Der Flug der Weinschwärmer

Der Höngger-Krimi erschien 2009 als Fortsetzungsgeschichte in 31 Teilen in der Quartierzeitung «Höngger». Die dem «Höngger» bekannte Autorenschaft will ungenannt bleiben.  Personen und Geschichte sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt. Alle Rechte liegen beim Verlag Höngger GmbH.

1. Die Schuhe der Zwillinge

«Meine Güte, müssen die Zwyssig-Zwillinge denn um diese Zeit und bei dieser Kälte draussen noch herumschreien?», ärgerte sich Francis Fitou, stand vom Klavier auf und lief ins obere Stockwerk, von dem aus er den Garten seiner Nachbarn am Engadinerweg überblicken konnte. Es war Dienstagabend um 17 Uhr und bereits halb dunkel – die dicke Hochnebeldecke hatte sich tagsüber einmal mehr nicht aufgelöst –, doch die beiden sechsjährigen Kinder waren deutlich auf der beleuchteten kleinen Treppe vor der Haustüre zu erkennen. Francis öffnete das Fenster. «Sereina, Adrian, was ist denn los?», rief er den Kindern zu, aber diese übertönten sein Rufen mit ihren Schreien. «Papi, Papi!», schrien sie ununterbrochen und hebelten abwechslungsweise an der Klinke der offensichtlich verschlossenen Haustüre. Und im Haus brannte kein einziges Licht. Das erschien Francis nun doch sehr merkwürdig. Weshalb war die Türe verschlossen und wo war Marina? Sie holte die Kinder doch immer vom Kindergarten ab. Schnell lief er die Treppe hinunter, zog sich einen Mantel über und griff nach dem Hausschlüssel seiner Nachbarn, den sie ihm gegeben hatten, weil Francis stets ihre Pflanzen goss und zum Haus schaute, wenn sie in den Ferien weilten. Als er durch den Schnee stapfte, sah er, dass die Kinder noch ihre Kindergartenkleider trugen – Marina unterschied genau zwischen Schul- und Freizeitbekleidung bei ihren Kindern. «So, jetzt beruhigt euch doch einmal. Wir wollen schauen, wo eure Mami ist», versuchte Francis zu beschwichtigen, als er an der Türe klingelte, aber das Schreien der Kinder wurde bloss noch lauter. Erst als er die Türe aufschloss, verstummten die Zwillinge und wollten sich an ihm vorbeidrücken. «Halt, zuerst zieht ihr eure Schuhe aus!», befahl Francis mit ausgebreiteten Armen und versperrte den Kindern den Weg ins Haus. Dass die Schuhe der Zwillinge stark beschmutzt von feuchter Erde waren, fi el ihm zwar sofort auf, doch hatte er keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Kinder stürmten in ihren Socken ins dunkle Haus, eilten durch alle Zimmer und riefen wieder ununterbrochen nach ihrem Vater, der um diese Zeit noch in seinem Büro in der Stadt sein musste. Francis kippte jeden Lichtschalter, an dem er vorbeikam, und trat in die Küche. Hier sah alles danach aus, als wäre Marina mitten in den Vorbereitungen für das Nachtessen davongelaufen. Dies war auch nicht weiter verwunderlich, wenn sie, bevor sie die Kinder vom Kindergarten abholte, solche Vorbereitungen getroffen hatte. Nachdem Francis in allen Zimmern nach Marina gesucht hatte, war das Haus hell beleuchtet und er fand die Zwillinge unten im Wohnzimmer. Sie waren damit beschäftigt, sich gegenseitig ein hellblaues Spielzeugtelefon aus den Händen zu reissen und vollkommen aufgeregt in Kauderwelsch zu argumentieren. Das einzige Wort, das Francis vom Geschwätz der sonst so sprachgewandten Kinder regelmässig verstand, war «Papi». «Ja, ich rufe jetzt sofort euren Papi an», sagte Francis, doch die Kinder hörten nicht auf ihn und führten mit tränenüberströmten Wangen ihren Geheimdialog weiter. Sven war wie erwartet noch im Büro und nahm den Anruf von Francis gleich entgegen. Er werde sofort nach Hause fahren, versprach er Francis, er solle versuchen, die Zwillinge irgendwie zu beruhigen. Gegen 18 Uhr hörte man dann das laute Sirenengeheul mehrerer Polizeiwagen, welche vom Dorf – wie die Leute am Berg das Zentrum des grossen Stadtquartiers noch immer nannten – her kommend die Michelstrasse hinauf fuhren und in den Engadinerweg einbogen.

2. Zurück in Höngg

Es war eine klirrend kalte Nacht, als Lucille Aschwanden mit dem Auto von Regensdorf her durch den Grünwald fuhr. Auf dem Hintersitz döste Lena, Lucilles Hündin, vor sich hin. Eigentlich war Lucille selber «hundemüde» von der achtstündigen Fahrt aus dem Burgund und kämpfte zusehends mit dem Schlaf. Plötzlich tauchte am Strassenrand eine alte Frau auf, gebeugt und in seltsamen Jute-Kleidern, die in lumpigen Fetzen an ihrer hageren Gestalt hingen. Lucille trat auf die Bremse und forderte sie winkend auf, die Strasse zu überqueren. Doch sie stand einfach da, das Gesicht abgewandt, als sähe sie unten im Limmattal die Sintfl ut kommen, und umklammerte mit ihren knorrigen Händen ein rundliches Paket. Lena begann zu knurren und Lucille lief es kalt den Rücken hinunter. Das Auto rollte einfach weiter, an der schaurigen Gestalt vorbei, und schnell trat Lucille auf das Gaspedal und raste aus dem Wald. Sie war hellwach und so auch Lena, die ihr ihre feuchte Schnauze in den Nacken drückte. Als Lucille, noch ganz beunruhigt, in die Imbisbühlstrasse einbog, schien das Hundehirn bereits wieder alles vergessen zu haben und Lena begann freudig zu bellen. Lucille hätte nicht gedacht, dass Lena sich noch an das Haus ihres Onkels Hans erinnerte. Aber natürlich war es nicht das, woran sie sich erinnerte, sondern an Annie, die gute Fee des Onkels, oder genauer gesagt an die Hundekuchen in Annies Hosentaschen. Und da trat Annie aus dem Haus, als ob sie morgens um halb zwei auf die späten Gäste gewartet hätte. Niemand fühlte sich auch nur im Geringsten beleidigt, als Annie zuerst Lena begrüsste und ihr das Erwartete zusteckte. «Du siehst blendend aus, Lucille», liess Annie verlauten, wie sie das tat, seit Lucille zwanzig war. Und Lucille glaubte es ihr immer wieder gerne, obwohl sie dieses Blenden in keinem ihrer Spiegel erkannte. Annie hatte bereits den Mantel um und wollte sich auf keinen Fall dazu überreden lassen, wenigstens noch einen Kaffee zu trinken. «Nein, nein, das können wir irgendwann nachholen. Richte dich jetzt zuerst in deinem neuen Heim ein», sagte sie, wandte sich ab und ging eiligen Schrittes aus dem Gartentor, das genauso ächzte wie früher. «Mein neues Heim, ja, das tönt vollkommen fremd für mich, so vertraut mir das Haus von Hans auch ist», dachte Lucille. Es sollte jetzt ihres sein. Hans hatte ihr vor zwei Monaten in einem Mail geschrieben, dass er nun ins Altersheim ziehe. Und es wäre schön für ihn zu wissen, dass sie das Haus übernehmen werde. Einfach so, einfach Onkel Hans, egal, was immer Lucille dachte, tat oder wollte. Dass sie vielleicht an ihrem Job als Informatikerin hing oder dass sie vielleicht einen Freundeskreis verlassen musste, den sie sich in all den Jahren im Burgund aufgebaut hatte – egal, einfach so, einfach Onkel Hans. Und irgendwie auch nicht verwunderlich: Kannte er seine Nichte doch mehr als gut genug. Ja, es war an der Zeit für einen Wechsel, ja, es war machbar und sogar wünschenswert, die Zelte abzubrechen und nach Hause zu gehen. Zurück dahin, wo Lucille ihre Kindheit verbracht hatte, nach Hause, einfach nach Höngg.

3. Das Haus von Onkel Hans

Kaum öffnete Lucille die Haustüre, drückte sich Lena an ihr vorbei und rannte bellend voran, offensichtlich Onkel Hans suchend, der in Sachen Hundeverwöhnung keinen Zoll hinter Annie stand. Es war ein ergreifender Moment für Lucille, das Haus von Hans zu betreten, das nun das Ihrige sein sollte. Geradeaus befand sich das Wohnzimmer mit einer Glastürenfront zum Garten. Lucille trat rechts in die Küche, die gegen das Wohnzimmer hin offen war. Die Küche musste vor kurzem renoviert worden sein – sie war vollkommen modern eingerichtet. Nur die schmale Türe zur Kellertreppe erinnerte noch an früher und Lucille schmunzelte darüber, wie bei ihr als Kind jeweils die Neugierde über die Angst gesiegt hatte und sie in den finsteren Keller stieg, laut mit sich selber redend und die Türe weit offen stehen lassend, damit sie die beruhigende Anwesenheit der Erwachsenen stets hören konnte. Und als grösste Mutprobe galt es jeweils, den Vorratsschrank zuhinterst in der Ecke ein wenig zu öffnen, gerade so weit, dass sie das darin wohnende Gespenst erspähen konnte. Es bewegte sich immer, worauf Lucille die Schranktüre zuknallte und zurück nach oben stürmte. Ja, das waren so Kindheitserinnerungen, aber trotz ihres Schmunzelns mochte Lucille jetzt nicht in den Keller hinuntersteigen und nachsehen, ob das Gespenst ihrer Kindheit noch da war. In der Küche waren Kühlschrank und Vorratsschränke gefüllt mit allem, was ein Menschen- und ein Hundeherz begehren könnten. Dies musste Annies Werk gewesen sein. Mit einer Tasse heisser Schokolade stieg Lucille die Wendeltreppe ins Obergeschoss empor. Hier befanden sich zwei Zimmer und das Badezimmer. Auch dieses war neu und hätte aus einem Katalog für Bädergestaltung stammen können. Im einen Zimmer stand ein frisch bezogenes Bett, doch sonst fehlten jegliche Möbel. Lieber Onkel Hans, er wollte, dass sich Lucille von Anfang an ganz nach ihrem Geschmack einrichten konnte, jedoch modernsten Komfort im alten Haus vorfi nden sollte. Erschöpft, aber glücklich legte sich Lucille nach einer wohltuenden Dusche schlafen. Sie konnte Lenas beruhigendes feines Schnarchen unten im Wohnzimmer hören. Lena mochte die Wendeltreppe gar nicht und so war es auch kein Problem ihr beizubringen, dass sie im Wohnzimmer schlafen musste. In Gedanken ging Lucille nochmals durch alle Räume, stellte sich die alte Einrichtung von Hans vor und nahm davon Abschied. Sie begann sich die Neueinrichtung auszumalen, sich auf ihre Zukunft hier in Höngg zu freuen und schlief friedlich ein. Doch bald hatte sie einen Albtraum: Sie lag bäuchlings auf einem Estrichboden und schaute durch eine Spalte zwischen zwei Bodenbrettern in einen schwach beleuchteten, kapellenähnlichen Raum hinunter. Das flackernde Kerzenlicht warf unheimliche Schatten von den Gestalten, die stumm herumstanden, an die weisslichen, stellenweise rauchgeschwärzten Wände. Die Leute waren alle in zerfetzte Jutekleider gehüllt und trugen Kapuzen, die ihre Gesichter verdeckten. Irgendwie wurde Lucille im Traum bewusst, dass dies nur ein Traum war, ihr erschien das alles wie in einem abgetretenen Horrorfilm. Trotzdem packte sie eine furchtbare Angst vor etwas Unbekanntem und sie wachte schweissüberströmt auf.

4. Grausiger Fund im Wald

Nach dieser unruhigen Nacht und einem ausgiebigen Frühstück rief Lucille als erstes Annie an, um ihr herzlich zu danken für all die Vorbereitungen, die sie getroffen hatte, damit Lucille sich im Haus von Onkel Hans sofort zuhause fühlen konnte. «Hast du gut geschlafen, Lucille?», fragte Annie ohne weitere Begrüssung. «Es geht so, ich hatte einen furchtbaren Traum.» Lucille schilderte Annie ihren Albtraum. «Ja, du solltest halt nicht den ‹Höngger› lesen vor dem Zubettgehen», bemerkte Annie. «Die Quartierzeitung las ich vor vielen Jahren das letzte Mal, auf der Zugfahrt ins Burgund, damit ich noch ein Stück Heimat in Händen hielt.» «Dann schau jetzt gleich die Titelseite an.» Annie hängte das Telefon auf, wie immer wortkarg und sehr praktisch ausgerichtet. Lucille konnte ihr nicht einmal von der seltsamen nächtlichen Begegnung im Grünwald erzählen. Lena schaffte es gerade, die Terrassentüre zu öffnen und sprang hinaus in den Garten, als sich Lucille im Wohnzimmer hinsetzte. Weil Annie die Zeitung bereits gelesen und auf ihre Weise zusammengefaltet hatte, blieb Lucille zuerst an einem Bericht über die Höngger Vereine hängen und staunte über deren Vielfalt. «Grausiger Fund im Wald», stand dann auf der Titelseite in fetten Lettern. «Am letzten Mittwochmorgen früh machte ein Jogger im Wald beim Schützenhaus einen schrecklichen Fund. Er entdeckte gleich neben dem Weg die Leiche einer Frau. Sie war auf dem Boden sitzend an den Stamm einer Eiche angelehnt, die starren Augen gegen die Baumkrone gerichtet, der Hals blutverschmiert, die Hände im Moos der Baumwurzeln verkrallt. Ihre Kleidung bestand aus zerrissenen Jutelumpen. Die Tatwaffe, ein Rebmesser mit den Buchstaben CV im hölzernen Griff eingeritzt, lag in unmittelbarer Nähe. Laut Polizeiangaben handelt es sich bei der Toten um die 32-jährige Marina Zwyssig, verheiratete Mutter von 6-jährigen Zwillingen, wohnhaft gewesen am Engadinerweg. Die bisherigen Ermittlungen ergaben, dass Frau Zwyssig am Dienstagnachmittag um 16 Uhr die Zwillinge im Kindergarten beim Schulhaus Riedhof abholte. Rund eine Stunde später wurde ein Nachbar der Familie Zwyssig auf lautes Schreien und Weinen aufmerksam und fand die Zwillinge vollkommen verstört im Garten vor. Bisher war es nicht möglich, von den unter Schock stehenden Kindern Hinweise über das Geschehene zu erhalten. Ihre stark verschmutzten Schuhe deuteten darauf hin, dass sie sich im Wald aufgehalten haben könnten. Von Frau Zwyssig fehlte bis zu ihrem Auffinden durch den Jogger jede Spur. Die Polizei bittet die Bevölkerung, jede Beobachtung im Zusammenhang mit dem Aufenthalt von Marina Zwyssig zwischen Dienstag, 16 Uhr und Mittwochmorgen oder Hinweise zum Rebmesser dem Polizeiposten in Höngg oder jeder anderen Polizeidienststelle zu melden.» Das war ja furchtbar. Lucille konnte das Bild von der in Lumpen gehüllten Gestalt, die sie gestern Nacht im Grünwald gesehen hatte, nicht mehr loswerden. Aber vielleicht war die Gestalt ja wie der Albtraum auch einfach ihrer Fantasie entsprungen, weil sie so müde war von der langen Fahrt. Nur, wie kam sie dazu, sich diese Lumpenkleidung einzubilden? Das war schon ein bedenklicher Zufall.

