Dagmar schreibt: Gemeinsam einsam

Unsere Redaktorin Dagmar Schräder schreibt über die grossen und kleinen Dinge des Lebens. Heute über einen plötzlichen Verlust, so nah und fern zugleich.

Dagmar Schräder liebt es zu schreiben. (Foto: Jina Vracko)

Sein Stuhl bleibt nun leer. Wochen- und monate-, vielleicht sogar jahrelang war der alte Mann beim Kiosk vorbeigekommen, hatte einen Kaffee getrunken, sich kurz auf den für ihn bereitgestellten Stuhl gesetzt, das Geschehen auf der Strasse beobachtet und einen kleinen Schwatz gehalten. Freunde und Familie sah man nie bei ihm, zuhause wartete vielleicht auch niemand auf ihn, sodass diese kurzen Sozial- und Gesprächseinheiten zu einem täglichen Fixpunkt in seinem Tagesablauf wurden. Und nicht nur für ihn: auch die Mitarbeiter*innen des Kiosks gewöhnten sich an den täglichen Besucher, fingen an, die Gespräche mit ihm zu schätzen und zu geniessen.

Aber dann ist er plötzlich nicht mehr da. Ein Leben ist zu Ende gegangen. Und während der Alltag mit seinem Verkehrschaos und Stauärger, gestressten Passant*innen und Diskussionen über Energiekrise und Rentenreform ungebremst weiterrauscht, als ob es den alten Mann gar nie gegeben hätte, bleibt bei den «Zurückgebliebenen» ein schales Gefühl zurück: Ist es nicht traurig, seinen Lebensabend so zu verbringen? Wie kommt es, dass jemand sein ganzes Leben lebt, vielleicht Kinder, sicherlich aber einen Job und einen Freundeskreis hatte und am Ende bleibt nichts davon übrig? Hätte er nicht mehr Aufmerksamkeit verdient? Wie muss er sich gefühlt haben, als er so ganz alleine von dieser Welt ging?

Im Windschatten dieser Fragen kommen weitere auf: Wie wollen wir alt werden? Können wir sicher sein, dass unser Freundeskreis bis ins hohe Alter intakt bleibt? Dass sich unsere Verwandten und Kinder um uns kümmern werden, wenn wir uns alleine fühlen? Können wir nicht. All unsere Errungenschaften, all unsere Leistungen schützen uns schliesslich nicht davor, zu vereinsamen. So ist der alte Mann durchaus kein Einzelfall.

Wenn man genauer hinschaut, sieht man sie überall, die Einsamkeit – und zwar nicht nur bei den älteren Menschen. Da gibt es die Nachbarin, die sich schon morgens im Coop ihren Einkaufswagen mit billigem Rosé füllt und den Rest des Tages allein vor dem Fernseher verbringt. Oder den Bekannten, der nicht mehr so gut zu Fuss ist und es deshalb nur noch bis zur nächsten Parkbank schafft, wo er den ganzen Nachmittag sitzt. Oder den älteren Herrn, den man flüchtig kennt und grüsst, ihm aber auf der Strasse lieber ausweicht, weil man weiss, dass er nicht mehr aufhört zu reden, wenn er mal anfängt. Vielleicht sollten wir uns ein wenig mehr Zeit nehmen für unsere Mitmenschen. Müsste doch möglich sein. Zumindest ein bereitgestellter Stuhl und ein Schluck Kaffee zur rechten Zeit sollten eigentlich drin liegen.

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