Architektur
Das orange Haus
Architekt Marcel Knörr gewährt der Höngger Leserschaft im Rahmen der Architekturserie Einblick ins Innere des ehemaligen Handwerkerhauses an der Limmattalstrasse 209.
4. Mai 2022 — Patricia Senn
Die steile Holztreppe knarrt, als Marcel Knörr zur Wohnung hinaufsteigt, in der er mit seiner Frau lebt. Hier schleicht sich niemand unbemerkt hinein. «Dafür hält das Treppensteigen körperlich fit», lacht der passionierte Bergsteiger. Da die Wohnung im zweiten und dritten Stockwerk liegt, gibt es reichlich Stufen. Das Ticken einer Wanduhr ist zu hören und das laute Miauen einer roten Katze, die oben bereits wartet. Die Decken sind niedrig, doch die Wohnung ist hell. Das Holzparkett, das Täfer und die matt gestrichenen Türrahmen schaffen eine warme Atmosphäre. In der Stube befand sich früher in einer Ecke eine Bettnische, ein sogenannter Alkoven, wie er um 1700 verbreitet war. Das Täfer, das den kleinen Raum abschloss, wurde entfernt, geblieben ist eine kleine Nische mit Sitzgelegenheit unter der Dachschräge. Die Einrichtung ist schlicht, aber elegant, kein modischer Firlefanz, eher sachliche Bescheidenheit. Über eine Treppe gelangt man weiter in den ausgebauten Dachraum, der durch den Kehrfirst in vier Abteile unterteilt wird. Hier befinden sich das Schlafzimmer, ein Musikzimmer, viele Bücher und Allerlei. «Im Sommer kann es unter dem vielen Holz und mit nur zwölf Zentimetern Isolation ganz schön heiss werden, doch als Entschädigung kann man auf der kleinen Dachterasse mit Blick zur Kirche in der Abendsonne und bis spät in der Nacht ein Gläschen kredenzen», meint Knörr.
Als die Stadt ihre Häuser verkaufen musste
Vor gut 40 Jahren erwarb der Höngger Architekt das orangefarbene Haus mit der Adresse Limmattalstrasse 209, in unmittelbarer Nähe zum Kirchenplatz gegenüber der Liegenschaft Sonnegg. Die Stadt, die zu dieser Zeit viele Immobilien in schlechtem Zustand besass, aber zu wenig Geld, um sie zu renovieren, hatte begonnen, die baufälligsten Gebäude abzutreten. Mit dem Kauf war die Verpflichtung verbunden, die Sanierung in Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege durchzuführen. Die auffällige Aussenfarbe des Hauses, die aus den 30er-Jahren stammt, wurde eine Spur heller überstrichen. Auch die Wohnung im ersten Stockwerk, die heute vermietet ist, wurde kaum verändert, der grüne Kachelofen von 1777 besteht noch und ist funktionsfähig. Nach Abschluss der Arbeiten wurde im Erdgeschoss Knörrs Architekturbüro eingerichtet. Hier fand ein Teil seiner Mitarbeiter Platz. Weitere Arbeitsplätze sind im Nachbarhaus, ob dem Restaurant Oriental. Das Arbeitsklima ist familiär. Über Mittag wird oft gemeinsam gegessen, bei gutem Wetter im Garten.
Ein Haus mit vielen Besitzern
Die Anfänge des Gebäudes müssen wohl im Dunkeln bleiben. Aufgrund vier untersuchter Eichenbalken im Erdgeschoss schätzt Dorfchronist Georg Sibler in der Mitteilung Nr. 31 «Ein Höngger Handwerkerhaus» (siehe Infobox) das Alter des ältesten Gebäudeteils auf 1473. «[Dies] ist für ein Dorf in unserer Gegend ein sehr früher Zeitpunkt. (…) Wohnhäuser aus dieser Zeit sind (…) bisher kaum bekannt», schreibt der Autor. Sibler konnte während seiner Recherchen alle Eigentümer*innen seit 1670 ausfindig machen, darunter recht bekannte Zürcher und Höngger Geschlechter wie Waser, Nötzli, Grossmann, Wehrli, Freitag, Rieder und Appenzeller. Alle gingen unterschiedlichen Berufen nach und nutzten auch das Haus entsprechend. 1730 wurden die oberen Stockwerke durch einen Brand zerstört. Schuhmacher David Rieder, der zu dieser Zeit hier lebte, wurde einen Tag später unter sechs Kandidaten zum neuen Schulmeister gewählt, möglicherweise aus Mitleid, denn eine andere Begründung ist nirgends festgehalten.