5. Zwei Freunde

Am Samstagmorgen kamen die Zwyssig-Zwillinge immer zu Francis in die Klavierstunde. Jetzt, unter diesen schrecklichen Umständen, war dies natürlich undenkbar, obwohl es den beiden vielleicht etwas Ablenkung gebracht hätte. Diese Gedanken gingen Francis durch den Kopf, als er sich dem Einfamilienhaus näherte und an der Türe klingelte. Sven öffnete sofort, als hätte er auf seinen Freund gewartet. Er sah sehr blass und mitgenommen aus und hatte wohl in letzter Zeit kaum geschlafen oder etwas gegessen. «Komm herein», murmelte er vor sich hin. Er, der er sonst vor Lebensfreude strotzte und Gastfreundschaft nur in Grossbuchstaben schrieb, stand regungslos im Flur. Francis stellte eine Unordnung fest, wie sie nicht üblich war bei den Zwyssigs. Vermutlich hatte die Polizei alles durchsucht und Sven verfügte verständlicherweise nicht über die Kraft aufzuräumen. «Komm, setzen wir uns in die Küche», schlug Francis vor und schaltete die Kaffeemaschine ein. «Die Kinder sind bei ihrer Grossmutter im Rütihof», sagte Sven, als er sich an den Küchentisch setzte. «Dann hast du wenigstens etwas Ruhe», meinte Francis. «Zu viel Ruhe – alles ist so still hier im Haus. Wenn ich nur wüsste, wie es weitergehen soll.» Nach dem Kaffee führte Sven seinen Freund ins Schlafzimmer, wo auf dem Boden ein grosser Haufen von Frauenkleidern lag. «Ich durchsuche alles von Marina und ich weiss nicht, wonach ich suche. Die Polizei hat mir so viele Fragen gestellt, auf die ich keine Antworten wusste. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, dass sie mich verdächtigt. Und irgendwie kommt es mir vor, als hätte ich Marina überhaupt nicht gekannt.» «Du darfst dich jetzt nicht hintersinnen, Sven, versuche vorwärts zu schauen», versuchte Francis zu beruhigen, doch Sven fuhr fort: «Bevor ich nicht weiss, was geschehen ist, werde ich keine Ruhe mehr finden. Niemals hätte Marina die Kinder freiwillig auf dem Heimweg alleine gelassen. Was ist ihr zugestossen und wo? Und was davon haben die Kinder mitbekommen? Nirgends, gar nirgends fand ich irgendwelche Jutekleider, nicht einmal bei Marinas Nähmaterial war ein Fetzen Jute. Woher hatte sie also diese schrecklichen Kleider?» Sven drehte sich jäh um und hastete die Treppe hinunter ins Kellergeschoss. Als Francis dort in den Werk raum trat, öffnete Sven gerade einen Schrank mit Gartenwerkzeugen. «Siehst du hier irgendwo ein Rebmesser?», fragte er mit zitternder Stimme, «Die Polizei liess nicht locker, dabei haben wir gar keine Reben im Garten! Marina und ich hatten sehr verschiedene Meinungen zur Gartenbepflanzung. Statt Reben bei der Pergola bestand sie auf rankendem Geissblatt, Baldrian konnte sie nie genug pflanzen, unscheinbare Weidenröschen fand sie schön und Fuchsien, immer diese Fuchsien!», Sven verschlug es kurz die Sprache, «jetzt können wir unsere Gartendiskussionen nie mehr führen.» Francis spürte, dass es für Sven sehr wichtig war, all seine finsteren Gedanken und Ängste zu formulieren und so schlug er ihm vor, dass er abends ein feines Essen vorbereiten und eine gute Flasche Wein öffnen werde und dann könnten sie ihr Gespräch weiterführen. Sven nahm die Einladung sofort an, denn die Einsamkeit war ihm unerträglich.

6. Besuch bei Onkel Hans

Die freundliche Dame bei der Information in der Altersresidenz Im Brühl erklärte Lucille, wo sich die Wohnung von Hans befand. Vorbei an wunderschönem Blumenschmuck betrat Lucille den Lift und klingelte, im obersten Stock angekommen, an der Wohnungstüre von Hans. Und da stand er vor ihr, gross und aufrecht, so wie sie ihn in Erinnerung hatte. Seine hellblauen Augen hatten noch immer diesen schelmischen Blick, den er schon auf all seinen Kindheitsfotos hatte – er musste ein schlimmer Lausbub gewesen sein und soll stets Streiche ausgedacht haben, die er auch ausführte. Er bat sie herein und da befanden sich auch viele seiner Möbel, Bilder und Bücher in den zwei hellen Räumen, die nun sein Zuhause waren. «Jetzt, wo ich weiss, dass du in meinem Haus lebst, gefällt es mir hier noch besser», meinte er schmunzelnd und schnell waren die beiden in ein Gespräch vertieft, das sie immer wieder durch ein herzliches Lachen unterbrachen. Sie hatten sich unendlich viel zu erzählen und die Zeit verging wie im Flug. Erst als sie sich verabschiedeten, kam Lucille das furchtbare Ereignis in den Sinn und sie fragte Hans, ob er mehr darüber wisse. «Das musste so kommen, das Ziel war von Anfang an zu hoch gesteckt», sagte Hans mit plötzlich heiserer Stimme und sein Blick erstarrte auf seltsame Weise. «Was musste so kommen und welches Ziel war zu hoch gesteckt?», fragte Lucille verdutzt. «Welches Ziel? Und sind Sie nicht die Cousine meiner Mutter? Weshalb sind Sie hier und was wollen Sie eigentlich von mir?» Lucille erschrak mächtig, erhob sich und lief zur Türe. Sie drehte sich nochmals um, aber Hans war nicht wiederzuerkennen, wie er regungslos in seinem Sessel sass, die Pantoffeln anstarrte und einen leisen Summton von sich gab. Ja, Annie hatte sie gewarnt und doch hatte sie es nicht wahrhaben wollen. Hans war sehr alt und sein Hirn ging oft seine eigenen Gedankenwege. Und er wusste es und das war auch ein Grund, weshalb er nicht mehr in seinem Haus wohnen und zusehends von Annies Hilfe abhängiger werden mochte. Traurig, aber dankbar für das Gespräch, das ja mehrheitlich ganz normal verlaufen war, fuhr Lucille mit dem Lift in die Empfangshalle zurück. Dort glaubte sie, Annie hinten bei den Briefkästen verschwinden zu sehen, doch als diese auf ihr Zurufen hin sich nicht umdrehte, dachte Lucille, sie hätte sich getäuscht. Auf dem Heimweg tauchte plötzlich eine vage Erinnerung aus ihrer Kindheit auf von Grabhügeln im Wald, welche die Leute immer wieder fasziniert und Träume und Hoffnungen bei ihnen ausgelöst hatten. Die allgemein bekannteren Grabhügel befanden sich im Heizenholz, dort stand auch eine Tafel mit den Erklärungen zu den Funden aus der Eisenzeit. Aber da gab es doch auch noch andere Grabhügel, irgendwo hinter dem Schützenhaus. Lucille erinnerte sich genau, wie die Lehrerin auf einer Klassenwanderung darüber berichtet hatte und ihnen die flachen Erhebungen gezeigt hatte. Sie beschloss, den anschliessenden Spaziergang mit Lena der Suche nach diesen weniger bekannten Grabhügeln in der Nähe des Schiessstandes zu widmen. Ob sie diese wohl noch finden würde nach all den Jahren?

7. Auf Einkaufstour

Francis hatte nach dem Besuch bei seinem Freund die Kochbücher studiert, einen langen Einkaufszettel geschrieben und begab sich die Michelstrasse hinunter ins Dorf. Er kannte viele Leute in Höngg, sei es aus seiner Kindheit oder von den Klavierstunden, die er erteilte. Und zusätzlich sprang er auch immer wieder als Organist in der Kirche ein. So war seine Einkaufstour ein eigentlicher Spiessrutenlauf und dauerte länger, als er geplant hatte. Alle überhäuften ihn mit Fragen zum schrecklichen Ereignis und hofften, dass er mehr wisse als sie. Doch was konnte und wollte er den Leuten schon sagen? Mehr als im «Höngger» stand, wusste er auch nicht und wie schlecht es Sven ging, konnte sich jeder selber ausmalen. Vor der Post wurde er in das Gerücht eingeweiht, wonach Marina auf einem der alten Grabhügel tot aufgefunden worden sei. Ja, er erinnerte sich daran, in der Schule von diesen Grabhügeln im Wald gehört zu haben, aber wo genau sie sich befanden und was es mit ihnen auf sich hatte, mochte er nicht mit spekulieren. In der Metzgerei hatten doch tatsächlich zwei darüber spintisiert, ob Marina wohl schwarze Magie betrieben habe und in irgendetwas Schreckliches verwickelt gewesen sei, das sie selber heraufbeschworen hatte. Sie sei doch in letzter Zeit öfters in dunklen Kleidern gesehen worden, was für so eine junge Frau wirklich nicht schicklich war. Und was er denn davon halte, er, der er doch die Familie Zwyssig als ihr Nachbar und Freund sehr gut kennen müsse. In der «Weinlaube» glaubte er endlich etwas Ruhe gefunden zu haben, als er sich zum geplanten Menü passende Weine aussuchte. Er erschrak richtig, als plötzlich eine gellende Stimme hinter seinem Rücken erschallte: «Herr Fitou, wie gut, dass ich Sie endlich sehe! Sie haben doch als Erster mit diesen unerzogenen Kindern geredet und Kinder und Narren erzählen bekanntlich ja die Wahrheit. Was haben Sie von diesen Bengeln erfahren?» Francis drehte sich um und schaute in das runzelige Gesicht einer Frau, die an der Segantinistrasse wohnte. Sprachlos begab er sich zur Kasse und etwas später war er richtig erleichtert, als er in der Bäckerei ein fremdes Gesicht hinter der Theke erblickte und auch keine weitere Kundschaft antraf. «Ja, das ist mein erster Arbeitstag hier», bestätigte die freundliche Dame seine Annahme. «Am Dienstagabend konnte ich eine Wohnung an der Segantinistrasse besichtigen, die mir eigentlich sehr gefallen hätte, aber als ich dann erfuhr, was sich dort ganz in der Nähe ereignet hatte, war mir derart unwohl, dass ich dem Hauseigentümer gleich eine Absage erteilte.» Bevor sich noch ein weiteres Gespräch hätte entwickeln können, verabschiedete sich Francis und trat aus der Bäckerei. Da sah er einen Rotschopf auf der anderen Strassenseite vor der Kantonalbank vorbeieilen und irgendwie kam ihm die Hektik der Bewegungen der Frau sehr bekannt vor. Wenn es etwa 30 Jahre früher gewesen wäre, hätte er geglaubt, seine Schulkollegin Lucille erkannt zu haben, doch Lucille war seines Wissens weit weg im Burgund. Beladen mit vielen schweren Taschen machte er sich auf den Heimweg den Holbrig hinauf, ganz versunken in die Kochrezepte, die er heute Abend für das Essen mit Sven ausprobieren wollte.

8. Auf Einkaufstour

Francis hatte nach dem Besuch bei seinem Freund die Kochbücher studiert, einen langen Einkaufszettel geschrieben und begab sich die Michelstrasse hinunter ins Dorf. Er kannte viele Leute in Höngg, sei es aus seiner Kindheit oder von den Klavierstunden, die er erteilte. Und zusätzlich sprang er auch immer wieder als Organist in der Kirche ein. So war seine Einkaufstour ein eigentlicher Spiessrutenlauf und dauerte länger, als er geplant hatte. Alle überhäuften ihn mit Fragen zum schrecklichen Ereignis und hofften, dass er mehr wisse als sie. Doch was konnte und wollte er den Leuten schon sagen? Mehr als im «Höngger» stand, wusste er auch nicht und wie schlecht es Sven ging, konnte sich jeder selber ausmalen. Vor der Post wurde er in das Gerücht eingeweiht, wonach Marina auf einem der alten Grabhügel tot aufgefunden worden sei. Ja, er erinnerte sich daran, in der Schule von diesen Grabhügeln im Wald gehört zu haben, aber wo genau sie sich befanden und was es mit ihnen auf sich hatte, mochte er nicht mit spekulieren. In der Metzgerei hatten doch tatsächlich zwei darüber spintisiert, ob Marina wohl schwarze Magie betrieben habe und in irgendetwas Schreckliches verwickelt gewesen sei, das sie selber heraufbeschworen hatte. Sie sei doch in letzter Zeit öfters in dunklen Kleidern gesehen worden, was für so eine junge Frau wirklich nicht schicklich war. Und was er denn davon halte, er, der er doch die Familie Zwyssig als ihr Nachbar und Freund sehr gut kennen müsse. In der «Weinlaube» glaubte er endlich etwas Ruhe gefunden zu haben, als er sich zum geplanten Menü passende Weine aussuchte. Er erschrak richtig, als plötzlich eine gellende Stimme hinter seinem Rücken erschallte: «Herr Fitou, wie gut, dass ich Sie endlich sehe! Sie haben doch als Erster mit diesen unerzogenen Kindern geredet und Kinder und Narren erzählen bekanntlich ja die Wahrheit. Was haben Sie von diesen Bengeln erfahren?» Francis drehte sich um und schaute in das runzelige Gesicht einer Frau, die an der Segantinistrasse wohnte. Sprachlos begab er sich zur Kasse und etwas später war er richtig erleichtert, als er in der Bäckerei ein fremdes Gesicht hinter der Theke erblickte und auch keine weitere Kundschaft antraf. «Ja, das ist mein erster Arbeitstag hier», bestätigte die freundliche Dame seine Annahme. «Am Dienstagabend konnte ich eine Wohnung an der Segantinistrasse besichtigen, die mir eigentlich sehr gefallen hätte, aber als ich dann erfuhr, was sich dort ganz in der Nähe ereignet hatte, war mir derart unwohl, dass ich dem Hauseigentümer gleich eine Absage erteilte.» Bevor sich noch ein weiteres Gespräch hätte entwickeln können, verabschiedete sich Francis und trat aus der Bäckerei. Da sah er einen Rotschopf auf der anderen Strassenseite vor der Kantonalbank vorbeieilen und irgendwie kam ihm die Hektik der Bewegungen der Frau sehr bekannt vor. Wenn es etwa 30 Jahre früher gewesen wäre, hätte er geglaubt, seine Schulkollegin Lucille erkannt zu haben, doch Lucille war seines Wissens weit weg im Burgund. Beladen mit vielen schweren Taschen machte er sich auf den Heimweg den Holbrig hinauf, ganz versunken in die Kochrezepte, die er heute Abend für das Essen mit Sven ausprobieren wollte.

