Kultur
Den Blickwinkel verändern
Am Anfang stand bei Cécile Trentini das Bedürfnis, sich sportlich zu betätigen. Daraus ist in den letzten sieben Jahren das umfangreiche Kunstprojekt «Daily Walking» entstanden, das nun zum Abschluss gekommen ist.
7. September 2022 — Dagmar Schräder
Regelmässige Bewegung tut gut. Das sagte sich auch Cécile Trentini und startete im Jahr 2014 für sich selbst ein Bewegungsprogramm. Jeden Tag eine halbe Stunde walken, das nahm sie sich vor. Doch nur laufen, das war ihr zu langweilig. Also gab sie sich, um sich zu motivieren, eine Aufgabe: 15 Minuten laufen, stehenbleiben, ein Foto schiessen, zurücklaufen. 100 Tage lang. Dreieinhalb Monate und 100 Fotos später setzte sie sich erneut ein Ziel, das sie über einen ebenso langen Zeitraum auszuführen gedachte.
Im Laufe der Zeit entwickelten sich so ihre selbst auferlegten Aufgaben ständig weiter – das Projekt veränderte sich «laufend». So fotografierte sie etwa den Boden unter den Füssen, anschliessend den Himmel, dann rote Gegenstände, Rücklichter von Autos – immer wieder fanden sich neue Themen.
Textile Kunst
Die so entstandenen Bilder wurden anschliessend auf ein Stück Stoff gedruckt, dann zugeschnitten und schliesslich zu einem Gesamtkunstwerk zusammengenäht – in chronologischer Reihenfolge. Die Tage, an denen sie – aus welchen Gründen auch immer – kein Foto schiessen konnte, blieben dabei als weisse Flecken auf dem Gesamtbild zurück. «Das Kunstwerk ist so für mich auch eine Art Tagebuch: Ich kann genau zurückverfolgen, wann ich welches Foto geschossen habe oder an welchen Tagen ich keine Zeit für den Walk hatte», erklärt die Künstlerin dem «Höngger».
Konzept und Zufall
«Das Faszinierende an meinem Projekt», verrät sie, «ist zu erleben, wie es sich stetig weiterentwickelt hat.» Und: «Es ist spannend, wie man plötzlich beim Laufen Dinge viel bewusster wahrnimmt oder jeden Tag etwas Neues entdeckt – selbst an den Strecken, die man jeden Tag abläuft.»
Eines Tages entdeckte sie so beispielsweise eine achtlos weggeworfene Getränkedose, ganz platt gedrückt von vorbeifahrenden Autos. Also fing sie an, nach weiteren Dosen zu suchen. 100 Büchsen sammelte sie und verarbeitete auch diese zu Kunst, indem sie sie analog zu den Fotos auf Stoff aufnähte und zusammensetzte – eine kleine Anspielung und Hommage auf Andy Warhols berühmtes Werk «Campbell’s Soup Cans». Nach den Dosen folgten weitere Gegenstände. «Unglaublich, was alles so weggeworfen wird. Das fällt einem erst auf, wenn man anfängt, sich darauf zu konzentrieren.» Ihre Abfall-Kunst versteht sie deshalb auch ein wenig als Mahnmal gegen die Wegwerfgesellschaft.
Etwas abstrakter war das Wörter-Sammelprojekt, das sie diesmal über ein ganzes Jahr verfolgte: 365 Tage lang schrieb sie auf ihren Walks jeden Tag ein Wort auf, dass ihr besonders aufgefallen war. Die gesammelten Wörter stickte sie anschliessend auf ein grosses Tuch. Und aus den einzelnen Wörtern stellte sie dann in einem nächsten Schritt Sätze zusammen – skurrile, absurde, lustige Sätze, allein aus den gesammelten Wörtern. «Dieses Zusammenspiel aus konzeptioneller Kunst und dem Zufall, der mit reinspielt und jeden Tag ein neues Kunstwerk entstehen lässt, das ist ein weiterer Faktor, der mich an meiner Arbeit begeistert», gesteht Trentini.
Buch als Abschluss – und weiter gehts
2019 beendete sie das Projekt vorläufig und machte sich daran, das gesammelte, aber zum Teil noch nicht verarbeitete Material in Werke umzusetzen. Dazu benötigte sie nochmals zwei Jahre – und nun, nach sieben Jahren, ist «Daily Walking» zu einem Abschluss gekommen. Ihre Erfahrungen und Erlebnisse hat sie in einem Buch verarbeitet, in dem auch ihre Kunstwerke anschaulich dargestellt werden.
Das Laufen aber hat sie dennoch nicht aufgegeben. Nach einer Pause hat sie im Herbst 2020 wieder damit begonnen. Seither hat sie keinen einzigen Tag mehr ausgelassen, trotz teilweise widriger Umstände wie Temperaturen von minus 20 Grad während eines Aufenthaltes in den USA oder der Corona-Quarantäne. Selbst unter Quarantäne liess sie es sich nicht nehmen, ihre Runden zu laufen – im geschützten Garten. Diese Fotos postet sie nun täglich auf ihrem Instagram-Account. «Lustigerweise fühle ich mich dem Account noch mehr verpflichtet als mir selber. Ich möchte es schaffen, jeden Tag ein Foto hochzuladen – nur schon, um meine treuen Follower nicht zu enttäuschen.» Trentini bleibt also in Bewegung – und ihre Kunst mit ihr.
Das Buch «Daily Walking 2014 – 2021» ist für 48 Franken in der Buchhandlung Kapitel 10 oder direkt über die Webseite der Künstlerin (www.ceciletrentini.com) erhältlich. Im Fotoband «Daily walking Top 100» (25 Franken) sind die 100 persönlichen Lieblingsbilder der Künstlerin abgebildet.
Ausstellung der Werke in der Galerie Trittligasse 4 in Zürich vom 13. bis 16. Oktober.
Instagram-Account: @dailywalking2020
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