Dieser Pensionär hat Generationen geprägt

Als «Berufsjugendlichen» und danach «Berufspensionär» prägte Walter Martinet das Höngger Quartierleben und mehr als eine Generation mit. Nun geht er, der ehemalige Jugend – und Sozialarbeiter und heutige Heimleiter des Altersheims Hauserstiftung, selbst in Pension.

Walter und Catherine Martinet Gyr vor dem Altersheim Hauserstiftung. Am 20. September heisst es Abschied nehmen.

Walter Martinet, der damals, vor seiner Heirat noch Gyr hiess, fuhr am Montag, 3. September 1979 zum ersten Mal nach Höngg zur Arbeit. Er fuhr gerade rechtzeitig vor, um noch beim Abbau des Flohmarktes zu helfen. Doch eigentlich war er von der reformierten Kirche als Jugendarbeiter angestellt worden, um das wegen Drogenproblemen geschlossene Jugendcafé «Albatros» wieder auf Vordermann zu bringen. Was er mit Erfolg tat, und das nicht nur, weil er viele der Jugendlichen am «Töggelichaschte» zu bezwingen vermochte.
Sein Leitmotiv damals: «Ich hatte mal in einer Judendzeitschrift die Aussage eines Mädchens gelesen, das sagte ‚Ich glaube, meine Eltern haben mich nicht gern, denn sie erlauben mir alles“‘.» Dabei, so Martinet, war es doch einfach Ausdruck des unendlichen Vertrauens der Eltern in die Tochter. «Kinder brauchen, ja wollen einen Rahmen», sagt der zweifache  Familienvater, «in dem sie sich bewegen können, Grenzen suchen und erleben.» Mit dieser Haltung machte er sich damals an die Jugendarbeit. Er scheute sich nicht, vor die Jugendlichen hinzustehen und lauthals zu fordern, die Mopeds anständig im Garten zu parkieren – der Schreibende weiss, wovon Martinet spricht, denn er war damals dabei – oder mit den kiffenden Jugendlichen hinter der Kirche zu reden: «Ein fairer Rahmen wurde immer akzeptiert. Wie auch der legendäre Lehrer Thomas Nigg hatte ich nie Probleme, selbst mit den schwierigsten Jugendliche nicht.»

«Schicken die uns ‚Alten‘ den Jugendarbeiter!»

Dann wechselte der Jugendarbeiter − «bevor sie mir hier Opa sagen» −  nach dreieinhalb Jahren in die offene Sozialarbeit der Kirche und übernahm dort das Programm der Senioren-Vereinigung Höngg. «Die spinnen von der Kirche, hat da wohl mancher Senior gedacht», lacht Martinet, «jetzt schicken die uns ‚Alten‘ einen Jugendarbeiter!»
Doch auch da war Martinet schnell akzeptiert – weil er den älteren Menschen ebenfalls Akzeptanz entgegen brachte. Man müsse ihnen zeigen, dass man etwas für sie tue, sagt er, und dass man es gerne tue. Dies nicht nur beim Organisieren von Seniorenferien, -wanderungen und -anlässen, sondern auch in vermeintlichen «Kleinigkeiten», wie etwa  800 Geburtstagskarten pro Jahr von Hand zu schreiben. Oder sich für  jemanden einzusetzen, der sich vor Mietgericht nicht zu wehren wusste. So gewinne man das Vertrauen.
Doch das Erbe, das er in seinem neuen Job anzutreten hatte, war ungleich schwerer als jenes im «Albatros», denn sein Vorgänger Ernst Aerne war ein wandelndes Lexikon. «Was immer ich nicht wusste, schon im «Albatros», Ernst wusste es, bis hin zu ganzen Familiengeschichten. Und er konnte auch alles, es war fast unheimlich.» Mit Respekt trat er in diese grossen Fussstapfen – und füllte sie auf seine Art aus.
Was ihm bald auffiel, war der Unterschied zwischen den Generationen: «Für Jugendliche ist es viel selbstverständlicher, dass man etwas für sie tut als für alte Menschen», vergleicht  Martinet. Er nennt das Beispiel eines Jugendlichen, dem er vor Arbeitsgericht gegen seinen Arbeitgeber half, der ihn übers Ohr hauen wollte. Als Martinet den Jungen später um seine Mithilfe bat, hatte dieser «keine Zeit». «Doch alte Menschen bedanken sich für jede Kleinigkeit, sei es mit einem guten Wort, einem selbstgebackenen Kuchen oder sonst einer Aufmerksamkeit.»