9. Spaziergang mit Lena

Lena sprang hinter dem Fenster neben der Haustüre freudig auf und ab, als sie das Gartentor ächzen hörte und in ihren Augen stand deutlich geschrieben: Spaziergang. Ja, ja, das war es genau, was Lucille ihr versprochen und auch nicht vergessen hatte. Lucille nahm Lena an die Leine und lief mit ihr los, die Imbisbühlstrasse hinab und auf dem Wildenweg entlang den Bombach hinauf auf den Berg. Diesen Weg könnte Marina Zwyssig an jenem Dienstag mit ihren Kindern gegangen sein, schoss es Lucille durch den Kopf. Vom Kindergarten Riedhof zum Engadinerweg wäre das ein schöner Heimweg. Nur konnten die drei damals nicht ahnen, was ihnen Schreckliches bevorstünde. Lucille versuchte, diese furchtbaren Gedanken zu vertreiben, und konzentrierte sich auf die Schönheiten der Umgebung. Die unmittelbare Nähe zur Natur war etwas, was Lucille an Höngg immer geschätzt hatte. Der Obstgarten am Ruggernweg, gepflegt vom Natur- und Vogelschutzverein, war in den letzten Jahren mit jungen Bäumen aufgewertet worden und die Kopfweiden standen auf der Höhe des Friedhofes wie eine kleine Armee von Gnomen entlang des Weges und luden direkt ein in den Wald. Lena schoss mit einem anderen Hund über die Wiese und liess sich mehrmals von Lucille bitten, an die Leine genommen zu werden. Auf der Mittelwaldstrasse kreuzten die beiden viele Spazierende, die alle grüssten, so wie es sich in Höngg gehörte, und zu Lenas Freude führten die meisten von ihnen Hunde mit. Auf der Höhe der Kappeliholzstrasse stand eine kleine Gruppe von Leuten eng beisammen, die Köpfe gesenkt und in ein offenbar ernstes Gespräch vertieft. Lena steuerte schnurstracks auf die Gruppe zu, drängte sich in deren Mitte und begrüsste den anwesenden Terrier. So fand sich Lucille selber inmitten der Gruppe. Sie entschuldigte sich höflich und grüsste die Leute. «Wissen Sie, das hier ist die Eiche, bei der die tote Frau gefunden wurde», erklärte ein junger Mann und zeigte auf die mächtige Eiche, zwischen deren Wurzeln die Leute bereits Kerzen und Blumen gelegt hatten. «Wir reden gerade darüber, wie es zu so einer schrecklichen Tat an diesem unheimlichen Ort bei den Grabhügeln hat kommen konnte», ergänzte eine ältere Frau. Und dann führten sie ihr Gespräch weiter: «Ich traf Marina Zwyssig oft im kleinen Laden unten an der Michelstrasse – so eine nette Frau!» – «Ja, und bei uns im Turnverein hat sie eine Kindergruppe trainiert. Sie war eine ganz beliebte Turnlehrerin.» – «Dabei hatte sie es wirklich nicht leicht. Ihr Mann soll ja unter Depressionen leiden, hörte ich sagen.» – «Er ist ja auch manchmal so wortkarg und zugeköpft, fast unfreundlich, könnte man sagen. Vielleicht hat er etwas mit dem Mord an seiner Frau zu tun.» – «Also das ist völlig undenkbar: Glaubst du wirklich, dass er zu so einer Tat fähig wäre? Würde er seine Frau mit einem Rebmesser umbringen, in Lumpen kleiden, sie hierhin schleppen und so dramatisch platzieren?» – «Und das wenn möglich noch vor den Augen der eigenen Kinder?» – «Er muss an jenem Abend in seinem Büro in der Stadt gewesen sein, als ihn der Nachbar, welcher die Kinder im Garten vorfand, anrief, also konnte er gar nicht . . .» – «Genau! Und dieser Nachbar, dieser Herr Fitou, der ist doch angeblich Sänger, und niemand weiss, wie er sich das Geld zum Leben verdient. Weshalb rief der zuerst den Zwyssig und nicht gleich die Polizei an?» «Fitou und Sänger? Das konnte ja wohl nur Françis, mein ehemaliger Schulkollege sein, der schöne Françis mit der goldenen Kehle, wie sie ihn in der Schule hänselten», schoss es Lucille durch den Kopf. Fast musste sie innerlich etwas schmunzeln. Sie haben sich nicht verändert, die Hönggerinnen und Höngger: Das «Dorfgeschwätz» war noch immer fester Bestandteil der Kommunikationskultur. Sie verabschiedete sich von der Gruppe und machte sich mit Lena auf den Heimweg. Zuhause angekommen, schaltete sie als Erstes ihren Computer ein, um die Telefonnummer von Françis herauszufinden.

10. Telefonanruf aus der Vergangenheit

Lucille fand die Adresse von Françis sofort im elektronischen Telefonbuch und griff zu ihrem Handy. Doch dann zögerte sie und staunte ob ihrem Mut. Was wollte sie bloss sagen? Etwa: «Hallo, da bin ich, wir haben über 30 Jahre nichts mehr voneinander gehört!», oder gar: «Hallo, ich bin Lucille, weisst du noch, wie ich dich damals in der ersten Klasse bewundert habe?» Sie kam sich plötzlich blöd vor und legte das Handy zur Seite. Lena stand vor ihr, ihren Spielzeughasen in der Schnauze, und wollte unbedingt spielen. «Jetzt warte noch einen Augenblick», wehrte Lucille ab, griff erneut zum Handy, tippte die Nummer ein und schluckte leer, als sie Françis Stimme hörte: «Grüezi, mein Name ist Lucille Aschwanden. . .» – «Tatsächlich, dann habe ich also doch richtig gesehen vorhin im Dorf!», unterbrach Françis sie sofort. «Lucille! Was für eine Überraschung! Wie geht es dir und was machst du in Höngg?» Lucille erzählte Françis, dass sie jetzt im Haus von Onkel Hans wohne und rasch gingen die Fragen und Antworten zwischen den beiden hin und her. Erinnerungen an die Schulzeit im Schulhaus Imbisbühl wurden ausgetauscht und Lucille neckte Françis, weil ihr Gedächtnis offenbar einiges besser war als seines und so gab ein Wort das andere. «Es tut mir schrecklich leid, aber ich muss unser Gespräch jetzt abbrechen», sagte Françis, nach einem Blick auf die Uhr plötzlich gehetzt, «ich muss sofort in die Küche, denn ich habe heute Abend meinen Freund Sven zum Essen eingeladen. Ich weiss nicht, ob du von diesem furchtbaren Mord im Wald gehört hast – jedenfalls ist Sven der Mann der Ermordeten. Und an sie, Marina, dürftest du dich auch erinnern: Sie war die kleine Schwester von Daniel.» «Ja, ich erinnere mich – das ist wirklich ganz traurig. Auf Wiederhören, Françis, war schön mit dir zu reden.» Lucille wollte Françis auf keinen Fall länger aufhalten. «Nein, warte, Lucille. Wie wäre es, wenn du auch kommst? Wahrscheinlich werden wir den Umständen entsprechend nicht gerade einen fröhlichen Abend verbringen, aber du wirst Sven sicher gut mögen. Er ist wirklich ein liebenswerter Mensch.» – «Ja, ich komme sehr gerne», rutschte es Lucille viel zu schnell heraus, «vielen Dank für die Einladung.» Sie bestand darauf, ein Dessert mitbringen zu dürfen. Jetzt erst wurde es ihr richtig bewusst, worauf sie sich da eingelassen hatte. Eben hatte sie eine Einladung angenommen – von einem alten Schulkollegen, den sie über 30 Jahre nicht mehr gesehen hatte. Und was wohl Sven davon halten wird? Ihm dürfte wohl kaum danach zumute sein, ausgerechnet jetzt eine Fremde kennen zu lernen, jetzt, da er doch bestimmt auf vertrauliche Gespräche mit seinem Freund angewiesen wäre. Einen Moment lang überlegte sich Lucille, ob sie Françis gleich nochmals anrufen und absagen sollte. Doch dann siegte die Neugierde über den Zweifel. Eigentlich konnte sie ja dieses schreckliche Ereignis ohnehin nicht aus ihren Gedanken bannen. Lena legte ihr den Spielzeughasen nun derart unmissverständlich auf den Schoss, dass das Spiel beginnen musste: ein endloses Gezerre, das stets im Verlust eines weiteren Teils des ohnehin schon zerfetzten Hasen endete. Aber Lena fand dies das spannendste Spiel überhaupt, zu dem man einen Menschen animieren konnte. «So, jetzt muss ich ein Dessert zubereiten», unterbrach Lucille nach einer Weile. «Du darfst übrigens auch mitkommen, hat Françis gesagt.» Dessert – das war gar nicht so einfach. Der Transporter mit dem ganzen Hausrat von Lucille würde erst in der folgenden Woche aus Frank reich hier ankommen. Und ihre Kochbücher brauchte sie der Bilder wegen zur Inspiration. Sie kämpfte sich durch die elektronische Welt und fand schliesslich ein passendes Rezept. Eilig schrieb sie die Zutaten auf einen Zettel und schaffte es, noch vor Ladenschluss einkaufen zu gehen. Kaum zurück, schleppte sie die Koffer mit den Kleidern aus dem Auto. Zwei Stunden später waren sie und das Dessert bereit. Lena schätzte den trabenden Schritt, in dem es die Michelstrasse hinaufging. Sie zeigte sich jedoch enttäuscht, als Lucille in den Engadinerweg einbog und ihr damit die Vorstellung des freien Herumflitzens auf der Allmend raubte. Als Lucille an der Haustüre von Françis klingelte, beschloss sie, auf keinen Fall etwas von ihrer Begegnung im Grünwald, von ihrem Albtraum und der seltsamen Äusserung von Onkel Hans zu erwähnen. Sie überlegte sich gerade, wie Françis wohl aussehen würde, als er die Türe öffnete.

11. Erinnerung an Marina

«Du siehst ja immer noch wie früher aus, aber wie du doch gewachsen bist!», lachte Françis. «Und ich wäre mir jetzt nicht sicher gewesen, wer da vor mir steht: du oder dein Bruder. Wie heisst er schon wieder? Er war doch eine Klasse über uns», erinnerte sich Lucille. «Michael», sagte Françis, als es an der Türe klingelte. Sven trat ein und Françis konnte ihm Lucille kaum vorstellen, als dieser hastig seine Hände öffnete, die er fest zusammengehalten hatte. «Seht nur, was ich eben im Garten gefunden habe!», rief er ganz aufgeregt und zeigte ihnen einen Falter, der seine weinrot und ocker gefärbten Flügel von etwa sechs Zentimetern Spannweite langsam auf und ab schlug. «Das ist ein Weinschwärmer», sagte Françis. Sven liefen die Tränen nur so über das Gesicht: «Deretwegen haben wir ja überall Baldrian, Fuchsien und Geissblatt. Marina liebte es, diesen Faltern bei ihrem Schwirrflug in der Dämmerung zuzusehen, wenn die Kinder im Bett waren. Und ich Unmensch habe mich mit ihr gestritten wegen der Gartenbepflanzung.» Der Falter schlug noch einmal mit seinen Flügeln und dann war er tot. Beim Apéro holte Françis dann eine kleine Schachtel, damit sich Sven vom toten Falter trennen konnte. «Ich werde ihn als Erinnerung aufbewahren», sagte Sven traurig. «Seltsam ist nur, dass es jetzt schon Weinschwärmer haben soll. Die fliegen sonst immer frühestens im Mai», fuhr er fort und sein Gesichtsausdruck veränderte sich, als hätte er eine Ahnung, über die er jedoch lieber schweigen wollte. Lucille schaute Françis fragend an, doch dieser lenkte ab: «Setzt euch zu Tisch, ich gehe nur kurz in die Küche, um die Vorspeise fertigzustellen.» Zu Beginn des Essens redeten die drei noch über den schrecklichen Tod von Marina und die seltsamen Umstände. Sven erzählte, dass die Zwillinge vorläufig bei der Grossmutter im Rütihof blieben und nun wieder den Kindergarten besuchten. Sie müssten regelmässig in psychiatrische Behandlung, doch hätten sie bisher nichts über ihren letzten Heimweg mit Marina verraten. Jeder kleinste Hinweis auf diesen Heimweg führte dazu, dass die Kinder sofort wieder begannen, miteinander Kauderwelsch zu sprechen und in fürchterliche Panik gerieten. Während des Hauptgangs lenkte Françis das Gespräch dann in eine andere Richtung. Sie fanden heraus, dass sie alle drei ein gemeinsames Hobby hatten, das Kochen, und so diskutierten sie über Kochrezepte, welche Spezialitäten man wo in Höngg einkaufen und wo man im Wald jetzt, im Frühling, Bärlauch finden könnte. Beim Kaffee im Wohnzimmer sorgte Lena schliesslich dafür, dass alle herzlich lachten, als sie mit ihrer Leine in den Fängen unmissverständlich kundtat, dass es an der Zeit war, den fortgeschrittenen Abend zu beenden. Françis fand, dass ihm etwas frische Luft nun gut tun und er Lucille nach Hause begleiten werde. Sie verabschiedeten sich von Sven vor dessen Haus und gingen auf dem Ruggernweg entlang des Friedhofes Richtung Wildenweg. Lucille wäre alleine die Michelstrasse hinuntergegangen, es wäre ihr zu unheimlich gewesen, diesen «letzten Heimweg» der Zwillinge mit ihrer Mutter mitten in der Nacht zu gehen. Doch Françis schien das nicht zu kümmern. Ganz im Gegenteil: Er begann sogar darüber zu reden. Entgegen ihrem Vorsatz – wahrscheinlich trug wohl auch dazu bei, dass sie etwas zu viel Wein getrunken hatte – schilderte Lucille in allen Details ihre Begegnung mit der seltsamen Gestalt im Grünwald, ihren Albtraum und die seltsamen Äusserungen von Onkel Hans. Françis hörte ihr gespannt zu, war jedoch äusserst schweigsam und schien für längere Zeit in Gedanken versunken. Als sie beim Schulhaus Imbisbühl vorbeigingen, wechselte Lucille das Thema zu ihren gemeinsamen Schulerlebnissen und wunderte sich erneut, dass Françis sich nur an sehr wenige davon erinnerte.

