Corona hält uns den Spiegel vor

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Im Frühling war es – rückblickend – leicht, solidarisch zu sein. Die Situation war für alle neu, also hielt man spontan zusammen. Der Mensch schien von Natur aus gut zu sein. In Zusammenarbeit mit der Telegram-Gruppe «Einander helfen» bot der «Höngger» eine Telefon-Hotline an, die Zahl der Hilfebietenden übertraf die der Hilfesuchenden um ein Vielfaches. Man besann sich auf das eigene Quartier, bestellte Essen zum Mitnehmen beim Lieblingsrestaurant und kaufte Gutscheine, um das lokale Gewerbe zu unterstützen. Der «Höngger» schenkte seinen Werbekund*innen ein Inserat. Herausfordernd war es für die Familien: Die obligatorischen Schulen blieben fast zwei Monate lang geschlossen. Homeoffice und Homeschooling unter einen Hut zu bringen, brachte viele Eltern an ihre Grenzen. Lernende mussten, wo möglich, zuhause bleiben, Berufsschule und Gymnasium fanden nur noch online statt. Positiv war, dass das selbständige und digitale Arbeiten gefördert wurde, negativ, dass die sozial Schwächergestellten auch in dieser Situation schlechter wegkamen.

Ein erster Schritt in Richtung Normalität wurde am 27. April mit der Öffnung von Coiffeur-, Massage- und Kosmetikstudios sowie Baumärkten, Gartencenter, Blumenläden und Gärtnereien gemacht. Am 11. Mai folgten alle anderen Läden und auch die Restaurants durften wieder Gäste empfangen. Für manche kam diese Lockerung zu früh, denn weiterhin blieben die Leute im Homeoffice, das Mittagsgeschäft litt darunter. Dennoch blieb die Lage im Quartier im Grossen und Ganzen entspannt. Die Alterszentren in Höngg hatten sich organisiert und ein Besuch im Riedhof zeigte, dass die Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen noch guter Dinge waren. Die Fallzahlen waren tief, fast keine Toten, zumindest nicht in den Spitälern. Das gute Wetter half, denn man konnte sich draussen bewegen. Für manche war die Angst vor dem Virus zwar lähmend, viele blühten in der Ausnahmesituation jedoch auf und wurden kreativ. Zusammen mit dem GZ Höngg lancierte der «Höngger» eine Kampagne der Vorfreude. Nie hätten wir gedacht, dass wir uns so lange darauf freuen müssen, endlich wieder jemanden umarmen zu dürfen. Wir nahmen Abstand und waren rücksichtsvoll. Die Sonne schien, die Magnolienbäume blühten.

Kurz vor den Sommerferien erwachte zaghaft das Vereinsleben. Ab dem 8. Juni konnten die Chöre unter Einhaltung spezieller Schutzkonzepte wieder proben. Der Martin Cup war zwar abgesagt, aber der SVH durfte wieder spielen. Während der Sommerferien war es fast, als gäbe es kein Covid-19. Wir entdeckten die Schönheit unseres eigenen Landes, machten Ferien im Zelt statt im Bungalow, Campen statt Stadttrip, Limmat statt Mittelmeer. Wir wurden etwas nachlässig mit den Regeln und so überrollte uns im Herbst die zweite Welle. Nur dieses Mal kannten alle jemanden, der oder die erkrankt war.

Mitte Dezember starben jeden Tag über 100 Menschen. Die Spitäler schlugen Alarm, das Pflegepersonal kann nicht mehr, die Ärzt*innen sind am Anschlag. Die Expert*innen forderten schon lange härtere Massnahmen, doch die Kantone sträubten sich erst und warteten dann auf das Machtwort des Bundesrats, das nur zögerlich kam und zu spät. Weihnachten konnte nicht gerettet werden. Bereits sind die ersten Veranstaltungen für 2021 abgesagt. Wir haben es vermasselt, auch, weil wir Eigenverantwortung unterschiedlich interpretieren.