Zwei Jobs zur gleichen Zeit

Nach der Jahrtausendwende fand es Martinet an der Zeit, dass jemand Neues das Programm der Höngger Senioren-Vereinigung leiten würde. Und mit 52 sei es für ihn auch eine der letzten Gelegenheiten gewesen, selbst nochmals etwas ganz Neues zu beginnen, erklärt er den Stellenwechsel 2002.
Martinet erfuhr, dass die Hauserstiftung einen neuen Heimleiter suchte. Doch obwohl selbst im Stiftungsrat der Hauserstiftung sitzend, musste er sich wie alle anderen auch bewerben. «Und es haben sich fachlich besser qualifizierte beworben», erinnert sich Martinet, «doch das Kader des Altersheims hatte bei der Evaluation ein grosses Mitspracherecht und sie entschieden sich für mich.»
Der Anfang war nicht einfach, denn vieles lag in der Hauserstiftung nicht zum Besten: Der Ruf war ramponiert, hohe Personalfluktuationen schadeten dem Betrieb, und gegen aussen wurde das altehrwürdige Haus kaum wahrgenommen. Das war eine strenge Zeit, erinnert sich auch seine Frau Catherine. Speziell, weil Martinet die ersten drei Monate bei der Kirche weiter arbeitete – von morgens um vier bis um acht Uhr im Büro im «Sonnegg», den Tag über in der Hauserstiftung und abends nochmals bis spät im «Sonnegg», um dort alles sauber übergeben zu können.

Der respektvolle Umgang zählt

Am neuen Ort musste er plötzlich über 30 Angestellte betreuen, heute sogar 40. Er besuchte Führungsseminare und Weiterbildungen und machte sich an die Arbeit. Gefragt, womit er rückblickend die Hauserstiftung am meisten geprägt habe, überlegt er länger: «Schwer zu sagen, denn ich musste ja alles neu erfinden – hier im Haus und an mir selbst.» Doch dann erzählt er davon, wie er eine neue Gesprächskultur im Haus etablierte, zwischen den einzelnen Betriebsbereichen, unter den Angestellten und auch mit den Bewohnenden. Langsam aber sicher veränderte sich die Stimmung im Haus, hin zum Positiven. Auch hier habe sich wieder gezeigt, dass entgegengebrachter Respekt auf allen Ebenen auch erwidert wird: «Dabei brauchte es manchmal nur ein einfaches Wort, wenn jemand Feierabend hatte und an meiner offenen Bürotüre vorbei ging. Ein simples aber ehrlich gemeintes ‚Danke für deinen Einsatz‘ wurde immer sehr  geschätzt.» Plötzlich gingen die Personalwechsel zurück.
Auch das Bild des Altersheims gegen aussen wollte er aktiv prägen. Am 1. Mai 2002 hatte er begonnen, und im Dezember führte er die heute noch beliebten und sehr gut frequentierten Quartiermittagessen ein. Sein gutes Netzwerk in Höngg stand Pate: «Ich inserierte im ‚Höngger‘ und alle kamen, auch um ‚den Walti‘ wieder zu treffen.»
Stolz blickt er heute zurück. Auch darauf, dass in seinen ganzen dreizehneinhalb Jahren immer alle Zimmer belegt waren: «Wir haben eine lange Warteliste, das Haus könnte doppelt so gross sein und wäre voll.» Doch das steht nicht zur Debatte und würde, so ist Martinet überzeugt, auch den Charakter des Hauses zerstören.

Die Welt ist noch immer gross genug

Was er beobachte sei, dass die Aufenthaltsdauer der Pensionäre im Haus stark zurückgegangen ist: «Mit der heutigen 24-Stunden-Spitex können die Menschen länger zuhause bleiben. Was ja eigentlich gut ist. Aber ein Altersheim bietet einem ja mehr als nur eine ‚letzte Bleibe‘. Zum Beispiel mehr Zeit für Aktivitäten, da man sich nicht mehr um Dinge wie Waschen, Putzen, Einkaufen und Kochen kümmern muss.» Tatsächlich leben in der Hauserstiftung mitunter Menschen, die deren Vorzüge auch  noch voll geniessen können.
Was sich aber deutlich hin zum Negativen geändert habe, sei die Flut an Bürokratie. Vor 30 Jahren sei wohl die beste Zeit gewesen, ein Heim zu führen, seither werde es – oft sinnlos – nur noch komplizierter. Das «Hüst und Hot» bei den BESA-Abrechnungen sei nur ein Beispiel. 13 Bundesordner mehr füllen heute pro Geschäftsjahr das Archiv.
Doch damit muss er sich bald nicht mehr abgeben. Am 20. September ist Schluss. «Zurückblickend», sinniert er, «habe ich zwar viel gegeben, aber vor allem auch viel erhalten». Dies wohl auch, weil er nie «den Chef rausgehängt» habe. Auch er habe Müllsäcke rausgetragen und angepackt, wo es etwas zu tun gab. Wie damals im «Albatros»: «Der Walti» war nicht einfach der Leiter, sondern ein wegen seiner Persönlichkeit respektierter Teil der Gemeinschaft, dem Altersunterschied zum Trotz.
«Aber», so begehrt Walter Martinet auf, «die Hauserstiftung ist schon so etwas wie mein Kind, da nimmt man nicht so leicht Abschied». Und so hat er seinem Nachfolger, Küchenchef Romano Consoli, der die berufsbegleitende Ausbildung zum eidgenössisch diplomierten Institutionsleiter absolviert hat, angeboten, auch künftig mal ein Quartiermittagessen oder die Cafeteria zu betreuen, sofern Consoli dies möchte. Und auch sonst hat er noch einiges vor, das er in seiner eigenen, unkomplizierten Art anpacken wird. Auch das Reisen wird nicht zu kurz kommen – für einen wie Walter Martinet, dem nun pensionierten  Jugendarbeiter, Sozialarbeiter und Heimleiter, ist die Welt noch immer gross genug.

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