12. Ein Familienalbum

Endlich war es Frühling geworden, Lucille hatte das Haus von Onkel Hans fertig eingerichtet und fühlte sich in Höngg nun wieder ganz zuhause. Sie war an diesem Morgen mit Annie im Garten und liess sich erklären, wo welche Pflanzen wuchsen und wie sie diese zu pflegen hätte. Das wird ihr erstes Gartenjahr werden, eine anstrengende Sache, und sie würde wohl kaum den Ansprüchen von Onkel Hans und Annie genügen können. «Das Geissblatt wird schon bald blühen», bemerkte Annie, «und du wirst sehen, die Nachtfalter werden es lieben.» In diesem Moment schoss Lena, die gelangweilt neben den beiden in der Wiese lag, los und rannte zum Gartentor. Da stand Francis, in der einen Hand eine Schachtel, in der anderen eine Mappe, und er wusste nicht, wie er die freudige Begrüssung von Lena erwidern konnte. Lucille ging auf ihn zu, nahm Lena am Halsband und öffnete das Gartentor. «Ich habe einen Kuchen mitgebracht, aber ich möchte euch nicht stören», sagte er. Fast etwas froh über den Unterbruch der Gartenlektion, meinte Lucille: «Du störst überhaupt nicht, komm herein.» Sie stellte Francis Annie vor, begleitete sie ins Wohnzimmer und verschwand in der Küche, um Kaffee zu kochen. Als sie damit fertig war, fand sie die beiden, nebeneinander sitzend und in einem Fotoalbum blätternd, in ein Gespräch vertieft vor. «Schau mal, was ich im Estrich zuhause gefunden habe», lud Francis sie ein, näher zu treten. Es war ein Fotoalbum der Familie Fitou aus einer Zeit, als er und sein Bruder noch kleine Kinder waren. Während die Bilder bei Lucille und Francis Kindheitserinnerungen hervorriefen, wusste Annie bei jedem Bild aus Höngg etwas aus viel früheren Zeiten zu erzählen. Dort, bei der gleichnamigen Tankstelle, stand einst das Restaurant «Rose» mit einer Gartenwirtschaft, bei der Grossbankfiliale am Meierhofplatz war die Metzgerei Heinrich. Doch Annie verabschiedete sich bald, denn geschäftig wie immer, hatte sie noch eine Unmenge von Arbeit vor sich. «Weisst du, Lucille, ich habe das Fotoalbum wegen einem ganz bestimmten Bild mitgebracht, das du unbedingt sehen musst. Dieser Weinschwärmer, den Sven gefunden hat, ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich fragte mich, weshalb ich den Falter sofort als Weinschwärmer erkannte, wo ich doch kaum ein Tier kenne und dann erinnerte ich mich», begann Francis und blätterte ein paar Seiten weiter. Er zeigte auf ein Bild, auf dem zwei kleine Knaben abgebildet waren, die in einem Garten standen, und der eine von ihnen hielt eine Glaskugel in den Händen. «Das bist du und dein Bruder, nur welcher Junge wer ist, kann ich wirklich nicht sagen: unglaublich, diese Ähnlichkeit», staunte Lucille. «Michael ist derjenige mit der Glaskugel», half Francis. «Hattet ihr denn Goldfi sche?» fragte Lucille. «Nein», antwortete Francis, «aber das ist es ja: wir hatten in dieser Kugel die Puppen von Weinschwärmern. Unser Vater suchte sie jeweils im Herbst mit uns im Garten. Er gab Torfmull und ein paar Zweige und Halme in diese Glaskugel. Michael war absolut fanatisch. Er hatte die Glaskugel in unserem Zimmer neben seinem Bett aufgestellt und pflegte die Puppen mit Begeisterung. Oft schlüpften daraus im Spätherbst dann diese Weinschwärmer. Und wenn er es dann auch noch schaffte, die Falter zu überwintern, dann war ihm das höchste Lob unseres Vaters gewiss. Erst im Mai kam dann die grosse Enttäuschung. Irgendwann gelang es den Faltern jeweils, nachts aus dem Glas zu entfliehen. Dann tröstete mein Vater Michael mit dem Versprechen, dass er im Herbst wieder Puppen sammeln helfe.» – «Das ist aber wirklich eine schöne Erinnerung», meinte Lucille. «Was ist denn eigentlich aus deinem Bruder geworden?» Er wohne zwar in der Nähe, in Affoltern, aber sie hätten schon seit dem Tod des Vaters vor zehn Jahren keinen Kontakt mehr zueinander, erklärte Francis, was Lucille seltsam erschien, doch die finstere Miene von Francis warnte sie, weiter zu fragen.

13. Zwei alte Freundinnen

Als Lucille mit Lena den Holbrig hinauflief, begann sich diese sichtlich zu freuen auf den langen Spaziergang, der ihr mit den Zwyssig-Zwillingen bevorstand. Ja, es war eine liebe Gewohnheit geworden, dass Lucille die beiden jeden Samstag nach der Klavierstunde bei Francis abholte, mit ihnen durch den Wald streifte und sie schliesslich in den Rütihof zu ihrer Grossmutter brachte, bei der sie noch immer wohnten. Die Beerdigung von Marina Zwyssig hat vor ein paar Wochen stattgefunden. Ihr schrecklicher und mysteriöser Tod war noch immer ein grosses Rätsel und beschäftigte die Höngger Bevölkerung. Lucille hatte Sven an den regelmässigen Abenden bei Francis inzwischen gut kennen gelernt und zwischen den dreien war eine echte Freundschaft entstanden. Sven war wirklich ein herzensguter Mensch und er konnte auch wieder fröhlich sein. Abgesehen von seiner Trauer um Marina konnte Lucille nicht die geringsten Anzeichen einer Depression erkennen, wie es die böse Zunge damals im Wald erzählt hatte. Als am Engadinerweg Sereina und Adrian aus Francis Haus stürmten und gleich mit Lena im Garten herumtollten, verflogen Lucilles Gedanken rasch. «Ja, die Konkurrenz zur Klavierstunde», lachte Francis, der unter der Türe stand. «Sven hat eine Kinderbetreuerin gefunden», fuhr er fort, «und am Montag können die Kinder nun wieder nach Hause. Sie freuen sich riesig darauf, aber etwas vom Ersten, das sie befürchteten, war, dass sie dann nicht mehr mit Lena spazieren gehen könnten.» Lucille versprach den Kindern, dass sie auch weiterhin jeden Samstag mit Lena und ihr durch den Wald streifen dürften. «Komm, Lena, wir verstecken uns!», rief Sereina und rannte los, gefolgt von Adrian. Beim Wildenweg nahm Lucille Lena an die Leine und dann ging es quer durch den Wald zum Grünwald und hinunter zur Geeringstrasse, wo die Grossmutter der Zwillinge in einem Mehrfamilienhaus wohnte. Erna Zwyssig erwartete die kleine Schar bereits. Wie immer duftete es nach Tee und selbstgebackenem Kuchen. Und auch für Lena gab es die gewohnte kleine Belohnung. Lucille mochte Erna sehr und bewunderte sie, wie sie die Kinder wieder in ein normales Leben zurückgeführt und ihnen einen ertragbaren Umgang mit dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter beigebracht hatte. Lucille staunte, als sie im Wohnzimmer Annie auf der Couch sitzend antraf. «Was machst du denn hier?», fragte sie verdutzt. «Das ist eine lange Geschichte», lachte Annie und begann zu erzählen. Annie und Erna waren beide in Höngg aufgewachsen, doch Annie verbrachte ihre Schulzeit in einem Internat in der Innerschweiz, weshalb sie sich als Kinder nicht wirklich kannten. Erst als sie vor über 50 Jahren bei derselben Firma ihre Lehre in der Administration antraten, entstand eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden. Als Annie einen Sprachaufenthalt in London machte und Erna in der Romandie war, schrieben sie sich regelmässig Briefe. Dann heiratete Erna und zog mit ihrem Mann nach Baden. Es war für Erna ganz klar, dass sie ihre beste Freundin als Gotte für ihren Sohn Sven anfragen würde, und Annie sagte natürlich sofort zu. Sie wohnte und arbeitete damals in Höngg und Sven kam oft zu ihr während den Schulferien. So war es für Sven schon als Kind klar, dass er mit seiner eigenen Familie eines Tages in Höngg wohnen würde. Als Ernas Mann starb, zog sie an die Geeringstrasse, um in der Nähe ihrer Enkelkinder zu sein, zudem war sie hier auch näher bei ihrer Freundin Annie. «Und so kam es, dass wir letzthin im Gespräch ganz zufällig darauf kamen, dass wir dich beide kennen. Wir beschlossen, dass wir dir nichts davon erzählen und dich heute damit überraschen wollen», fuhr Erna fort, die mit einem Tablett voller Süssigkeiten ins Wohnzimmer trat. Ja, die Welt war manchmal wirklich klein und voller Überraschungen. Und Höngg, so schien es Lucille, manchmal ganz besonders.

14. Tod vor der Vitrine

Lucille wusste nicht genau, was sie an diesem Sonntagmorgen geweckt hatte, ob es das Geplätscher des Regens auf dem Fenstersims oder das Klingeln des Telefons war. «Hoffentlich habe ich dich nicht geweckt», hörte sie Francis’ Stimme sagen, «aber ich gehe mit Sven und den Kindern ins Ortsmuseum und wollte dich fragen, ob du mit dabei bist.» Da musste Lucille nicht lange überlegen, das war wirklich eine gute Idee an so einem Regentag. Sie traf Francis und Sven im Ortsmuseum in der alten Stube neben dem Kachelofen stehend an. «Sereina und Adrian sind nun schon zum x-ten Mal die Ofentreppe hinaufgeklettert und werden nächstens wieder die Treppe neben der Küche hinunterstürmen», lachte Sven. Kaum gesagt, erschienen die beiden Kinder auch gleich mit leuchtenden Augen und nach Atem ringend. «So, jetzt gehen wir aber in den Stall, die Ziege anschauen», meinte Sven in der Hoffnung, etwas Ruhe in das wilde Spiel zu bringen. Die Zwillinge eilten voran und im Stall angekommen, fand Sereina: «Schade, dass hier kein lebendiges Pferd steht.» Sereina wünschte sich nichts mehr, als ein Pferd zu besitzen, und sammelte zuhause alles, was irgendwie mit Pferden zu tun hatte. Francis erklärte ihr, dass es sich die Höngger Bauern in früheren Zeiten nicht leisten konnten, ein Pferd zu halten, und Kühe vor die Wagen spannten. Viele von ihnen hätten Ziegen gehabt, was den Hönggern den Übernamen «Geissen» verliehen hätte. Das fanden die Kinder so lustig, dass die Pferde schnell vergessen waren. Plötzlich ertönte ein lauter Schrei durch das Tenn. «Bleibt hier!», rief Francis und eilte los. Bei der Rebbau- Vitrine standen zwei vollkommen erschreckte Frauen. «Kann ich helfen?», fragte Francis und im selben Moment bot sich ihm ein Anblick des Grauens. Vor den beiden Schaufensterpuppen in Rebbauernkleidung lag, halb aufgerichtet, ein Mann. In seiner linken Hand, die er wie in starrer Verzweiflung gegen das Vitrinenglas drückte, hielt er ein Rebmesser an dessen Klinge. Diese Hand und sein Hals waren blutüberströmt, sein Gesicht kreideweiss, und Francis war sofort klar, dass der Mann tot war. «Was ist denn los?», fragte Sven, der unter dem Durchgang zum Tenn stand. «Geh sofort mit den Kindern nach Hause», sagte Francis barsch, «ich rufe dich später an.» Er wollte unbedingt vermeiden, dass die Zwillinge auf diese Weise an den schrecklichen Tod ihrer Mutter erinnert wurden. «Das ist ja grauenhaft», sagte Lucille, als sie neben Francis trat, «schau auf das Rebmesser!» Sie deutete mit dem Finger auf dessen hölzernem Griff, auf dem die Buchstaben CV deutlich zu erkennen waren. «Das sind doch genau dieselben Buchstaben wie auf dem Rebmesser, das neben Marina im Wald gelegen hatte», flüsterte Lucille. Doch Francis war gerade daran, die Polizei auf seinem Handy anzurufen. Bald hörte man von weitem die Sirenen, als das Polizeiauto, vom Meierhofplatz her kommend, in den Vogtsrain einbog. Alle Anwesenden durften das Museum erst verlassen, als sie ihre persönlichen Angaben hinterlassen und unzählige Fragen beantwortet hatten. Francis gab der Polizei die Telefonnummer von Sven, damit sie ihn auch noch befragen konnten. Schweigend und in Gedanken versunken gingen Lucille und Francis heimwärts. Erst unten an der Michelstrasse, als sich ihre Wege trennten, sagte Francis: «Wir sehen uns am Donnerstag.»

15. Ort der Begegnung

Am Donnerstagabend stand Francis pünktlich um halb sieben Uhr vor der Türe von Lucille. Sie hatten abgemacht, im Restaurant Grünwald essen zu gehen. Francis zog den «Höngger» aus der Tasche: «Da ist ein Artikel über den Mord im Ortsmuseum drin. Der Tote war offenbar ein alteingesessener Höngger, doch konnte bisher nicht nachgewiesen werden, dass er Marina gekannt hatte. Der einzige bisher gefundene Zusammenhang ist das Rebmesser.» Er las Lucille den Schluss des Artikels vor: «Von der Täterschaft fehlt bisher jede Spur, doch laut Angaben des gerichtsmedizinischen Instituts braucht es sehr viel Kraft, um mit einem Rebmesser eine Kehle zu durchschneiden. Die Polizei verglich dieses Rebmesser mit demjenigen, mit dem Marina Zwyssig umgebracht wurde. Beide sind etwa gleich alt und von ähnlicher Grösse, doch die Buchstaben «CV» wurden mit unterschiedlichen Klingen in die hölzernen Griffe geritzt. Die Klinge, mit welcher die Buchstaben ins Rebmesser aus dem Ortsmuseum geschnitzt wurden, dürfte über 100 Jahre alt sein, während die andere von einem modernen Messer stammen muss. Auf der Karteikarte des Rebmessers im Ortsmuseum war vermerkt, dass es im Juni 1980 ohne Angaben im Milchkasten des Museums aufgefunden worden sei. Alle anderen Rebmesser, die im Besitz des Ortsmuseums sind, wurden untersucht, doch auf keinem sind die beiden Buchstaben vorhanden.» «Ob diese Buchstaben wohl die Initialen von jemandem sind?», begann Lucille laut nachzudenken, als sie losmarschierten. «Schon möglich, doch weshalb dieselben Initialen nach mehr als 100 Jahren?», fragte Francis. «Es gibt doch Familien, die über Generationen hinweg ihren erstgeborenen Söhnen denselben Vornamen geben», meinte Lucille, «aber wozu braucht denn heute noch jemand ein altes Rebmesser?» Bei den Grabhügeln im Heizenholz angekommen, blieben sie vor der Tafel mit den Erklärungen zu den Funden aus der Eisenzeit stehen. «Alles an diesen schrecklichen Morden ist irgendwie so mystisch», sagte Lucille, «auch dass Marina auf einem Grabhügel gefunden worden sein soll.» «Das ist ja nicht bewiesen», bemerkte Francis etwas schroff, «und die Mystik an den Morden basiert auf Gerüchten.» Lena zerrte an der Leine und so gingen sie weiter. Bevor sie im Grünwald die Regensdorferstrasse überquerten, hielt Francis Lucille am Arm zurück. «Jetzt zeige mir bitte genau den Ort, an dem die Gestalt in jener Nacht gestanden hat», forderte er sie auf. «Aha, jetzt ist doch Mystik gefragt», neckte Lucille, «vielleicht war dies ja bloss eine Erscheinung meiner Übermüdung.» Doch Lucille war froh, Francis nochmals von der Begegnung erzählen zu können. Sie schilderte, wie sie in jener klirrend kalten Winternacht nach ihrer achtstündigen Fahrt aus dem Burgund hier auf der Strasse, von Regensdorf her kommend, plötzlich die alte Frau bei diesem Stein am Strassenrand gesehen hatte. «Natürlich hätte es auch ein Mann sein können, gebeugt und in diesen seltsamen Kleidern. Diese Jute-Kleidung ist ja auch so etwas – es kann doch kein Zufall sein, dass Marina ebenfalls in solchen Kleidern steckte.» Lucille kam auch während des Essens – sie genossen ein Fondue chinoise – immer wieder ins Sinnieren. «Gibt es eigentlich die Glaskugel noch, in der dein Bruder Michael die Weinschwärmer hielt?» fragte sie, endlich das Thema wechselnd, und liess nicht locker, bis ihr Francis versprach, das herauszufinden.

