Ein Blick in die Zukunft

Im «Future Cities Laboratory» der ETH erforschen Architekt*innen, Ingenieure, Wissenschaftler*innen und Regierungsvertreter*innen in einem interdisziplinären Forschungsprojekt, wie städtische Architektur in Zukunft aussehen könnte.

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Seit dem Jahr 2007, das zeigen statistische Erhebungen, leben erstmals in der Geschichte der Menschheit weltweit mehr Menschen in Städten als in ländlichen Gebieten. Die Urbanisierung schreitet voran – mit all ihren gewollten und ungewollten Konsequenzen. Das wirft Fragen auf: Wie werden wir in Zukunft wohnen? Wie entwickeln sich unsere Städte? Was sind die ökologischen und sozialen Auswirkungen der Verstädterung? Wie kann es gelingen, Wohnraum für eine stetig wachsende Anzahl an Bewohner*innen zur Verfügung zu stellen und gleichzeitig die bebaute Fläche nicht unendlich zu erweitern? Wie können Grünflächen erhalten und gestaltet werden? Diese und weitere Fragen gehören zu den drängendsten Problemen, mit denen sich Architekt*innen, Städteplaner*innen und die Politik momentan auseinanderzusetzen haben.

Handlungsbedarf in asiatischen Gross- und Megacities

In Singapur entstand im Jahr 2010 ein Forschungsprojekt zu diesem Thema. Die ETH wurde eingeladen, in einem «Future Cities Laboratory (FCL)» die städtebaulichen Entwicklungen der asiatischen Grossstadt zu untersuchen. Ziel des FCL ist es, die Situation nach den Kriterien der nachhaltigen Entwicklung, einschliesslich Stadtplanung, Gebäudedesign und -technologie, Energieverbrauch, Verkehr, Wirtschaft, Ökosystem und Gesellschaft, zu analysieren und Empfehlungen für zukünftige Gebäude und Städte zu geben.
Michelle Yingying Jiang, eine der Forscher*innen, die auf dem Hönggerberg unter der Leitung von Professor Sacha Menz in einer Forschungsgruppe an dem Projekt forscht, erklärt dem «Höngger» in einem Gespräch, was die Ausgangslage war: «Singapur ist weltweit eine der am schnellsten wachsenden Städte mit einer sehr grossen Bevölkerungsdichte. Hier leben 5,9 Millionen Menschen auf enger Fläche, auf einen Quadratkilometer kommen mehr als 8000 Bewohner*innen (zum Vergleich: in der Schweiz sind es 215 Bewohner*innen pro Quadratkilometer). Wie viele der asiatischen Grossstädte wurde das moderne Singapur dabei quasi «vom Reissbrett» aus geplant, ganze Stadtteile wurden aus dem Nichts entworfen und erstellt.» Innerhalb der letzten fünfzig Jahre hat sich der Stadtstaat von einer ehemaligen Kolonie zu einer Wirtschaftsmacht mit hohem Lebensstandard entwickelt.

Dicht, aber grün

Architekt*innen und Städteplaner*innen setzen in dem Inselstaat mit stark begrenzten Platzressourcen auf vertikales Bauen. Dadurch entstehen imposante Gebäudekomplexe von beeindruckender Grösse, bis zu 50 Stockwerke hoch und mit bis zu 8000 Bewohner*innen pro Komplex: Gebäude, so gross wie ganze Dörfer. Gleichzeitig aber, so erklärt Yingying Jiang, hat die Metropole den Anspruch, eine «Stadt im Garten» darzustellen. «Das bedeutet, dass nicht nur immer höher gebaut wird, es wird auch versucht, das Grün in die Stadt (zurück)zuholen. Und weil der Platz so knapp ist, werden Grünflächen und Erholungsraum kurzerhand in Gebäude und Fassaden integriert. So werden etwa auf den Dächern der Hochhäuser Grünflächen angelegt oder Gebäudekomplexe erstellt, die auf verschiedenen Ebenen Gärten und Parks aufweisen. Andere Häuser erhalten Fassaden, auf denen sich über die ganze Höhe des Gebäudes Kletterpflanzen ranken.» Und der Effort lohnt sich offenbar: «Schon jetzt ist es Singapur gelungen, dass 95 Prozent aller Einwohner eine Grünfläche oder einen Park in weniger als 400 Meter Abstand erreichen. 1,3 Millionen Bäume säumen die Strassen der modernen Metropole», wie einem News-Artikel des österreichischen Fernsehens zu entnehmen ist. Grün gilt als Steigerung der Lebensqualität – und verhilft zu Wertsteigerungen. Mit dieser Strategie gilt Singapur weltweit als führend und wird vielerorten als Beispiel für nachhaltige Stadtentwicklung gehandelt.  

