Dass der Seele die Herrlichkeit des Paradieses geschenkt werde

Am Samstag, 9. Sep­tember, führten der reformierte Kirchen­chor Höngg und das Kammer­orchester Aceras ­barock unter der Leitung von ­Peter Aregger das Werk «Stabat mater» von Joseph Haydn auf. Ein ­Konzert­bericht von François Baer.

Peter Aregger dirigierte den Kirchenchor, das Kammerorchester Aceras barock und die Solisten. (Foto: François Baer)

Nach Mozarts Credomesse und dem «Laudate dominum» im vergangenen Jahr wurde diesmal Joseph Haydns «Stabat mater» vom reformierten Kirchenchor in der vollen Kirche Höngg aufgeführt. Haydn war im Jahr 1767 gerade 35 Jahre alt und seit einem Jahr Erster Kapellmeister am Hofe des Fürsten Esterhazy in Eisenstadt in Österreich.

Das «Stabat mater» war sein erstes kirchenmusikalisches Werk grösseren Umfangs. Es fand schnell weite Verbreitung, auch in protestantisch geprägten Gebieten Nord- und Mitteldeutschlands. Dies dank einer deutschsprachigen Übersetzung des lateinischen Textes sowie eines Klavierauszugs.

Bei der Aufführung in Höngg wurde bald klar, dass das Werk auch heute noch eine starke Anziehungskraft ausübt. Wenn ich, der diese Zeilen schreibt, zuerst dachte, das geschähe nur mir so, so stellte ich bald fest, dass eine raumfüllende «Tonwolke» mit einem schwebenden Takt, der auch in den kurzen Pausen weiterwirkte, die Anwesenden gefangen hielt.

Zeugen des Geschehens

Das war schon im zweiten Satz von insgesamt 14 der Fall, als die Altistin «Oh wie traurig war sie und ergriffen (…) die betrübt war und litt und zitterte, als sie die Pein des berühmten Kindes sah» lamentierte. Das ohne Pathos und mit warmer Stimme, um dann unvermittelt und kurz in höchste Töne auszubrechen.

Der Chor kommentierte darauf «Welcher Mensch nicht weinen würde, wenn er Christi Mutter in einer solchen Qual sähe», der Bass sinnierte mit Grabesstimme über die Martern, die Christus erlitt, und der Tenor pflichtete mit der Feststellung bei, dass sie zusehen musste, wie ihr verzweifeltes Kind den Geist aushauchte.

Da begriff ich Haydns subtile Raffinesse: Wir, das Publikum in der Kirche, wurden Zeugen des Geschehens auf Golgatha. Aber nicht in der ersten Reihe bei Johannes, Maria und den Soldaten, sondern in der zweiten, dritten Reihe der Gaffer und der verbliebenen Anhänger, von denen einer bittet, dass er aufrichtig mit Maria bete und mit dem Gekreuzigten mitleide, und ein anderer fleht, dass er nicht durch die Flammen der Hölle verbrannt werde.

Ein Weiterer ergänzt: «Mach, dass ich durch den Tod Christi gesichert bin, gelabt bin durch die Gnade.» Es sind die leisen Klagen der nicht direkt Betroffenen, es sind die Hoffnungen derer, die merken: Uns hat es nicht getroffen, aber … ?

Wenn einst der Körper stirbt

Haydn hat um die Zeitlosigkeit des Mitleidens gewusst und mit dem «Stabat mater» seinen Beitrag zum Nachdenken und dem Trost geleistet. Wir leben nicht mehr in der Welt des 18. Jahrhunderts, in dem um die Freiheit der Gedanken gerungen wurde, der Freiheit des Individuums überhaupt.

Dafür aber kennen wir schreiende Mütter, die ihr Kind verunglücken sehen, oder das durch eine Soldateska zu Tode geprügelt wird. Oder Väter, die stumm werden, weil ihre Söhne aufgrund falscher Hautfarbe erschossen wurden.
Die «Tonwolke» fesselt schliesslich bis zum Schluss mit der Anrufung «Quando corpus morietur, Fac ut animae donetur Paradisia gloria, Amen» – wenn einst der Körper stirbt, mach, dass der Seele die Herrlichkeit des Paradieses geschenkt werde. Der Schluss mit seiner dramatischen Steigerung klingt äusserst modern.

Stille zuerst, dann anhaltender Applaus und anschliessend das freudige Gespräch aller Beteiligten.Von wegen «Papa Haydn»: Nach dieser Aufführung von «Stabat mater» wünscht man sich «Haydn forever!»

Der reformierte Kirchenchor Höngg und mit ihm Catriona Bühler (Sopran), Alexandra Forster (Alt), Loic Paulin (Tenor), Sascha Litschi (Bass) sowie Robert Schmid an der Orgel und das Orchester Aceras barock haben es unter der Leitung von Peter Aregger geschafft, mit ihrem ganzen Wissen und Willen sowie ihrem Feuer für die Musik dem Werk Modernität zu verleihen.

Ein sublimes Erlebnis, dieser Abend.

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