16. Die Glaskugel des Bruders

Francis konnte Lucille keinen Wunsch abschlagen und er wusste nicht, ob ihn das ärgerte oder freute. Die Feststellung, dass er die Glaskugel unbedingt finden wollte, da dies ein Grund war, Lucille einmal mehr zu treffen, liess ihn über sich selber schmunzeln. Wo aber sollte er bloss mit der Suche beginnen? Am einfachsten hätte er ja Michael anrufen können. Doch ihn hatte er seit dem Tod des Vaters vor zehn Jahren nicht mehr gesehen und es wäre wohl zu seltsam, wenn er ihn nun plötzlich und aus diesem nebensächlichen Grund anrufen würde. Da erinnerte er sich, dass im Estrich ein Schrank voll von Dingen seines Vaters stand, die er, als er dessen Wohnung räumen musste, eilig zusammengenommen und dort verstaut hatte. Er war mehrere Stunden damit beschäftigt, den Schrank zu durchsuchen. Er stiess auf vieles, das Erinnerungen aus seiner Kindheit weckte. Er las Briefe, die seine Mutter dem Vater geschrieben hatte, als dieser im Militär war. Sie schrieb von Francis erstem selber komponierten Lied, von Michaels Unfall mit dem Velo, bei dem er sich eine riesige Beule am Kopf zugezogen hatte, von den Blumen im Garten und vom heissen Sommer. «Michael klagt immer noch über Kopfschmerzen und das macht mir langsam Sorgen. Der Arzt meint, es sei alles in Ordnung, aber irgendwie scheint er mir verändert seit dem Unfall. Er vergisst so schnell und so vieles und ist oft etwas verwirrt und trübselig. Einzig seine Bücher über Schmetterlinge und die Aussicht, dass er bald wieder Raupen sammeln kann, erfreuen ihn sichtlich», stand in einem der Briefe. Michael war wirklich ein seltsames Kind, erinnerte sich Francis, nur wusste er bis jetzt nicht, dass dies wegen dem Unfall gewesen sein könnte. In einer Schachtel fand er noch die Quittungen von den Reitstunden, welche die beiden Brüder damals besuchten. Während Michael ein leidenschaftlicher Reiter war und dies wohl heute noch sein mochte, gefiel es Francis gar nicht, auf dem Rücken eines Pferdes die Welt zu erobern. Dann entdeckte er die Glaskugel, fein säuberlich in Seidenpapier verpackt, im Fussteil des Schrankes versorgt. Sorgfältig hob er sie hervor und ging die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, um Lucille zu benachrichtigen. Er wählte ihre Telefonnummer, legte jedoch sofort wieder auf, denn wenn er sie anrufen würde, dann wäre das vielleicht mit dem Telefongespräch erledigt und sein Grund Lucille wieder zu treffen, wäre hinfällig. Er beschloss, die Glaskugel Lucille zu bringen. Da klingelte es an der Haustüre und es schoss Francis durch den Kopf, dass er Sven versprochen hatte, die Kinder an diesem Samstagnachmittag zu hüten, damit dieser in Ruhe einkaufen gehen konnte. «Was hast du in diesem Paket?», fragte Adrian neugierig und zeigte auf die Glaskugel im Seidenpapier. «Du bist eine Wundernase. Das ist ein Geheimnis, das ich bei Lucille lüften werde!», antwortete Francis. Die Kinder baten so lange darum, dass er ihnen versprach, sie morgen mitzunehmen, wenn er zu Lucille gehen würde.

17. Das verratene Geheimnis

Am Sonntagnachmittag inspizierte Annie gerade kritisch den Garten von Lucille, als Francis mit den Zwillingen anmarschiert kam. Lucille war erleichtert über die willkommene Unterbrechung und sie erzählte Francis gleich, was sie in der gestrigen Vollmondnacht auf dem Berg erlebt und gesehen hatte. Aber Francis lachte bloss und Annie tat alles als Lucilles blühende Fantasie ab. «Was hast du denn da mitgebracht?», wechselte Lucille etwas verärgert das Thema. «Bist du etwa auch jener Gestalt im Grünwald begegnet und hast ihr das runde Paket entrissen?» Das war nun wohl etwas zu viel an schwarzem Humor, doch der herbeieilende Adrian unterbrach die unangenehme Situation. «Wir haben dir eine Überraschung mitgebracht, aber ich weiss auch nicht, was es ist», flüsterte er geheimnisvoll. Francis packte die Glaskugel aus. «So eine haben wir auch zuhause», rief Sereina, «das ist unser Geheimnis.» «Sei still, wir dürfen unser Geheimnis nicht verraten, sagt Mami», schrie Adrian und packte seine Schwester wütend am Arm. «Mami ist im Himmel und dort merkt sie auch nicht, wenn wir das Geheimnis verraten», entgegnete Sereina und stiess Adrian so fest, dass er zu Boden fi el. Annie hob Adrian auf und beschwichtigte: «Ist ja gut, beruhigt euch. Kommt, wir schneiden ein paar Blumen ab und stellen sie in diese Vase – das sieht bestimmt schön aus.» – «Das ist keine Blumenvase», widersprach Sereina, «da gibt man Erde hinein und so Puppen, weisst du, nicht richtige Puppen zum Spielen.» Die Kinder erzählten detailliert, wie man die Puppen im Garten suche und sie in die mit Erde, ein paar Zweigen und Halmen bestückte Glaskugel gab. «Und dann schlüpfen aus diesen Puppen Schmetterlinge», fuhr Adrian fort. «Und diese dürfen nicht sterben, sonst geschieht etwas Schreckliches», ereiferte sich Sereina, «aber sie sterben gar nicht, sie verschwinden plötzlich.» – «Sie fliegen und fliegen und fliegen!», rief Adrian und rannte, die Arme ausgebreitet und auf und ab schlagend, lachend davon, gefolgt von Lena und Sereina. «Also das dünkt mich nun wirklich seltsam», bemerkte Lucille, «dass Marina dasselbe Hobby hatte wie dein Bruder Michael.» Francis und Lucille erklärten der verdutzt dreinschauenden Annie, wie der Bruder von Francis als Kind Weinschwärmer gepflegt hatte. «Marina ging zur selben Lehrerin in die Schule wie Michael», sagte Francis, «sie war drei Jahre jünger als er und vielleicht haben sie das in der Schule gelernt.» – «Ja, das könnte sein», stimmte Lucille zu, «warum nicht Schmetterlinge? Wir hatten ja auch einmal Kaulquappen im Schulzimmer und lernten, wie daraus Frösche wurden.» Annie interessierte sich plötzlich nicht mehr für diese Schulerinnerungen und für Weinschwärmer und meinte, sie wolle noch Onkel Hans im Brühl besuchen gehen, worauf sie sich verabschiedete und ging. «Weshalb aber sollte das ein Geheimnis sein, das die Kinder nicht verraten durften?», grübelte Lucille weiter. «Sven hat, als er den sterbenden Weinschwärmer brachte, ja nur gesagt, dass Marina diese so gerne im Garten beobachtete und deren Futterpflanzen züchtete. Davon, dass sie die Puppen sammelte und pflegte, hat er anscheinend auch nichts gewusst.» Francis fand das Ganze nicht sonderbar, doch weil es Lucille offensichtlich stark beschäftigte, schlug er vor: «Du kannst ja mit mir die Kinder zu Sven bringen und dann fragen wir ihn doch gleich danach.»

18. Die Blumenvase

Angekommen am Engadinerweg, stürmten Sereina und Adrian mit Lena in ihren Garten und verschwanden lachend hinter dem Haus. Lucille und Francis trafen Sven in der Garage an. «Ich bin gerade am Flicken des Rasenmähers», sagte er und wischte sich die Hände an einem Tuch ab. Francis berichtete, dass die Kinder eben behauptet hätten, ihre Mutter habe Weinschwärmer gepflegt und dass dies ein Geheimnis gewesen sein soll. Sven wurde kreidebleich und hatte Mühe, seine Stimme zu finden. «Eigentlich müsste ich ja froh sein, dass sie endlich über ihre Mutter reden. Das haben sie seit ihrem Tod nicht mehr getan», sagte er schliesslich, «aber davon weiss ich nun wirklich nichts.» Francis packte die mitgebrachte Glaskugel seines Bruders aus. «Ja, so eine Vase hatte Marina. Die ist bestimmt noch im Schrank im Wohnzimmer», meinte Sven. Sie traten ins Haus und Sven öffnete den Geschirrschrank. Zuunterst standen zahlreiche Vasen in allen Formen und Farben. Er musste sie alle hervor nehmen, bis er ganz hinten auf die Glaskugel stiess. Er hob sie hervor und hielt sie neben die Glaskugel von Francis. Es war allen sofort klar, dass die Kugeln vollkommen identisch aussahen. Da knallte die Haustüre kräftig zu, Sven drehte sich augenblicklich um und stiess mit der Kugel an das Cheminéesims, worauf das Glas zersprang. «Nein, das darfst du nicht tun!», schrie Adrian, der mit Sereina ins Wohnzimmer gerannt kam. «Jetzt geschieht dann etwas ganz Schreckliches!», fügte Sereina aufgeregt hinzu und dann begannen beide Kinder zu weinen. Lucille versuchte sie zu trösten, während Francis Sven kurz erzählte, dass sein Bruder als Kind eben auch Weinschwärmer gepflegt habe. Sven fragte die Kinder, was denn Schreckliches passieren könne, doch sie weinten nur noch lauter und beruhigten sich erst wieder, als Francis ihnen vorschlug, dass er die Glaskugel seines Bruders nun sofort anstelle der zerbrochenen in den Schrank stellen würde und dass dann auch bestimmt nichts Schreckliches passieren könne. Gemeinsam räumten sie die Glaskugel und alle Vasen zurück in den Schrank und als Sven dessen Türe schloss, war die Welt der Zwillinge wieder vollkommen in Ordnung. Doch Sven war vollkommen durcheinander. «Wir sollten das alles einmal ausführlich besprechen», sagte Francis mit einem besorgten Blick auf seinen Freund. Lucille schlug vor, dass sie heute Abend zu ihr zum Nachtessen kommen sollten. «Das ist ganz lieb von dir», meinte Sven, «die Kinder werden nämlich wieder bei meiner Mutter übernachten, weil die Tagesmutter in den Ferien ist. Meine Mutter wird sie morgen in den Kindergarten begleiten.» Sven war sichtlich froh, dass er den Abend nicht alleine verbringen musste.

19. Die Auslegeordnung

Lucille stieg an diesem Sonntagabend die Kellertreppe hinunter und stellte fest, dass das Kellerfenster offen stand. Sie hätte schwören können, dass sie es verschlossen hatte und sie erschrak mächtig, als darin ein Gesicht erschien. «Hallo Lucille», rief Sven, «wenn ich mich durch das Fenster zwängen könnte, würde ich dir bei der Suche nach dem passenden Wein helfen.» Nach dem ersten Schrecken war Lucille erleichtert, dass Sven nach dem Erlebnis am Nachmittag wieder guter Laune war. Francis erwartete sie im Garten und Lucille bat ihn, den Grill vorzubereiten, während sie den Apéro holte. Als sie am Gartentisch sassen, zog Sven die Schachtel mit dem toten Weinschwärmer hervor, den er als Erinnerung an Marina aufbewahrt hatte. «Wir wollen ja heute ausführlich über alle Vorkommnisse reden und da dachte ich, dieser Falter gehört auch dazu», sagte er und schon waren sie mitten in einer Diskussion. War es Zufall, dass sowohl Michael, der Bruder von Francis, wie offenbar auch Marina Weinschwärmer gepflegt hatten? Hatten sie das bei ihrer Lehrerin gelernt? Weshalb hielt Marina das vor Sven geheim? War es ein spannendes Spiel, das sie sich für die Kinder ausgedacht hatte? Und weshalb verknüpften die Kinder das Scheitern der Weinschwärmerpflege und das Zerbrechen der Glaskugel mit dem Eintreten eines schrecklichen Ereignisses? «So etwas würde sich wohl keine Mutter als Spiel für ihre Kinder einfallen lassen», meinte Francis, «und schon gar nicht Marina.» «Genauso wenig, wie sie ihre Kinder freiwillig verlassen hätte auf dem Heimweg vom Kindergarten», fügte Sven traurig bei. Die Andeutungen der Kinder über die Glaskugel waren immerhin eine Hoffnung, dass sie nun vielleicht auch bald etwas über diesen letzten Heimweg mit ihrer Mutter erzählen würden. Sven meinte, er würde es nicht ertragen, die Kinder danach zu fragen und so schlug Lucille vor, dies beim nächsten Spaziergang mit ihnen selbst vorsichtig zu versuchen. Dann kamen sie auf die beiden Morde zu sprechen. Doch der einzige Zusammenhang waren scheinbar die Tatwaffen, die beiden ähnlich alten Rebmesser mit den gleichen Buchstaben, die im Abstand von über hundert Jahren in die Griffe geritzt worden waren. «Vielleicht handelt es sich um eine Familientradition, um die Initialen von Generationen von Söhnen», vermutete Lucille erneut. «Oder dann kannte der Mörder das Messer im Ortsmuseum», entgegnete Sven, «und ritzte dieselben Buchstaben in jenes, mit dem er Marina umbrachte, um eine falsche Spur zu legen.» «Und weshalb war Marina in Jutekleider gehüllt, als man sie fand?», fragte Lucille. Sie erzählte von ihrer Begegnung mit der alten Frau im Grünwald, die ebenfalls Jutekleider getragen hatte, und von den Gestalten auf dem Berg. Francis verdrehte die Augen, doch als er sah, wie Sven, der die Geschichten zum ersten Mal hörte, erschrak, fragte er besorgt: «Was beunruhigt dich so, Sven?» Dieser zögerte einen Augenblick, bevor er mit heiserer Stimme antwortete: «Die Polizei hat mich so eindringlich gefragt, doch ich habe wirklich keine Jute im Haus gefunden, aber jetzt ist mir gerade etwas in den Sinn gekommen.» Er erzählte, dass als er an einem Abend vor Weihnachten von der Arbeit nach Hause kam, die Kinder, eine Jutedecke über sich, die Treppe hinunterstürzten und furchterregend heulten. Sie seien ein Gespenst, hätten sie geschrien, worauf er sofort panische Angst vortäuschte und mitgespielt habe. Marina sei wie eine Furie herbeigestürmt, habe das Tuch von den Kindern gerissen und es gleich wutentbrannt in den Kehrichtsack gesteckt. Als er sie später um eine Erklärung für ihre Wut bat, habe sie ihm gesagt, dass das Tuch sehr alt und schmutzig sei und dass es die Kinder nun schon zum zweiten Mal aus dem Kehricht genommen hätten. Zu später Stunde trennten sich die drei mit der Abmachung, dass Francis die ehemalige Lehrerin von seinem Bruder und Marina wegen der Falterzucht ausfindig machen, Sven der Polizei vom Auftritt der Kinder Mitteilung erstatten und Lucille die Zwillinge nach dem letzten Heimweg mit ihrer Mutter fragen sollte.

