Die englische Verrücktheit

In den letzten Monaten dachte ich mir beim Zeitunglesen oftmals: «Die spinnen, die Briten!» Tatsächlich habe ich diese Verrücktheit schon früher erlebt: Ich wohnte eine Zeit lang mit meiner Familie in London und da gab es einiges, was mir anders vorkam. Der Schulweg, zum Beispiel: So war es keinem Primarschulkind erlaubt, alleine zur Schule zu kommen oder von der Schule alleine nach Hause zu gehen. Sogar ein Junge aus meiner Klasse, der in der Strasse wohnte, an der sich die Schule befand, durfte die paar Schritte zur Schule nur unter höchst sicherer Begleitung seiner Mutter gehen. Zusätzlich gab es bei der Strasse, die zur Schule führt, eine «Lollipop-Lady». Ich war enttäuscht, als ich merkte, dass diese nicht für das Verteilen von Lollipops zuständig war, sondern sie führte die Schüler*innen sicher über die Strasse mit einem Schild, das die Form eines grossen Lollipops hatte. Die Namen meiner Mitschüler*innen: «Trinity», nach der heiligen Dreieinigkeit, «Gem», der Diamant, oder «Godsgift», das Gottesgeschenk – herrlich! Vergessen werde ich auch nie die Namen des Geschwisterpaares «Blue» und «Ocean».
Und dann der Unterricht selber: Ein für mich besonders schwerer Teil waren die «Spelling-Tests», wobei man Worte, die mir wie zufällig zusammengewürfelte Buchstaben vorkamen, beispielsweise neighbour, buchstabieren musste. In Mathematik war man dann dafür nicht so streng, in der vierten Klasse waren wir gerade einmal beim Einmaleins. Dies bekam ich zu spüren, als ich zurück in die Schweiz kam: Während ich stolz war, sechs mal sieben im Kopf ausrechnen zu können, war das Thema der Schweizer*innen schon das schriftliche Dividieren… In Geschichte war das Thema «Henry the 8th» und seine zahlreichen Frauen das wohl Wichtigste. Es wurde erwartet, dass wir genauestens über jede Ehefrau (und deren Tode) Bescheid wussten.
Als es einmal schneite, in England eine absolute Seltenheit, und sich meine Mutter lediglich Gedanken dazu machte, welche der aus der Schweiz mitgebrachten Schuhe für das Winterwetter taugten, kam der Anruf, dass die Schule wegen des Wetters geschlossen würde: Alle Schüler*innen hatten wegen der paar Schneeflocken sofort schulfrei! Und natürlich ist da diese unglaubliche Obsession mit der Queen of England, von der auch das neunjährige Ich bald angesteckt wurde. So kam es, dass ich und meine Freundin Zeichnungen bastelten, auf denen Kronen abgebildet waren, mit goldenem Stift und viel aufgeklebtem Glitzer, versteht sich. Diese Kunstwerke schickten wir mit einem Begleitbrief an die Queen herself. Und siehe da: Die Queen selber antwortete zwar nicht auf unsere Fanpost, jedoch eine «Lady-in-Waiting», eine ihrer Sekretärinnen. Diesen Brief habe ich heute noch, ein Beweisstück dafür, dass wir wohl alle irgendwo ein Stück englische Verrücktheit in uns tragen.

Lina Gisler, Praktikantin

0 Kommentare


Themen entdecken