Ein Matrose aus Höngg

Jürg Brunner ist zwar im Binnenland Schweiz geboren und aufgewachsen, doch es zog ihn schon im jugendlichen Alter zur See. Seit dem Abschluss seiner Seefahrerkarriere ist er als Sportphysiotherapeut und Masseur tätig.

Jürg Brunner: früher Matrose, heute in seiner eigenen Manual- und Boxing-Therapy-Praxis. (Foto: Dagmar Schräder)

Ich bin schon sehr lange in Höngg zu Hause. Bereits meine Kindheit habe ich hier mit meinen Eltern und den sechs Geschwistern verbracht. Finanziell sah es bei uns damals zwar nicht gerade rosig aus, wir waren eine eher arme Familie, meine Kindheit würde ich dennoch als sehr glücklich bezeichnen.
Meine Kindergarten- und Primarschulzeit habe ich im Schulhaus Bläsi verbracht. Nach dem Abschluss der Sekundarschule wollte ich eigentlich eine Ausbildung zum Zimmermann anfangen, doch mir wurde gesagt, ich sei noch zu jung dafür, weswegen ich alternativ als Schlosser anfing. Das war allerdings nicht der richtige Beruf für mich, das spürte ich. Als ein Freund von mir auf Besuch kam, seinen Koffer in der Hand, und mir mitteilte, dass er nun zur See führe, wusste ich, dass dies genau der Job war, den ich auch ausführen wollte. Schon als Junge hatte ich immer die Bilder von Robinson Crusoe gesammelt und von Reisen in die weite Welt geträumt.

Eine Jugend auf hoher See

Also ging ich zu meinem Vater und teilte ihm mit, dass ich aufs Schiff wolle. 16 Jahre alt war ich damals. Nach langen Diskussionen liess er mich ziehen. Ich fuhr nach Kiel und musterte dort auf einem Frachtschiff als Deckjunge an. «In drei Monaten bist Du eh wieder zu Hause», hatte mein Vater zu mir gesagt, doch er sollte sich täuschen. Zwar kehrte ich tatsächlich drei Monate später nach Hause zurück, jedoch nur, um meinen Koffer neu zu packen und mich erneut auf die Reise zu machen. Insgesamt fuhr ich auf vier verschiedenen Schiffen zur See, immer mit Stückgut unterwegs zwischen Südamerika und Japan oder in Nordamerika. Innerhalb von kurzer Zeit stieg ich zum Leichtmatrosen auf und war wenig später der jüngste Vollmatrose an Bord.
Auf einem der Schiffe war ich mehr als zwei Jahre unterwegs, nur unterbrochen von kurzen Landgängen. Die Zeit auf den Schiffen war intensiv und nicht immer ganz einfach, vor allem, wenn wir auf hoher See waren und während sechs oder mehr Wochen kein Land sahen. Hier waren wir völlig auf uns allein gestellt, um uns herum nichts als Wasser – da mussten wir uns manchmal anstrengen, um nicht den Koller zu bekommen.

Zurück aufs Festland

Meine Höngger Heimat besuchte ich damals nur ab und zu zwischen zwei Seefahrten und nutzte hier jeweils die Zeit, um in der Nähe des Escher-Wyss-Platzes durch Kohleschaufeln noch ein kleines Zubrot zu verdienen und mir die nächste Reise zu finanzieren. Meistens war ich aber weit weg und konnte deshalb nicht mal in Zürich sein, um an der Beerdigung meines Vaters teilzunehmen: Als die Nachricht meiner Familie kam, mein Vater sei gestorben, waren wir gerade in Asien unterwegs und es gab für mich keine Möglichkeit, das Schiff zu verlassen und nach Europa zu reisen. Nach dem Tod meines Vaters beschloss ich, die Seefahrt an den Nagel zu hängen – auch, um näher bei meiner Mutter sein und sie gegebenenfalls unterstützen zu können. Mein Geld verdiente ich zunächst mit verschiedenen Jobs, etwa mit Malerarbeiten oder Galvanisieren.  
Damals erfüllte ich mir einen grossen Wunsch und fing im Boxclub Zürich mit dem Boxtraining an. Davon hatte ich geträumt, seit Cassius Clay – auch bekannt als Muhammad Ali – 1964 Weltmeister geworden war. Vier Jahre war ich selbst aktiver Sportler, nahm auch an Wettkämpfen teil. Danach verlagerte ich mich mehr auf das Training und die Betreuung junger Athlet*innen.

Eine neue Passion gefunden

Gleichzeitig vermisste ich die Seefahrt immer noch ein wenig. Einmal nahm ich einen Anlauf, zur Schifffahrt zurückzukehren, gab diese Idee jedoch schnell wieder auf. Auch die Arbeit als Matrose bei der Zürichsee-Schifffahrt zog ich kurz in Erwägung, verwarf das Vorhaben aber schnell wieder, weil Schiffe und Seegang hier doch erheblich kleiner waren, als ich es gewohnt war.
Dafür fand ich bald einen neuen Job, der mich bis heute erfüllt: Ich absolvierte eine Ausbildung zum medizinischen Masseur und bildete mich anschliessend in Deutschland zum Sportphysiotherapeuten weiter. Auch meine Erfahrungen im Ring kamen mir zugute, indem ich begann, Boxen als Therapie einzusetzen. Wenn man von Grund auf richtig boxen lernt, kann diese Sportart bei sehr vielen Problemen, auch Burnouts oder Belastungen psychischer Art, hilfreich sein.
Ich machte mich mit einer eigenen Praxis selbstständig und bin hier auch heute noch, im Alter von 75 Jahren, tätig. Gerade erst bin ich nach einem coronabedingten Unterbruch in meine neuen Praxisräumlichkeiten umgezogen und werde hier in Kürze meine Kund*innen empfangen können. Wenn man nach meinen Hobbys fragen würde, würde meine Frau wohl sagen: «Die Arbeit ist sein Hobby». Das kann ich bestätigen: Ich bin sehr gerne als Therapeut tätig und möchte den Job so lange wie möglich ausführen. Dabei versuche ich, mich stets weiterzuentwickeln und auf dem neuesten Stand zu bleiben. Gleichzeitig gebe ich selbst Weiterbildungen für junge und angehende Therapeut*innen.  

Stafetten-Portrait

In diesen monatlichen Beiträgen werden ganz normale Menschen aus Höngg porträtiert: Man braucht nicht der Lokalprominenz anzugehören und muss auch nicht irgendwelche herausragenden Leistungen vollbracht haben, nein, denn das Spezielle steckt oft im scheinbar Unscheinbaren, in Menschen «wie du und ich». 
Sollte die Stafette abreissen, sind wir froh, wenn auch Sie uns mögliche Kandidat*innen melden. Kontaktangaben bitte per Mail an redaktion@hoengger.ch oder Telefon 044 340 17 05. 

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