Kurze mondäne Phase im sittenhaften Zürich
Zwischen 1740 und 1752 wurde das Gebäude für kurze Zeit zu einem Landsitz von gehobeneren Stadtbürgern. Der «Chirurgus» – Arzt – Heinrich Waser hatte das Haus von Heinrich Peyer zu Höngg gekauft, ab 1746 trat Regula Waser als Hauseigentümerin auf. Vieles deutet darauf hin – bleibt aber auch bei Sibler eine Vermutung – dass einige Anpassungen wie die Freitreppe zur Haustüre, damals noch doppelläufig, aus dieser Zeit stammt. Im sogenannten «Saal», einem für heutige Verhältnisse kleinen Raum, wurde getanzt und geraucht, etwas, das im sittenstrengen Zürich lange verboten war. «Das Täfer in diesem Zimmer mussten wir ersetzen, es war nicht mehr zu retten», erzählt Knörr. Der Holzboden hingegen sei 180 Jahre alt, werde aber wahrscheinlich nur noch einen Abschliff überleben. Wer hier wohl im Dunkel der Nacht ein und aus gegangen sein mag?
Die mondänen Zeiten des städtischen Landsitzes fanden bereits 1752 ein frühes und wenig glamouröses Ende, als das Haus als Konkursmasse einmal mehr den Besitzer wechselte. Später wurde das Eigentum vorübergehend durch Erbschaft in einen und zwei Drittel geteilt, ab 1938 befand es sich jedoch wieder als Einheit in einer Hand, nämlich in der von Gottlieb Hofstetter. Dieser liess das Gebäude umfangreich renovieren und verkaufte es zehn Jahre später an die Stadt Zürich. Diese wollte es damals wegen der Schutzwürdigkeit des Gebäudes haben, wie in der Mitteilung der Ortsgeschichtlichen Kommission zu lesen ist. «Der Kaufpreis betrug 56000 Franken gegenüber der 17200 Franken, die G. Hofstetter (…) bezahlt hatte (…)», heisst es dort. Aufgrund der Kosten für die Renovation dürfte der Gewinn am Ende dennoch nicht hoch ausgefallen sein. Nach 33 Jahren wechselte das orange Haus 1981 schliesslich vorläufig zum letzten Mal die Besitzer*in.
Hauptsächlich, aber nicht nur alte Häuser
Sich in vergangene Epochen und Stile einzulesen, sich damit auseinanderzusetzen und behutsam mit den Objekten umzugehen, ist so etwas wie eine Spezialität von Knörr geworden. «Das Umbauen und Erweitern fasziniert mich seit je her. Jedes Haus hat seine eigene Identität und Geschichte, seine eigene DNA». So würden er und sein Team bei einem Projekt jeweils zuerst der Geschichte nachgehen: Sind frühere Umbauten ablesbar, wurde das Haus aufgestockt oder angebaut? Wer lebte früher in dem Haus? «Alte Häuser sind fast immer in guter Qualität, die Handwerker nahmen sich Zeit», sagt der Architekt. «Meine Erfahrung ist, dass sich neue Funktionen in bestehenden Strukturen gut einbauen oder ergänzen lassen. Das ist ökologisch und ökonomisch sinnvoll».
Knörr Architekten realisieren aber selbstverständlich auch Neubauten. Im Kanton Aargau bauten sie drei Wohnhäuser mit 54 Wohnungen im Minergiestandard und komplett aus Holz. Dass sogar die Liftschächte in Holz ausgeführt wurden, war vor vier Jahren erstmalig in der Schweiz.
Knörr spricht von jedem seiner Projekte mit einer Zuneigung, als wäre es sein eigenes Haus. In all den Jahren sei ihm sein Beruf noch nie verleidet. Er freue sich darauf, als «alter Mann» einmal in der Stube auf dem weissen Sofa zu sitzen und vom Fenster aus das Treiben auf der Limmattalstrasse zu beobachten, verrät er schmunzelnd. Es könnte aber noch eine Weile dauern, bis es so weit ist.
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