Widersprüche aushalten

Einerseits wünscht man sich einen offiziellen Lockdown schweizweit, mit entsprechender Vergütung der Gewerbe- und Kulturtreibenden. Andererseits ärgert man sich darüber, dass Kultur, Freizeit- und Sportangebote ohne Weiteres geschlossen werden, als wäre völlig klar, dass man darauf als Erstes verzichten kann. Wieso müssen wir weiterhin arbeiten, die Öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, zur Schule gehen, aber in unserem privaten Leben am besten nur zu Hause bleiben? Wir möchten uns an die Massnahmen halten. Aber wir werden Ausnahmen machen, denn es ist nicht möglich absolut konsequent zu sein. Weil sich die Eltern neun Monate isoliert haben und nicht auch noch auf die Weihnachtsfeier verzichten wollen. Weil wir uns alle zusammengerissen haben und jetzt auch einmal etwas verdient haben. Diese inneren Widersprüche auszuhalten, ist das Schwierigste in dieser Krise. Es ist die Bewährungsprobe, an der viele bereits gescheitert sind. Weil es einfacher ist, polemisch zu sein. Oder zynisch. Für manche scheint die Frage, wie viel ein Menschenleben wert ist, ganz einfach zu beantworten. Zumindest solange es sich dabei um Menschen handelt, die man nicht persönlich kennt. Man kennt die Beispiele aus der utilitaristischen Ethik, es sind ausweglose Dilemmata, in denen man zwischen einer schlechten und einer anderen schlechten Variante wählen muss. Doch dabei bewegt man sich immer im sicheren Umfeld der Theorie, die Beispiele sind fiktiv und wenn man zu keiner Entscheidung findet, kommt niemand zu schaden. Heute sind diese Dilemma-Situationen sehr real geworden. Bei der Triage in den Spitälern, aber auch in Alters- und Pflegezentren, in denen in stiller Triage die Kranken gar nicht mehr in die Krankenhäuser einweisen werden. Oder bei den Betagten selber, die dem System nicht zur Last fallen wollen und deshalb zuhause bleiben, anstatt Hilfe zu holen.

Ein bisschen Kant über die Feiertage

Wenn wir aber schon dabei sind, angewandte Philosophie zu betreiben, könnten wir uns vielleicht wieder einmal ein bisschen Kant zu Gemüte führen, den Verfechter der Aufklärung und Begründer des kategorischen Imperativs. Dieser sagt, stark abgekürzt: Handle stets so, dass Deine Handlungen Gesetz werden könnten. Soll Gesetz sein, dass jeder für sich selber schaut? Ist es erstrebenswert, als Gesellschaft auf Tote und Kranke mit Gleichgültigkeit zu reagieren und das Leid der anderen kleinzureden? Wenn man das eigenen Handeln, die eigenen Werte in ihrer ganzen Konsequenz zu Ende denkt und sich vorstellt, dass alle Menschen sich genau so verhalten würden: Wäre dies eine Welt, in der man leben möchte? Das sind grosse und schwierige Fragen, aber es scheint leider die richtige Zeit dafür zu sein, sich darüber Gedanken zu machen.

Die Höngger Quartierzeitung ist konfessionell und politisch neutral, so steht es in ihrem Leitbild. Dort steht aber auch «sie lässt sich von einer unabhängigen, humanistischen Wertvorstellung leiten». Humanismus definiert sich als Denken und Handeln im Bewusstsein der Würde des Menschen und in einem Streben nach Menschlichkeit. Wir haben in den vergangenen Monaten stets nach positiven Nachrichten und Geschichten gesucht und auch gefunden. Wir appellieren weiterhin an die Zuversicht und an den Zusammenhalt, weil uns dies sinnvoll erscheint. Wir alle haben Ängste, wir alle reagieren unterschiedlich auf Stress und Ungewissheit. Aber wir alle lieben, kennen Schönheit, suchen das Glück, wollen leben. In den kommenden Monaten müssen wir aber auch über Dinge reden, die nicht so gut gelaufen sind, denn es gehört auch zur Würde des Menschen, dass man sein Leid ernst nimmt. Der Rest ist ungewiss, wir wissen nicht, was das kommende Jahr uns bringen wird. Doch wir hoffen, dass Sie, liebe Leserin und lieber Leser, uns erhalten bleiben.

Wir wünschen Ihnen einen zuversichtlichen Jahresabschluss und glückliche Momente mit Ihren Liebsten.

Ihre Patricia Senn, Redaktionsleiterin

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