Alle Aspekte berücksichtigen

Das «Future Cities Lab» untersucht nun die Nachhaltigkeit dieser Entwicklungen. Es besteht aus zahlreichen interdisziplinären Forschungsgruppen, die die Urbanisierungsprozesse aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Yingying Jiang ist Teil der Forschungsgruppe «dense and green cities». Dabei geht es nicht nur darum, einzelne Gebäude zu analysieren, sondern in ihrer jeweiligen Nachbarschaft und dem umgebenden Quartier zu verstehen. Zu diesem Zweck werden die architektonischen, städteplanerischen, ökologischen, sozialen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen und Auswirkungen untersucht. So werden nicht nur die Bewohner*innen befragt, ob sie sich in den Gebäuden wohlfühlen und ob eine funktionierende Nachbarschaft existiert, sondern etwa auch, wie die Politik Bauvorhaben beeinflusst, wie und von wem die Quartiere genutzt werden, was für Auswirkungen die Begrünung auf die Temperaturentwicklung in der Innenstadt hat, wie die grünen Inseln von Wildtieren und -pflanzen angenommen werden. Das Ziel sind «sustainable integrated districts», also Quartiere oder Teilstrukturen von Quartieren, die nachhaltig funktionieren – als Modelle für eine zukünftige, ökologisch und sozial verträgliche Stadtentwicklung.

Singapur war erst der Anfang…

Doch was hat Singapur mit Zürcher Urbanisierung zu tun? Derartig spektakuläre Bauten und gigantischen Projekte wie in der asiatischen Stadt sind hier in naher Zukunft nicht zu erwarten und wohl kaum erstrebenswert. Und doch lassen sich viele Erkenntnisse auch auf die Schweiz übertragen.  «Verdichtetes Bauen ist für alle Städteplaner*innen und Architekt*innen ein Thema», so Yingying Jiang. Auch Zürich wird nach Aussagen der Forschenden in den nächsten 15 bis 20 Jahren bevölkerungsmässig kräftig um rund 20 Prozent wachsen und muss damit Platz für weitere 80 000 Bewohner*innen schaffen. Steigende Temperaturen in der Innenstadt, der Verlust von Grünflächen, zunehmende Emissionen und sinkende Luftqualität, die Verkehrsproblematik – das sind alles Probleme, mit denen jede Grossstadt zu kämpfen hat und die auch die Schweiz zwar in weit geringerem, aber dennoch zunehmenden Ausmass beschäftigen.

…dann folgt Zürich

Aus diesem Grund hat das Forschungsprojekt den Fokus der Untersuchungen auch auf europäische Städte ausgeweitet. Denn, so Yingying Jiang: «Um ein umfassendes Bild der weltweiten Urbanisierung erhalten zu können, darf nicht nur eine Weltregion mit ihren jeweils spezifischen wirtschaftlichen und kulturellen Backgrounds betrachtet werden, der Fokus muss vielmehr auf Regionen ausgeweitet werden, die eine ganze andere geschichtliche Entwicklung und ein völlig abweichendes Stadtbild aufweisen.» So steht jetzt nicht mehr nur Singapur, sondern auch Zürich im Mittelpunkt des Interesses: «Wir untersuchen nun in zwei Forschungsteams Singapur und Zürich als parallele Strukturen, betrachten die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten. Geht es in Singapur in erster Linie darum, zu beurteilen, wie man eine ohnehin schon stark verdichtete Stadt lebenswerter gestalten kann, ist die Fragestellung in Zürich ein wenig anders. Hier schauen wir, wie wir eine organisch gewachsene Stadt verdichten und verwandeln können zu einem Ort von hoher Dichte und gleichzeitig hoher Lebensqualität.»

Feldforschung jenseits der Europabrücke

Auch in einigen Quartieren Zürichs wie etwa Altstetten wurde daher ein Forschungssetting aufgebaut. In den nächsten zwei Jahren werden hier die bestehenden Gebäude analysiert, Quartierzentren ausfindig gemacht, Bewohner*innen nach ihren Bedürfnissen und Wohlbefinden befragt. Die Stadt Zürich hat Interesse an dem Forschungsprojekt bekundet und steht in engem Austausch mit der Hochschule. Die unterschiedlichen Forschungsgruppen werden ihre Ergebnisse zusammentragen und in weiteren Schritten in Workshops und Diskussionen mit Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft sowie der Öffentlichkeit diskutieren. Daraus können sich Strategien und Guidelines für die Stadtentwicklung ergeben. Bereits gemachte Erfahrungen aus Singapur können hier in Zürich angewandt werden – und umgekehrt: «Hier in Zürich können wir von den Erkenntnissen, die wir in Singapur gewinnen, genauso profitieren wie die dortige Forschungsgruppe von unseren Ergebnissen. Es geht um einen Wissensaustausch und Transfer und die Gewinnung lokaler Erkenntnisse», schliesst Yingying Jiang ihre Ausführungen.  

 

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