Die Kunst des Loslassens

Unsere Redaktorin Dagmar Schräder schreibt über die grossen und kleinen Dinge des Lebens. Heute darüber, was unsere Eltern alles durchmachen mussten.

Dagmar Schräder bringt ihre Gedanken aufs Papier. (Foto: dad)

Ja, ich weiss, ich bin eine Glucke. Das haben Sie ja schon an dem einen oder anderen Text gemerkt. Zum Beispiel, wenn meine Kinder abends unterwegs sind und vergessen, mich zu benachrichtigen, wo sie sich aufhalten und wann sie beabsichtigen, nach Hause zu kommen. Meine darauffolgenden Panikattacken hatte ich bereits erwähnt.

Zumindest in diesem Punkt, ich muss mir auf die Schulter klopfen, hab ich jüngst Fortschritte gemacht. Bin viel entspannter als früher. Fast schon cool.

Dafür aber entwickle ich jetzt, pünktlich zur Feriensaison hin, eine ganz neue Qualität von Sorgen: die, wenn die Kinder verreisen. Weit weg, einfach so, ohne Mutti, mit dem Flieger weiss Gott wohin. Da kann so unglaublich viel passieren, das überfordert sogar meine äusserst lebhafte Fantasie.

Und je weiter entfernt die Destinationen, desto schlimmer natürlich. Denn wenn sich die Kinder hier in der Nähe aufhalten würden, könnte ich im Notfall wenigstens in den Zug steigen und sie heldenhaft aus allen misslichen Situationen befreien, ob sie das nun wollen oder nicht. Aber wenn sie sich auf anderen Kontinenten aufhalten? Herrje…!

Bei solchen Gelegenheiten muss ich dann immer an meine eigene Jugend denken. Damals reiste ich gerne und oft und viel weiter, als ich das heute noch tue. Zum Beispiel mit meiner Cousine in ein Kibbuz nach Israel.

Meine Eltern haben uns zum Flughafen gebracht und wussten, dass wir so in drei Monaten wieder zurückkommen würden. Circa. Viel mehr aber nicht. Sie hatten vielleicht noch die Adresse des Kibbuz, aber den haben wir bereits nach einer Woche wieder verlassen. Und von da an sind wir kreuz und quer durch Israel und Ägypten gereist.

Fröhlich, vielleicht etwas naiv und sehr unbesorgt. Ist nie irgendetwas passiert, keine auch nur annähernd gefährliche Situation, gar nix. Aber das konnten meine Eltern ja nicht wissen. Und anrufen konnten sie auch nicht. Gar kein Kontakt war möglich, ausser ich erinnerte mich alle zwei Wochen mal daran, mich bei ihnen zu melden.

Aus irgendeiner Telefonkabine oder einem Telefonshop am Ende der Welt, mit einem Collect Call. Funktionierte manchmal, oft aber auch nicht. Sie hatten also null Informationen, keine E-Mails, keine WhatsApp-Nachrichten oder Instagram-Posts in Echtzeit. Wenn uns irgendwas passiert wäre, hätte es Monate gedauert, bis sie das erfahren hätten.

Sie mussten einfach mit der Ungewissheit leben. Und vertrauen. Vertrauen darauf, dass wir wissen, wie wir uns zu verhalten haben (naja, das wussten wir rückblickend nicht immer so wirklich) und dass das Schicksal uns unversehrt wieder nach Hause bringt.

Vielleicht sahen sie es auch als normalen Ablöseprozess an. Oder es war leichter, loszulassen, weil man wusste, man hat eh keinen Einfluss mehr. Unvorstellbar aus heutiger Sicht. Aber irgendwie gesünder als mein heutiges Kontrollbedürfnis. Ob ich das auch hinkriege, das mit dem Vertrauen? Bald hab ich die Gelegenheit, mich darin zu üben.

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