20. Kaffeegeplauder am Zwielplatz

Lucille sass mit gefüllten Einkaufstaschen im Café am Zwielplatz und genoss eine Tasse Kaffee. Sie überlegte sich gerade, wie sie die Kinder beim nächsten Spaziergang nach ihrem letzten Heimweg mit ihrer Mutter fragen wollte, als sie Sven durch die Türe eintreten sah. «Hallo, Lucille, darf ich dich zu einer weiteren Tasse Kaffee einladen?», fragte er sichtlich gut gelaunt und setzte sich hin. «Ich war gerade auf dem Polizeiposten und habe über meine Erinnerung an die Kinder mit dem Jutetuch berichtet», fuhr er fort. Die Polizei habe ihm erneut Dutzende von Fragen gestellt, worauf er keine Antworten gehabt habe. Sie seien mit der Herkunft des Rebmessers ein Stück weitergekommen, mehr hätten sie ihm jedoch nicht sagen wollen. «Und die ganze Zeit wollten sie wissen, ob Marina den im Ortsmuseum aufgefundenen Toten gekannt habe», fuhr Sven fort. «Wohl kaum, der war ja eher in meinem Alter, ich habe ihn gekannt», ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihnen. «Onkel Hans! Ich habe dich gar nicht gesehen», rief Lucille erstaunt aus. «Ich sass hinten auf der Terrasse und habe erst bemerkt, dass du da bist, als ich deine Stimme hörte», sagte Hans. Lucille wollte die beiden Männer vorstellen, aber diese kannten sich bereits, war doch Sven der Göttibub von Annie und so als Kind auch oft bei Hans zu Besuch. Nun drängte Lucille Hans, vom Toten im Ortsmuseum zu erzählen. Sein Name war Mäni Ochsner und er wohnte seit über 30 Jahren in Höngg. Hans kannte ihn vom Männerchor, wo sie zusammen über ein Jahrzehnt gesungen hatten. «Und was hatte dieser Ochsner denn mit dem Ortsmuseum zu tun?», wollte Sven wissen. «Mäni hatte dem Museum einige Gegenstände aus dem Haushalt seiner Grossmutter geschenkt», erinnerte sich Hans, «und er war auch ein wandelndes Geschichtsbuch, was seine Kenntnisse über das alte Höngg anbetraf. Vor ein paar Jahren hatte Mäni Ochsner, der ein begeisterter Reiter war, einen Reitunfall und nahm seither nicht mehr an den Singproben teil», schloss Hans. «Du machst mir Angst», sagte Sven beunruhigt, «Sereina ist jetzt gerade in ihrer zweiten Reitstunde. Sie ist so eine Pferdenärrin und ich wollte sie vom schrecklichen Tod ihrer Mutter ablenken, indem ich ihr den Traum vom Reiten verwirklichte.» Hans und Lucille beruhigten Sven und wechselten das Thema, als das Handy von Lucille klingelte. «Hallo Lucille, kommst du mit?», fragte Francis am Telefon, «ich gehe zu Frau Nägeli.» – «Genau, jetzt kommt es mir auch wieder in den Sinn: Louisa Nägeli hiess die Lehrerin, zu der Marina und Michael zur Schule gingen», erinnerte sich Lucille und natürlich wollte sie unbedingt auch dabei sein. Sie verabredeten sich in einer Viertelstunde draussen vor dem Café. Sven verabschiedete sich, denn er wollte Sereina von der Reitstunde abholen. «Was wollt ihr denn von Frau Nägeli?», fragte Hans und schaute Lucille mit jenem verwirrten Blick an, wie damals im «Brühl», als sie ihn auf den Mord an Marina angesprochen hatte. Besorgt erzählte Lucille, was sie über das gemeinsame seltsame Hobby von Marina und Michael herausgefunden hatten und dass sie und Francis nun die ehemalige Lehrerin der beiden fragen wollten, ob sie die Pflege von Schmetterlingen bei ihr gelernt hätten. «Jedes Kind hat zu meinen Zeiten irgendwann einmal Schmetterlingsraupen mit nach Hause genommen und ihre Entwicklung zum Schmetterling beobachtet, das ist wirklich nichts Besonderes», fuhr sie Hans geradezu an, «nur weil ihr keine Ahnung mehr von einer intakten Natur habt, kommt euch das alles so fremd und gleich verdächtig vor.» Lucille war erleichtert, als sie Francis vor dem Café auftauchen sah und sie sich von Hans verabschieden konnte. Sie nahm sich jedoch vor, bei der nächsten Gelegenheit mit Annie über die Verwirrtheit von Hans zu reden.

21. Die Erinnerungen der Lehrerin

Weil sie etwas zu früh waren, setzten sich Lucille und Francis unterhalb der Kirche auf eine Bank, genossen den Ausblick über den Rebberg zur Limmat und diskutierten über die Fragen, die sie der Lehrerin stellen wollten. Dann stiegen sie den Chillesteig hinauf und bogen in die Bauherrenstrasse ein. Beide erkannten die Lehrerin sofort, wie sie dort im Garten sass und ein Buch las. «Lehrerinnen werden einfach nicht älter so wie andere Leute, sie sehen immer gleich aus», flüsterte Lucille. «Francis, nicht wahr?», fragte Frau Nägeli, «Sie sehen Ihrem Bruder immer noch sehr ähnlich.» Nach der Begrüssung bat die Lehrerin die beiden, sich zu setzen. «Schrecklich, was mit Marina geschehen ist», sagte Frau Nägeli und dann erzählte sie aus ihren Erinnerungen an das fröhliche Mädchen, das bei ihr die ersten drei Schuljahre verbracht hatte. Da schien Francis der richtige Moment für die Frage gekommen zu sein, weswegen sie eigentlich hier waren. «Haben Sie mit den Kindern jeweils Raupen von Faltern gepflegt?», fragte er und bemerkte, wie sich Lucille neben ihm gespannt vorbeugte. «Oh ja, das habe ich in jeder zweiten Klasse gemacht», antwortete Frau Nägeli und erzählte, dass es im Schülergarten, an der Riedhofstrasse jeweils viele «Rüebliraupen» an den Möhren und am Dill hatte und die Kinder ein paar davon ins Klassenzimmer mitnehmen durften, um deren Entwicklung zu verfolgen. In einem Terrarium hielten sie die Raupen, fütterten sie und beobachteten, wie sie sich verpuppten und wie im Juli die wunderschönen Schmetterlinge daraus schlüpften. Dann ging’s zurück in den Schülergarten, wo sie die Schwalbenschwänze jeweils in die Freiheit entliessen. «Ich erinnere mich noch genau, wie die Kinder traurig waren, dass sie nun die Schmetterlinge fliegen lassen mussten», fuhr Frau Nägeli fort, «aber wir machten aus der Freilassung immer ein kleines Fest und wenn dann bald wieder Eier an den Pflanzen klebten, dann behaupteten die Kinder, diese seien von unseren Schwalbenschwänzen gelegt worden.» Sie sprachen darüber, wie lehrreich doch solche Naturbeobachtungen seien und Francis verdrehte die Augen, als Lucille fragte: «Sie haben die Raupen in einem Terrarium gehalten, haben Sie erwähnt. Hatten Sie denn auch Glaskugeln dazu benutzt?» «Nein, habe ich nicht, aber Michael brachte einmal eine runde Vase mit und wollte unbedingt eine Raupe mit nach Hause nehmen», antwortete die Lehrerin, «doch ich erlaubte dies nicht und tröstete ihn damit, dass er sie jeden Tag in der Schule beobachten konnte, was er auch intensiv tat.» Michael sei wahnsinnig fasziniert gewesen und hätte alle Stufen der Verpuppung in einem Notizbüchlein festgehalten. «Wie geht es eigentlich Michael?», fragte Frau Nägeli, «er hatte doch in der sechsten Klasse einen Velounfall und danach oft starke Kopfschmerzen, wie mir sein späterer Lehrer sagte.» Francis gab ausweichend Antwort und bald danach verabschiedeten sie sich von Frau Nägeli. «So, jetzt wissen wir, dass Michael und Marina die Schmetterlingspflege in der Schule gelernt haben und nun ist das Rätsel eigentlich gelöst», meinte Francis, «sind deine Fragen nun alle beantwortet?» Nein, das waren sie für Lucille natürlich nicht, denn offen blieb, weshalb Marina mit den Zwillingen Falter hielt und dies vor Sven geheim hielt. Doch Francis tat alles einmal mehr als spannendes Kinderspiel ab. Bei der Kirche trennten sich ihre Wege und auf dem Weg zum Meierhofplatz fragte sich Lucille, weshalb Francis seine Fragen der Lehrerin gestellt hatte und nicht direkt seinem Bruder, was viel einfacher gewesen wäre. Die beiden mussten ja wirklich ein ernsthaftes Problem miteinander haben. Aber Lucille hatte ihre eigenen Probleme, denn morgen wollte sie die Zwillinge nach ihrem letzten Heimweg mit ihrer Mutter befragen.

22. Der Waldriese

Wie versprochen hielt Lucille die «Tradition» des Hundespaziergangs mit den Zwillingen aufrecht. Sie holte diese am Samstag nach der Klavierstunde bei Francis ab und spazierte mit ihnen auf dem Ruggernweg entlang des Friedhofs. Es machte sie traurig, als sie die Kinder fröhlich mit Lena in der frisch gemähten Wiese herumtollen sah, vermutlich sehr nahe beim Ort, wo sie ihre Mutter das letzte Mal gesehen haben dürften. Und es fiel ihr richtig schwer, diese Idylle zu stören, doch sie musste es tun, sie hatte es Francis und Sven versprochen, die Kinder nach diesem Erlebnis zu befragen. Sie rief sie zu sich und wollte mit ihnen entlang des Bombachs zum Waldrand hinaufgehen. Da rannte Adrian plötzlich wie vom Blitz getroffen davon und verschwand im Dickicht des Waldrandes. «Adrian, komm sofort zurück!», rief Lucille. Gleichzeitig schrie Sereina los: «Adrian, pass auf, der alte Riese ist da!» Sie stürmte ebenfalls in den Wald und ehe Lucille etwas unternehmen konnte, kamen beide Kinder Hand in Hand aus dem Wald gerannt. «Wer ist der alte Riese?», fragte Lucille aufgeregt. Die Zwillinge rangen nach Atem und sprachen beide gleichzeitig in halbfertigen Sätzen: «Riesenriese aus Wald», «Mami flüstert in Ohr», «Füsse», «Riese schreit», «Wir müssen rennen», «Mami schimpft». Lucille befürchtete, dass sie wieder wie nach dem schrecklichen Erlebnis mit ihrer Mutter ihre Geheimsprache zu sprechen begännen und lenkte sie sofort ab: «Ich habe ganz vorne am Weg einen Zwerg gesehen, der eine Schokolade bei sich hat.» Zum Glück gelang diese Ablenkung und die Kinder rannten los auf der Suche nach dem Zwerg, während Lucille eine Tafel Schokolade aus ihrer Tasche zog. Auf dem ganzen Weg versuchte Lucille, das zusammenzusetzen, was die Kinder eben so verwirrt gesagt hatten. Jemand, wahrscheinlich ein Mann, musste damals auf dem Heimweg vom Kindergarten aus dem Wald getreten sein und ihre Mutter angesprochen haben. Er musste den Kindern irgendwie einen derart grossen Schrecken eingejagt haben, dass sie alleine nach Hause rannten. Aber was war danach mit Marina geschehen? Warum war sie den Kindern nicht gefolgt? Hielt sie der Mann damals fest, brachte sie um, steckte sie in Jutekleider und legte sie im Wald hin, dass sie jeder finden konnte? Und das alles am späten Nachmittag, wenn doch immer Leute im Wald unterwegs sind? Lucille erschien das alles sehr fragwürdig, doch sie unterbrach ihre Gedanken, als sie beim Mehrfamilienhaus an der Geeringstrasse ankamen, wo die Grossmutter der Zwillinge wohnte. «Ob Annie heute wohl auch hier sein wird?», fragte Lucille, als die Kinder mit Lena die Treppe hinaufstürmten. Doch oben angekommen, standen sie vor einer verschlossenen Wohnungstüre und klingelten und klopften vergeblich. Eine Nachbarin trat ins Treppenhaus und meinte: «Frau Zwyssig ist eben aus dem Haus gegangen. Wahrscheinlich muss sie noch etwas einkaufen.» Lucille drehte mit den Kindern eine Runde ums Haus, doch als Erna eine halbe Stunde später noch immer nicht zu Hause war, kam ihr dies sehr seltsam vor. Sie brachte die Zwillinge zurück zu Francis. Dieser benachrichtigte sofort Sven, der offenbar in der Stadt beim Einkaufen war. Lucille rief Annie an, doch sie wusste auch nicht, wo ihre Freundin Erna sein könnte, erklärte sich jedoch sofort bereit, die Kinder zu sich zu nehmen. Sven hatte Francis am Telefon gesagt, wo er den Schlüssel zur Wohnung seiner Mutter aufbewahrte. Nachdem sie die Kinder zu Annie gebracht hatten, fuhren Lucille und Francis mit dem Auto in den Rütihof. Im Wohnzimmer von Erna stand alles bereit für den Empfang ihrer Gäste und der Tee war bereits kalt geworden. «Da sind Scherben einer zerbrochenen Glaskugel unter dem Tisch!», schrie Lucille gerade auf, als Sven völlig ausser Atem durch die Wohnungstüre trat. Er musste wie ein Wahnsinniger aus der Stadt hierher gefahren sein und war vollkommen ausser sich vor Aufregung. Francis setzte ihn in einen Fauteuil und holte ein Glas Wasser. Als Erna eine Stunde später noch immer nicht nach Hause gekommen war, alarmierte Francis die Polizei.

23. Beweise im Gartenhaus

Seit einer Woche war Erna, die Mutter von Sven, nun schon spurlos verschwunden. «Sven erklärte den Zwillingen, ihre Grossmutter sei in die Ferien verreist, um sie nicht noch mehr zu verängstigen», sagte Francis zu Lucille, als sie zusammen Richtung Meierhofplatz gingen. Lucille wollte ihm dort Fotos zeigen, die im Schaufenster des Fotogeschäfts ausgestellt waren und auf denen sie jemanden aus der gemeinsamen Schulzeit zu erkennen glaubte. Sie gingen gerade auf das Haus zu, in dem Annie wohnte, als diese, begleitet von zwei Männern, auf die Strasse trat und in ein Auto stieg. «Guten Tag, Annie!», rief Lucille, doch Annie schaute nicht auf und einer der Männer drehte sich um. «Wir können jetzt nicht mit Ihnen reden», sagte er und zeigte ihr seinen Polizeiausweis. Lucille und Francis schauten sprachlos zu, wie das Auto mit Annie und den beiden Polizisten die Limmattalstrasse hinunter davonfuhr. Dann redeten gleich beide draufl os und schliesslich sagte Lucille: «Onkel Hans muss unbedingt wissen, was eben geschehen ist – ich möchte ihm das selber erzählen, bevor er es von jemand anderem erfährt.» Eiligen Schrittes und in ein aufgeregtes Gespräch verwickelt, gingen sie Richtung Altersresidenz im Brühl. Dort angekommen, staunten sie nicht schlecht, als sie Sven bei Hans im Wohnzimmer sitzend antrafen. «Es ist schrecklich», platzte dieser gleich heraus, «die Polizei hat Gotte Annie verhaftet, nachdem sie ihr Gartenhaus auf dem Berg durchsucht hatte. Ausgerechnet Annie – sie hat mit der ganzen Sache doch überhaupt nichts zu tun.» Für Lucille war es in der ganzen Aufregung eine Erleichterung festzustellen, dass Onkel Hans, der in letzter Zeit oft verwirrt war, einen vollkommen klaren Kopf zu haben schien. Ganz nüchtern erzählte er, dass ein Detektiv ihn und Sven vor einer Stunde angerufen habe, weil Annie aussagte, dass sie beide je einen Schlüssel zu ihrem Gartenhaus im Schrebergarten auf der Allmend auf dem Berg besassen. In diesem Moment klingelte es an der Wohnungstüre. «Das wird der Detektiv sein, der die Schlüssel abholen kommt», sagte Hans, als er sich erhob und zur Türe ging. «Mein Name ist Albert Beller und ich bin von der Kriminalpolizei», stellte sich der rundliche Mann mittleren Alters vor. Er begrüsste die Anwesenden und fragte alle, woher sie Annie kennen würden und in welcher Beziehung sie zu ihr stünden. Hans und Sven übergaben Herrn Beller ihre Gartenhausschlüssel, welche dieser gleich in separaten Plastiksäcken versorgte. «Aber weshalb haben Sie Annie verhaftet?», fragte Lucille ungeduldig. «Das kann ich Ihnen schon sagen», begann Herr Beller, «morgen wird es ohnehin in den Zeitungen zu lesen sein. In ihrem Gartenhaus haben wir ein Rebmesser mit den Buchstaben CV im Griff eingeritzt und einen Umhang aus Jute gefunden.» Onkel Hans zuckte zusammen und fast gleichzeitig begannen alle zu reden. «Aber das ist ja vollkommen absurd», entrüstete sich Francis, «was soll denn Annie mit so einem Rebmesser und einem Juteumhang?» – «Sie glauben doch nicht im Ernst, dass meine Gotte etwas mit den Morden zu tun hat? Weshalb hätte sie meine Frau umbringen sollen?», fragte Sven aufgeregt. «Und du, Sven, hättest doch das Rebmesser und den Umhang längst auch entdeckt, denn du bist ja oft in Annies Garten und hilfst ihr, die schweren Arbeiten zu erledigen», fuhr Lucille fort, «und du, Onkel Hans, scheinst ja ebenfalls Zutritt zu ihrem Garten gehabt zu haben.» Stumm erhob sich Onkel Hans aus seinem Sessel, ging langsam zu einer Kommode, griff in eine Schublade und nahm ein Rebmesser hervor. «Genau wie Annie habe auch ich ein Rebmesser und auch in meinem sind die beiden Buchstaben CV eingeritzt. Es ist aus und vorbei, jetzt gibt’s nichts mehr zu verlieren», begann er mit schwerer Stimme. Es wurde unheimlich still im Zimmer und alle starrten Onkel Hans an, als er zu erzählen begann. 

