hat, übt Weber mittlerweile nur noch im Teilzeitpensum aus, «übers Jahr gesehen etwa zu 30 Prozent», wie er sagt. Heute ist es vielmehr der Spitzensport, der sein Leben bestimmt. Doch wie ist es dazu gekommen, trotz oder vielleicht sogar wegen seiner Behinderung? «Den Grundstein für meine Sportlichkeit hat vermutlich die Tatsache gelegt, dass ich im ländlichen Raum aufgewachsen bin und immer mit dem Velo zur Schule fahren musste, das waren pro Weg gut und gerne fünf Kilometer», erzählt der heutige Paralympic-Athlet und wandert in Gedanken noch einmal zurück nach Obersiggenthal im Kanton Aargau, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. «Ich habe aber auch immer darauf geachtet, fi t zu bleiben, und während meiner Kantonsschulzeit spielte ich sogar Volleyball in der ersten Liga», berichtet der «Wahlhöngger» mit einem kaum merklichen Anflug von Melancholie, denn das Ausüben dieser Sportart wäre für ihn heute – zumindest im üblichen Rahmen – nicht mehr möglich. Vor dreizehn Jahren ereignete sich der folgenschwere Unfall, der sein bisheriges Leben auf den Kopf stellte und ihn mit einem Schlag zum Rollstuhlfahrer machte.

Noch in der Klinik gestartet

«Ich war ganz normal mit dem Velo in Zürich unterwegs, wo ich seit dem Beginn meines Studiums wohnte», erinnert sich Lukas Weber an jenen verhängnisvollen Tag im September 1999. «Mein Velo, ein alter Dreigänger mit Nabenschaltung, hatte seine Macken, und das Fahrrad hat mitten auf der Fahrt urplötzlich in den Leerlauf geschaltet, als ich gerade mit voller Kraft in die Pedale trat. Da verlor ich die Kontrolle über das Gefährt und prallte frontal in einen Masten.» Der Aufprall hatte zur Folge, dass sich der damals 29-Jährige die Wirbelsäule brach und trotz sofortiger ärztlicher Versorgung eine dauerhafte Lähmung der Beine nicht verhindert werden konnte. Dieser gravierende Einschnitt in seiner Biografie bedeutete auch das Ende seiner sportlichen Ambitionen, würde man als Unbeteiligter jetzt denken. Doch Lukas Weber nahm sein Schicksal gleichsam als Herausforderung an und setzte sich sogleich neue Ziele. Und er schaffte das, was noch keiner vor ihm gewagt hatte: Noch während der Rehabilitation in der Uniklinik Balgrist unternahm er ganz alleine Ausflüge in die Stadt, und dies nicht etwa mit dem Rollstuhltaxi, sondern selbständig im ganz normalen Rollstuhl. «Die Pfleger im Balgrist staunten nicht schlecht, als ich ihnen erzählte, dass ich im Ausgang am Limmatplatz war», erinnert er sich schmunzelnd. Kaum hatte Weber nach seinen Klinikaufenthalten die jetzige Wohnung in Höngg bezogen, ging es weiter mit der Rückeroberung seines Lebensraums. Sein Aktionsradius vergrösserte sich zusehends, auch dank Gerätschaften, die Aussenstehenden völlig unbekannt sind.

Neue Möglichkeiten eröffnet

«Dieses Einrad dort draussen spannt man vor den Rollstuhl und erhöht so seine Geschwindigkeit massiv», erklärt der Bewegungsmensch und deutet auf den Laubengang vor seiner Wohnung. «Damit war ich in einer Viertelstunde am Bellevue.» Fünf Jahre nach dem Unfall legte sich Lukas Weber ein Handbike zu, ein spezielles Liegevelo, das mit der Kraft der Arme angetrieben wird, vergleichbar mit einem Ruderboot. «Dies sind richtige Hightech-Geräte, für die es nur eine Handvoll Hersteller gibt», berichtet der begeisterte Athlet. Zum Zeitpunkt seines Umstiegs auf das Handbike hatte er bereits 10 000 Kilometer mit seinem Einrad trainiert, und so vermag es kaum zu verwundern, dass er auch mit dem neuen Gefährt bald Grenze für Grenze überschritt. Der starke Wille, besser zu werden, führte dazu, dass Lukas Weber 2005 am Europacup in die Top Ten fuhr und im Sommer 2008 seine Premiere an den Paralympischen Spielen in Peking feierte.

Podest nur knapp verfehlt

Dieses Jahr in London hätte es nun fast für das Podest gereicht: «Ich war auf Medaillenkurs, wurde dann aber einen Moment lang abgedrängt und verlor so wertvolle Zeit», berichtet Lukas Weber, der zweimal Vierter wurde und auch so mehr als stolz über das Erreichte sein kann. Das Erlebnis, zusammen mit anderen Spitzenathleten solche Rennen vor einer unvergleichlichen Kulisse zu bestreiten, wird den Schweizer ohnehin noch eine lange Zeit begleiten, auch auf seinen Trainingsfahrten, bei denen er oft als «einsamer Kämpfer» bis zu hundert Kilometer pro Tag unter die Räder nimmt. «Die Geschwindigkeit von mir und gewöhnlichen Radsportlern ist einfach nicht synchron, auf der Geraden bin ich oft schneller, bei Steigungen aber falle ich zurück, deshalb musste ich mein Experiment, im Radsportclub Regensdorf mitzumachen, auch wieder aufgeben, obwohl ich nach dem Training sogar vor der Radgruppe wieder am Ausgangspunkt ankam», bedauert Weber. Umso grösser ist bei dem Vollblutsportler die Vorfreude auf die nächsten Paralympischen Spiele in Rio, bei denen Höngg wieder den Atem anhalten und mit ihm auf einen Podestplatz hinfiebern kann.

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