24. Der geheime Verein

«Vor langer Zeit legten Pilgerer auf dem Weg nach Einsiedeln jeweils einen Zwischenhalt auf dem Hönggerberg bei einer Kapelle ein», begann Onkel Hans, «wo diese stand, weiss man bis heute nicht so genau. Um dies herauszufinden, wurde vor über 100 Jahren ein geheimer Verein ge gründet. Ich bin der Präsident dieses Chappeli-Vereins, der so lange geheim bleiben und existieren sollte, bis sein Zweck, das Auffinden des ehemaligen Standortes der Kapelle, erfüllt war.» – «Chappeli-Verein – die beiden Buchstaben CV auf den Rebmessern», unterbrach Francis. «Und was haben denn Rebmesser mit der verschwundenen Kapelle zu tun?», fragte Detektiv Beller. «Bald nach der Vereinsgründung fanden die Mitglieder auf dem Berg bloss ein altes Rebmesser und darauf einen toten Weinschwärmer», sagte Hans, «seither trägt jedes Vereinsmitglied ein Rebmesser als Zeichen dafür, dass wir die Spuren der Kapelle irgendwann finden könnten, und wir glauben, dass Weinschwärmer uns den Weg dorthin aufzeigen werden. An unserer jährlichen Vollversammlung in der Vollmondnacht im Mai auf dem Hönggerberg tragen wir, in Erinnerung an die ärmliche Kleidung der Pilger, unseren Juteumhang.» – «Dann habe ich dich und Annie also in jener Nacht auf dem Heimweg von der Vollversammlung getroffen», stellte Lucille fest. Sie erinnerte sich an die beiden, wie sie ihr auf dem Berg begegneten, Regenmäntel tragend, um die Juteumhänge zu verdecken, wurde ihr jetzt klar. «Dort lassen wir Weinschwärmer fliegen, die wir über den Winter pflegten», erzählte Hans weiter, «und ihre Flugrichtung deutet uns jeweils an, wo wir im nächsten Vereinsjahr nach Spuren der Kapelle suchen sollen.» – «Die Glaskugeln für die Raupenpflege!», rief Lucille dazwischen. Also waren die Schmetterlinge, die sie in jener Nacht beobachtete, die von den Vereinsmitgliedern freigelassenen Weinschwärmer. Lucille kombinierte sofort weiter: «Folglich sind alle, von denen wir wissen, dass sie entweder ein solches Rebmesser, eine Glaskugel oder einen Juteumhang besitzen, Vereinsmitglieder. Du, Onkel Hans, und Annie, Francis’ Bruder Michael, Svens Mutter Erna und die arme Marina.» – «Das ist alles richtig, Lucille», unterbrach Onkel Hans, «wir sind alle sehr besorgt über die schrecklichen Ereignisse. Sowohl Marina wie auch der im Ortsmuseum ermordete Mäni Ochsner waren Vereinsmitglieder.» – «Nennen Sie mir bitte sofort alle weiteren Mitglieder», drängte Detektiv Beller, der laufend Notizen gemacht hatte. «Das sind alle, wir sind immer nur wenige Mitglieder, um die Geheimhaltung des Vereins möglichst gut bewahren zu können», sagte Hans, «mit dem Tod von Marina und Mäni bleiben nur noch vier Mitglieder: Annie, Michael, Erna und ich.» – «Dann weisst Du womöglich, wo meine Mutter ist, wenn ihr schon gemeinsam in diesem geheimen Verein seid?», fuhr Sven Onkel Hans wütend an. «Weil wir befürchten, dass gezielt unsere Vereinsmitglieder umgebracht werden, haben wir Vorsichtsmassnahmen getroffen», erklärte Hans, «Was immer uns anderen zustösst, mindestens unsere Vizepräsidentin, Erna, soll überleben – und somit der Verein. Erna ist in Sicherheit . . .» – «Reden Sie nicht weiter!», fuhr Beller dazwischen, «Sie müssen mir das nachher in der Einzelbefragung verraten, sonst gefährden Sie das Leben von Erna Zwyssig.» Alle starrten ungläubig auf den Detektiv, denn nun war klar, dass dieser sie alle verdächtigte. «Wer immer den Verein auslöschen will, muss dazu genau zwei Dinge wissen: dass es den Verein gibt und wer seine Mitglieder sind», fuhr Beller fort. «Das bedeutet, es könnte jemand aus dem Verein sein?», fragte Francis besorgt und dachte an seinen Bruder Michael, den er seit dem Tode seines Vaters nicht mehr gesehen hatte.

25. Das Pokerspiel

Lucille war noch ganz durcheinander, als sie ihre Haustüre hinter sich schloss. Sie hatte in der Einzelbefragung Detektiv Beller die Geschichte der Zwillinge vom «Riesen im Wald» erzählt. Offenbar hatten die Kinder zuvor bei der Befragung durch eine Kinderpsychologin Zeichnungen angefertigt, auf denen ein schwarz gekleideter Mann zu erkennen war, der unter einer Tanne stand. Angesprochen auf diesen Mann hätten sie jedoch nie etwas verraten, doch Lucilles Bericht gab nun doch einen Hinweis darauf, dass die Kinder den Mörder ihrer Mutter gesehen haben könnten. Was Onkel Hans über den geheimen Chappeli-Verein erzählt hatte und dass sich herausstellte, dass alle Vereinsmitglieder in Lebensgefahr schwebten und gleichzeitig unter Mordverdacht standen, beunruhigte sie sehr. Detektiv Beller hatte gesagt, dass ab sofort alle Vereinsmitglieder beobachtet würden, doch dass dies auch deren eigener Sicherheit diene. War der Mann im Wald tatsächlich der Mörder? Dann konnten Annie und Erna nicht mehr verdächtigt werden. Also blieben nur noch Onkel Hans und Michael. Michael – Lucille sah das besorgte Gesicht von Francis wieder vor sich. Bestimmt hatte er auch sofort an seinen Bruder gedacht. Lucille beschloss, anderntags zu Francis zu gehen und alles mit ihm zu besprechen. Am nächsten Nachmittag spazierte Lucille mit ihrem Hund zum Engadinerweg hinauf. «Hallo, Francis!», rief sie, als sie ihn hinter seinem Haus vor einem Baum gebückt stehen sah. «Wie schaust denn du aus?», fragte sie lachend, als er sich ihr zuwandte, ein dickes Tuch um den Hals gewickelt, sein halbes Gesicht verdeckend. Doch er entgegnete nichts und starrte sie bloss an, worauf Lena zu bellen begann. «Francis ist nicht da, immer Francis!», schrie die Person wutentbrannt, drehte sich um, rannte ins Haus und knallte die Türe zu. «Wer ist dieser Mann und was macht er hier?», fuhr es Lucille durch den Kopf und gleichzeitig wurde sie von Angst gepackt. «Und wo ist Francis?» Rasch eilte sie den Engadinerweg hinunter, während sie in ihrer Jackentasche nach ihrem Handy suchte. Was sollte sie nur tun? Sie konnte ja nicht einfach die Polizei anrufen, bloss weil sie einen ihr unbekannten Mann bei Francis angetroffen hatte. Endlich fand sie ihr Handy und als sie die Nummer von Francis eintippte, schaute sie nochmals zu seinem Haus hinauf. Dort, im Fenster im oberen Stockwerk, bewegte sich der Vorhang und für den Bruchteil einer Sekunde sah sie nochmals dieses halb vermummte Gesicht. Da ertönte der Signalton im Telefon, doch niemand im Haus reagierte darauf. Als sie auflegte, war es derart still um sie herum, dass Lucille ihren eigenen Herzschlag in den Ohren zu hören glaubte und wie angewurzelt stehen blieb. «Lucille, was ist denn mit dir los? Du schaust aus, als hättest du ein Gespenst gesehen», rief plötzlich Sven und Lucille atmete auf, als sie diesen in seiner Haustüre erblickte. Er bat sie ins Wohnzimmer und da sass Francis am Tisch vor ausgebreiteten Pokerkarten. Offenbar waren die beiden Freunde gerade mitten in einem Spiel, als Sven Lena auf der Strasse bellen hörte und nachschauen ging. «Wer ist der Mann bei dir im Haus?», platzte Lucille heraus. «Beruhige dich, das ist mein Bruder Michael», sagte Francis mit eiskalter Stimme, «er ist bei mir zu Besuch.» Und das, nachdem die beiden Brüder seit Jahren keinen Kontakt mehr miteinander hatten? Einfach so, ausgerechnet jetzt, wo alle Mitglieder des Vereins Mordverdächtige waren? Hatte sie eben den Mörder angesprochen? In Lucille stieg eine ungebremste Wut empor, sie drehte sich um und lief aus dem Haus, alle Rufe von Sven und Francis missachtend.

26. Das verschenkte Rebmesser

Francis war es nicht recht, dass er Lucille vorhin nicht das über seinen Bruder Michael erzählt hatte, was er auch erst seit kurzer Zeit wusste. «Wollen wir nicht noch das angefangene Pokerspiel beenden?», fragte Sven fast bettelnd. «Die Kinder kommen erst später nach Hause.» Doch Francis wollte nach Hause und Lucille anrufen, um die Situation zu klären. Auch wollte er ihr sagen, sie solle in ihrem Schrank im Keller nachschauen, denn Michael hatte vorhin bei Sven etwas von einem Geheimnis in diesem Schrank erzählt. Er traf seinen Bruder in der Küche sitzend vor einer halb leeren Colaflasche an, in ein Selbstgespräch vertieft und den Schal immer noch um den Hals gewickelt. Und das mitten im Sommer. Francis fühlte eine Abneigung in sich hochsteigen, die er sofort bekämpfte. Ein armer Kerl sass da vor ihm, und das war sein Bruder, um den er sich seit Jahren hätte kümmern müssen. Nachdem Francis gestern von der Einzelbefragung im Tertianum Im Brühl durch Detektiv Beller nach Hause kam, rief ihn dieser noch an, weil er seinen Bruder ausfindig gemacht hatte. Michael befand sich seit acht Jahren in einem Heim für psychisch Kranke, konnte seit zwei Jahren jedoch wieder selbständig kleinere Ausflüge unternehmen. So beschloss Francis heute Morgen kurzerhand, Michael im Heim abzuholen, damit er den Tag mit ihm verbringen und einen Strich unter die Vergangenheit ziehen konnte. Und nun sass Michael also da, in der Küche von Francis, und dieser wusste nicht recht, was er mit ihm reden sollte. Bald würde er ihn wieder ins Heim zurückbringen müssen, aber er schwor sich, dass er sich von nun an um ihn kümmern würde. «Züchtest du immer noch Weinschwärmer?», fragte Francis schliesslich und kam sich sehr einfallslos vor. Doch Michael schaute mit leuchtenden Augen auf und begann zu erzählen, dass er im Heim viele Bücher über Schmetterlinge lese. «Ich habe mein Rebmesser verschenkt», sagte er unvermittelt. «Wenn das der Vereinspräsident erfährt, bin ich verloren.» Francis war vollkommen überrascht, doch dann überhäufte er seinen Bruder mit Fragen. Das war jedoch falsch, denn Michael wurde dadurch sehr unsicher und verwirrt. «Und wem hast du es geschenkt, Michael?», drängte Francis vergeblich. Er eilte ins Wohnzimmer ans Telefon und rief Detektiv Beller an. Während er mit diesem sprach, beobachtete er durch das Glasfenster in der Küchentüre verzweifelt seinen Bruder und fragte sich, was dieser mit den Morden zu tun haben könnte. Detektiv Beller riet, Francis solle Michael ganz wie vorgesehen ins Heim zurückfahren und ihm keine weiteren Fragen mehr stellen. Er komme direkt dorthin, um mit Michael zu reden und um sein Zimmer zu durchsuchen. Francis versuchte noch mehrmals, Lucille anzurufen, doch sie nahm seinen Anruf nicht entgegen. Als er mit Michael aus dem Haus trat und Richtung Garage ging, brach eine herrliche Vollmondnacht herein, die Francis unter anderen Umständen genossen hätte. Da sah er den kleinen Adrian vor der Haustüre bei Sven sitzen. «Adrian, was machst denn du da draussen?», fragte er besorgt. «Meine Judostunde hat etwas länger gedauert und jetzt habe ich Papi verpasst», sagte Adrian mit weinerlicher Stimme. Das hatte Francis nun gerade noch gefehlt. Jetzt konnte er den kleinen Jungen doch nicht alleine hier stehen lassen. Ohne viel zu überlegen, packte er ihn an der Hand und sagte: «Komm mit uns, ich werde deinen Papi von unterwegs anrufen und ihm sagen, dass du bei mir bist.»

27. Der nächtliche Einbruch

Lucille trat kaum in ihr Haus, als sie schon das Telefon klingeln hörte. Das war bestimmt Francis, aber Lucille war immer noch wütend auf ihn und hatte keine Lust, das Telefon abzunehmen. Sie stand im Arbeitszimmer noch eine Weile am Fenster und schaute dem aufgehenden Mond zu, bevor sie sich ins Bett legte und rasch in einen unruhigen Schlaf fi el. Morgens um zwei Uhr erwachte Lucille plötzlich. Das Telefon klingelte – das war wohl wieder Francis, mit dem sie auch jetzt nicht sprechen mochte. Aber war das nicht auch noch Hufgetrampel, unten auf der Strasse, das sie da hörte? Pferde gab es schon in Höngg, doch eher oben auf dem Berg als hier im Dorf. Lucille war hellwach und Lena begann unten im Wohnzimmer zu knurren. Aufgeregt schoss Lucille aus dem Bett, versuchte dabei möglichst keinen Lärm zu machen und eilte ins Badezimmer. A ls sie ans Fenster trat, sah sie unten auf der Imbisbühlstrasse einen Reiter auf einem Pferd bei ihrem Haus stehen. Lucille konnte sein Gesicht im Schatten des Reiterhelms, den er trug, nicht erkennen, und sie verdrängte eben den Gedanken, dass seine Körperhaltung sie an Francis’ Bruder erinnerte, als es unten im Haus ganz fürchterlich knallte. Lena begann laut zu bellen, worauf Lucille wie eine Wahnsinnige die Treppe hinuntereilte. Das Wohnzimmer war vom weissen Mondlicht gespenstisch erhellt und Lena sprang bellend an ihr vorbei in die Küche, wo sie vor der verschlossenen Kellertüre auf und ab sprang. «Ist ja gut, Lena, beruhige dich», versuchte Lucille eher sich selber zu beruhigen. Da ertönte ein weiterer Knall und der kam eindeutig aus dem Keller. Nun ergriff sie die Panik – da war also jemand im Keller. Was sollte sie bloss tun? Lena riss sie mit einem riesigen Satz gegen die Kellertüre aus ihren Gedanken, die Türe sprang auf und der Hund fuhr bellend die Kellertreppe hinunter. Plötzlich wurde das Bellen zu einem Winseln, und nun griff Lucille reflexartig zum Lichtschalter. Sie hatte nur noch Lena vor Augen, als sie die Kellertreppe hinunterstürzte. Viel brachte das Licht nicht hier unten, doch das Winseln kam eindeutig von der hinteren Ecke bei den Weingestellen. Das Kellerfenster stand offen, doch dieses war zu klein, als dass ein erwachsener Mensch hätte einsteigen können. Fast etwas beruhigt rief Lucille nach Lena, als sie glaubte, eine kleine Gestalt hinter dem Vorratsschrank hervorschiessen und hinter dem Weingestell verschwinden zu sehen. Dann schoss Lena bellend hinter dem Weingestell hervor. Lucille kniete sofort nieder und drückte sie fest an sich, um sie und sich zu beschützen, wovor auch immer. Lena löste sich jedoch schnell wieder aus ihrer Umarmung, ging schnüffelnd auf das Weingestell zu und wollte sich dahinter verdrücken, als ein leises Weinen ertönte. Lucille hielt Lena am Halsband davon ab und schaute hinter das Weingestell. Ihre Angst verfl og augenblicklich, als sie ein vollkommen verängstigtes kleines Mädchen hinter dem Gestell kauernd entdeckte. «Was machst du denn hier?», rief sie entsetzt und schloss Sereina in ihre Arme.

28. Das Gespenst aus der Kindheit

Sereina zitterte am ganzen Körper und weinte leise vor sich hin. Lucille versuchte, sie zu beruhigen, doch plötzlich löste sich Sereina aus ihren Armen und begann Lena zu streicheln. «Komm Lena, ich muss etwas holen, dann wird alles wieder gut, hat er versprochen», sagte sie, wischte sich die Tränen von den Wangen und lief mit dem Hund Richtung Vorratsschrank in der anderen Ecke des Kellers. Lucille blieb wie gebannt am Boden knien, sie konnte es kaum fassen, was sich da abspielte. Gleichzeitig schoss ihr wie ein Blitz die Erinnerung an die eigene Kindheit durch den Kopf. Damals, als das Haus noch Onkel Hans gehörte, war es für sie stets eine Mutprobe, in den Keller zu steigen und diesen Vorratsschrank ein wenig zu öffnen, gerade so weit, dass sie das darin wohnende Gespenst erspähen konnte. Und genau das spielte sich gerade vor ihren Augen ab, nur, dass jetzt ein anderes Kind, die kleine Sereina, die Schranktüre öffnete. Und da war es immer noch, das Gespenst aus Lucilles Kindheit, und es bewegte sich genauso wie damals. Doch Sereina schien überhaupt keine Angst davor zu haben. Im Gegenteil: Sie kletterte in den Schrank, streckte ihre Arme nach oben und zerrte etwas hinunter. Lucille erhob sich vom Boden und trat neben Sereina. «Was um Himmels Willen machst du da?», fragte sie flüsternd, doch als sie den Juteumhang sah, den Sereina in den Händen hielt, fiel es Lucille wie Schuppen von den Augen: Das Gespenst ihrer Kindheit war der Juteumhang von Onkel Hans, dem Vereins- Präsidenten des Chappeli-Vereins. Offenbar hatte er noch einen zweiten und diesen hier vergessen, als er in die Altersresidenz zog. Fast musste sie lachen, doch sofort war sie in Gedanken wieder voll bei den Geschehnissen. Wie kam Sereina mitten in der Nacht in ihren Keller und weshalb musste sie diesen alten Juteumhang haben? Was sagte Sereina doch gleich? Dann wird alles wieder gut, hat er versprochen? Wen meinte sie mit «er»? Lucille kam gleichzeitig der Reiter mit dem Pferd in den Sinn, den sie, bevor sie in den Keller eilte, vom Fenster aus unten auf der Imbisbühlstrasse stehen sah. In diesem Moment schlug mit einem dumpfen Knall die Kellertüre zu. Lucille erstarrte vor Schreck, als schwere Schritte auf der Kellertreppe ertönten. Da erschien die Gestalt mit dem Reiterhelm auf dem Kopf. Lucille konnte in der Dunkelheit das Gesicht wiederum nicht erkennen, doch nochmals musste sie an Francis’ Bruder denken – oder war das etwa Francis selbst? Ihre dunklen Gedanken wurden schnell zerrissen. «Ich habe den Umhang und jetzt holen wir Mami ab!», rief Sereina begeistert und eilte auf den Reiter zu. Dieser schob Sereina zur Seite und näherte sich Lucille: «Tut mir leid, aber das hätte nicht passieren dürfen.» Diese Stimme erkannte Lucille eindeutig und eine unendliche Angst packte sie, Todesangst. «Sereina, geh mit Lena nach oben, ich komme gleich nach», sagte die Stimme. Lucille hörte oben das Telefon klingeln – hoffentlich war das wieder Francis und hoffentlich merkte er, dass hier etwas nicht stimmte mitten in der Nacht. Sie musste den Reiter irgendwie in ein Gespräch verwickeln, um Zeit zu gewinnen, schoss es ihr durch den Kopf.

29. Das Geständnis

Der Reiter näherte sich Lucille und nun sah sie seine Augen, die Augen eines Wahnsinnigen. «Sven, du hast also deine eigene Frau umgebracht», flüsterte sie entsetzt. «Ja, als ich sie vor einigen Jahren heiratete, merkte ich bald, dass sie ein Geheimnis vor mir hütete», begann Sven, und es schien Lucille, als ob es ihn geradezu drängte, endlich jemandem alles zu erzählen. «Zuerst vermutete ich einen geheimen Liebhaber und die Eifersucht trieb mich an, Marina zu überwachen», fuhr er fort, «dann fand ich in unserem Geräteschuppen einen Juteumhang und eine Glaskugel mit Raupen, die sie mit all den Pflanzen fütterte, welche sie fanatisch in unserem Garten züchtete. Daneben lag ein Rebmesser mit den Buchstaben CV im Griff eingeritzt. Ich stellte Marina zur Rede und sie gestand mir, dass sie dem geheimen Chappeli- Verein angehöre und flehte mich an, niemandem davon zu erzählen. Für mein Schweigen wollte ich diesem Verein auch beitreten, doch offenbar konnte nur der Präsident Neumitglieder bestimmen. Marina wollte mir aber auf keinen Fall sagen, wer das war. So beschloss ich, sie zu erschrecken und zum Verrat zu zwingen. Ich lauerte ihr dazu im Wald auf, in dunklem Regenmantel und mit vermummtem Gesicht, ihr Rebmesser in der Tasche.» Der Waldriese, schoss es Lucille durch den Kopf. «Sie kam mit den Kindern den Wildenweg hinauf und wollte gerade in den Ruggernweg abzweigen, als ich ihr zurief. Marina schrie die Kinder an, sie sollten nach Hause eilen. Diese erschraken derart, dass sie in die falsche Richtung, in den Wald hinein rannten. Glücklicherweise blieben sie zusammen und fanden eine Stunde später den Weg nach Hause. Inzwischen versuchte ich Marina festzuhalten, doch diese wehrte sich und begann laut zu schreien. Automatisch zog ich das Rebmesser hervor und drückte ihr damit auf die Kehle. Sie wurde sofort ganz still und unendlich viel Blut floss aus ihrem Hals. Ich hatte sie umgebracht, dabei wollte ich doch nur mit ihr reden. Ich versteckte sie in den Gebüschen am Waldrand. Dann rannte ich zum hinteren Friedhofeingang, wo ich mein Auto parkiert hatte und fuhr wie ein Wahnsinniger los. Ich kam gerade rechtzeitig in meinem Büro an, als das Telefon klingelte und mir Francis mitteilte, dass er Sereina und Adrian vor dem Haus vorgefunden hätte. Ich raste nach Hause und als die Polizei endlich gegangen war, steckte ich die Kinder ins Bett. Dann holte ich den Juteumhang von Marina und schlich mich aus dem Haus. Ich wickelte sie in den Umhang und schleppte sie dann bis zu jener Eiche.» – «Aber warum hast du sie denn nicht einfach versteckt?», fragte Lucille mit bebender Stimme. Sven trat bedrohlich nahe auf Lucille zu – sie hatte keine Chance, ihm zu entkommen.

30. Tödliches Wissen

Lucille wagte nicht, sich zu bewegen. Beinahe Gesicht an Gesicht stand sie vor dem Mörder. Sven bebte, und dann brach es aus ihm heraus, als wäre dies alles eine Geschichte, die er irgendwo gelesen hatte: «Der unbeabsichtigte Mord hatte mich in eine derartige Verzweiflung versetzt, dass ich die Schuld daran diesem Chappeli-Verein zuschrieb, an dem ich mich nun gründlich rächen wollte. Mein einziges Ziel war fortan, den Verein zu zerstören, das hiess, alle seine Mitglieder umzubringen, doch zuerst musste ich wissen, wer ausser Marina dazugehörte. Als uns Francis erzählte, dass sein Bruder als Kind Schmetterlingsraupen züchtete, ging ich dieser Spur nach. Schon bei meinem ersten Besuch im psychiatrischen Heim gab Michael mir sein Rebmesser für ein Schmetterlingsbuch und er verriet Mäni Ochsner als weiteres Vereinsmitglied. Michael wollte ich als Informanten behalten, und so brachte ich zuerst Mäni Ochsner um. Ich tat dies mit dem Rebmesser von Michael und schleppte die Leiche nachts durch den hinteren Garteneingang in den Schopf des Ortsmuseums, um sie dort bei der Rebbauvitrine zu platzieren. Damit wollte ich die anderen Vereinsmitglieder erschrecken und ihnen zeigen, dass Marinas Tod kein Zufall war, sondern dass jemand ihr Geheimnis kannte und sie alle in Lebensgefahr schwebten. Als Michael bei Francis zu Besuch war, erzählte er etwas von einem Geheimnis im Kellerschrank im Haus von Hans Aschwanden, doch da er in seiner Verwirrtheit noch viele seltsame Dinge erzählte, beachtete ich dies damals nicht weiter. Als dann Hans das Geheimnis des Vereins lüftete, hatte ich zuerst einen Schock: Nicht nur meine Frau, sondern auch meine eigene Mutter und meine Gotte waren Vereinsmitglieder. Ich wollte das nicht wahrhaben und für mich gab es dafür nur eine Erklärung, nämlich dass sie vom Präsidenten zur Mitgliedschaft gezwungen wurden. So konzentrierte sich meine ganze Wut auf Hans. Dieser hatte uns sein Rebmesser ja in der Altersresidenz gezeigt, also konnte Michael mit dem Geheimnis nur noch dessen Umhang gemeint haben, den er im Keller seines Hauses, das ja jetzt deines ist, versteckt hielt. Diesen Umhang wollte ich unbedingt, um Hans, wenn ich ihn dann umgebracht hatte, darin einzuhüllen. Dass ich in deinem Haus nicht durch das Kellerfenster eindringen konnte, wusste ich seit der Grillparty. Dies schaffte einzig ein Kind. So erklärte ich Sereina, dass wir zusammen einen Ausritt machen und dass wir ein ganz feines Spiel spielen würden. Sie müsste dabei aus einem Schrank einen Juteumhang holen und damit könne ich dann ihre Mami wieder herzaubern. Und jetzt bist du, Lucille, mitten in meinen Plan getreten und das geht leider nicht.» Sven kam noch näher und Lucille brachte kein Wort mehr hervor. Dann überstürzten sich die Ereignisse schlagartig. Oben in der Küche waren eilende Schritte zu hören und die Kellertüre krachte auf. Im selben Moment verspürte Lucille einen rasenden Schmerz im Nacken und ein grelles Licht stach ihr in die Augen, bevor es um sie herum unendlich dunkel und still wurde.

31. Die Freiheit der Weinschwärmer

Lucille hörte leise Stimmen, sie hatte starke Kopfschmerzen und fürchtete sich. Jemand hielt ihre Hand und als sie vorsichtig die Augen zu öffnen begann, fand sie sich in einem hellen Raum vor. Annie war es, die ihre Hand hielt und neben dem Bett sass, in dem Lucille lag. Hinter einem grossen Strauss von Sonnenblumen erkannte sie die Gesichter von Onkel Hans, Francis und Detektiv Beller. «Du bist im Waidspital, Lucille. Du hast einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen und warst nun drei volle Tage bewusstlos – vor einer Stunde zeigtest du erste Lebenszeichen und wir wurden hergerufen», erklärte Onkel Hans und trat näher. «Sven! Wo ist Sven?», krächzte Lucille – ihr Mund fühlte sich plötzlich unendlich trocken an – und die Erinnerungen an die vergangene Nacht, bevor sie das Bewusstsein verlor, tauchten als schreckliche Bilder in ihr auf. «Sven wollte mich umbringen», sagte sie mit bebender Stimme. Detektiv Beller begann zu erzählen. Als er gestern Nacht im psychiatrischen Pflegeheim Michael und Francis traf, war er erstaunt, dass Adrian auch dabei war. Francis erklärte ihm weshalb und dass er Sven telefonisch nicht erreicht hätte. Als er Svens Namen hörte, hätte Michael plötzlich gesagt, er habe ihm sein Rebmesser geschenkt. Damit wurde ihnen sofort klar, dass Sven direkt etwas mit den Morden zu tun hatte und dass es galt, ihn umgehend ausfindig zu machen. Während Beller polizeiliche Verstärkung anforderte und die Erhöhung der Sicherheitsüberwachung der Vereinsmitglieder organisierte, versuchte Francis Lucille zu erreichen, doch einmal mehr vergeblich. Besorgt rief er Onkel Hans an und dieser versprach, sofort zu Lucilles Haus zu gehen. Sie waren bereits im Auto auf der Fahrt nach Höngg, als Hans zurückrief, weil er bei Lucille ein Pferd an den Gartenpfosten angebunden vorfand. Detektiv Beller wies Hans an, auf das Eintreffen der Polizei zu warten und auf keinen Fall das Haus zu betreten. Es sei Hans unendlich lange vorgekommen, doch es ging sehr schnell, bis zwei Polizeiautos fast geräuschlos und mit blinkenden Lichtern vorfuhren. Sven wurde festgenommen, als er gerade durch den Garten hinter dem Haus flüchten wollte. Als die anderen gegangen waren, zog Francis die Quartierzeitung aus der Tasche. «Dies musst du noch anschauen», sagte er und blätterte auf die dritte Seite. Da war ein Bild der Glassammelstelle unten an der Ecke Riedhofstrasse/ Wieslergasse zu sehen. «Ja, aber», begann Lucille. «Lies!», unterbrach Francis und Lucille las die Bildlegende: «Bei den Glassammel-Containern standen heute fünf Glaskugeln – Symbole für das Ende des Chappeli-Vereins.» – «Und damit kannst du auch deine Glaskugel-Manie ablegen – oder hätte ich dir eine davon als Blumenvase mitbringen sollen?», scherzte Francis. Lucille überlegte nur kurz, ob sie wütend werden sollte, bevor sie lachend antwortete: «Nein, aber ich habe eine bessere Idee: Machen wir uns doch auf die Suche nach der verschwundenen Kapelle.»

Ende

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