Bootsflüchtlingen geholfen – dafür die Hölle erlebt

Der Montagabend, 9. März, ging den Besuchern des Vortrages «Das Schicksal der Bootsflüchtlinge» in der reformierten Kirche nahe. Stefan Schmidt, Kapitän a. D. und heute ehrenamtlicher Flüchtlingsbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein, erzählte, was er auf einem Hilfsgüter-Schiff erlebte.

Kapitän a. D. Stefan Schmidt (Mitte) mit den Pfarrern Martin Günthardt und Matthias Reuter und dem grünen «Spenden-Schiff» (v. l).

Kurz vor Vortragsbeginn sah es nicht aus, als ob sich viele Leute für das Thema interessieren würden – nur eine Handvoll Besucherinnen, es waren vor allem Frauen, sassen in den Kirchenbänken. In den letzten Minuten trafen dann doch noch einige Interessierte ein, so dass der Lübecker Stefan Schmidt gar das Mikrofon als Verstärkung einsetzen musste. Er erzählte, wie er im Jahr 2004 im Mittelmeer 37 schwarzafrikanische Bootsflüchtlinge gerettet hatte.

Für einmal etwas nicht für Geld tun

Viele Jahrzehnte lang war er Schiffskapitän und im Jahr 2003 sogar Generalkonsul von Tuvalu, einem Inselstaat im Pazifischen Ozean. «Tuvalu wird das erste Land sein, das durch die globale Erwärmung verschwinden wird – die höchste Erhebung auf der Insel ist gerade mal zweieinhalb Meter hoch», erzählte er, der jeweils in Deutschland lebte, aber auch immer mal wieder in anderen Ländern.
Der Verein Cap Anamur – in Deutschland seit über 35 Jahren bekannt – fragte ihn als Kapitän für einen Hilfsgütertransport per Schiff an. «Ich war damals 63 Jahre alt und sagte mir, jetzt will ich einmal für etwas anderes als Geld arbeiten.» Die ganze Besatzung des Schiffes, welches der Verein gekauft hatte, arbeitete für 1100 Euro brutto pro Person, vom Schiffskapitän über den Küchenjungen bis zum Bordarzt, der für den Einsatz sogar seine Praxis aufgegeben hatte.
«Alle, die an dieser Aktion teilnahmen, taten dies nicht wegen des Geldes, sondern wegen des sozialen Gedankens. Ich verkaufte meine Wohnung und alles, was ich an Land hatte, denn die Reise sollte lange dauern. Auch das Honorarkonsul-Amt gab ich ab, denn ich war ja nicht mehr in Deutschland für die Reisezeit.» Die Crew, übrigens alles keine Mitglieder beim Verein Cap Anamur – war international und kam nebst Deutschland aus Spanien, Polen, Russland, den Philippinen und der Südsee.

Hilfsgüter im Wert von einer Million Euro an Bord

Die Ladung des Schiffes, welches passend auch Cap Anamur hiess, bestand aus Hilfsgütern im Wert von einer Million Euro für die westafrikanische Küste. Auch Container waren auf dem etwa 100 Meter langen Frachter geladen, welcher 17 Meter breit war und 3500 Tonnen Ladung tragen konnte. Die Container hätten in ein Krankenhaus umgebaut werden sollen. «Einmal vollgetankt, hätten wir einmal um die ganze Welt fahren können», so Stefan Schmidt zur Veranschaulichung.
Am 29. Februar 2004 fuhr die Cap Anamur aus Lübeck los, am 18. März kam sie in Sierra Leone an. «Überall, wo wir ankamen, empfang uns hoher Besuch, als Überbringer von Hilfsmitteln waren wir willkommen. Das Ziel des Vereins Cap Anamur ist, Menschen dazu zu bewegen, nicht zu flüchten. So hatten wir auch Baumaterial geladen, damit die Notleidenden Häuser bauen konnten.» Weiter ging die Reise nach Liberia, Namibia/Angola zum Abliefern von Hilfsgütern, dann über Liberia und Las Palmas in die Werft in Malta.

Flüchtlinge auf hoher See gesichtet

Am 20. Juni sichtete die Besatzung ein Schlauchboot auf dem Meer. Die 37 jungen Männer darin wollten alle nach Lampedusa flüchten, was noch drei Tage Fahrt mit dem Schlauchboot gewesen wäre – dieses war jedoch fahruntüchtig, es hatte Luft verloren, und der Motor war defekt. Kapitän Stefan Schmidt entschied, dass die Männer aufgenommen wurden, denn «es gibt Gesetze, welche besagen, dass ein Kapitän jeden, den er in Seenot trifft, retten und in einen sicheren Hafen bringen muss». Die Besatzung peilte nun den Hafen in Sizilien an, da auch die Nahrungsmittel- und Frischwasservorräte begrenzt waren – wer hatte denn mit 37 Zusatzpassagieren nebst den elf Besatzungsmitgliedern gerechnet? Die Männer, von denen ein paar wenige Englisch sprachen, , machten sich an Bord nützlich und kochten für sich selbst.

Einfahrt in Hafen wurde verweigert

Am 1. Juli kam die Cap Anamur in Sizilien an, durfte jedoch nicht in den Hafen einlaufen. «Wir wussten nicht warum und fragten eine Woche lang dauernd nach – die ganze Woche fuhren wir in 20-Kilometer-Hafen-Abstand hin und her, denn an die Ländergesetze muss ein Kapitän sich ebenfalls halten.» Weder die italienischen noch die deutschen Ministerien halfen. Pünktlich nach einer Woche wurde mitgeteilt, dass den 37 Flüchtlingen der Schiffbrüchigen-Status aberkannt worden war – die Annahme liegt nahe, dass genau darum die Cap Anamur eine Woche lang nicht einlaufen durfte. «Eine Statusänderung gibt es im Seerecht zudem gar nicht», so der ehemalige Kapitän. «Es wurde dann sehr unangenehm, zwei je 120 Meter lange Kriegsschiffe mit je 300 Soldaten umschifften uns und richteten teilweise auch ihre Kanonen auf die Cap Anamur», schilderte Stefan Schmidt die aufwühlende, nervenzehrende Zeit. Italienische Flüchtlingshilfe-Organisationen fuhren jeden Tag zur Cap Anamur und brachten Esswaren vorbei, die sie den Wartenden schenkten. «50 Journalisten berichteten vor Ort über unser Schicksal. Die Flüchtlinge waren in so schlechter seelischer Verfassung, dass sich sogar einzelne über Bord stürzen wollten – die Krankenschwester verabreichte ihnen Beruhigungsmittel im Tee.»

Ultimatum gesetzt

Stefan Schmidt setzte Italien dann ein Ultimatum, dass er einfahren müsse, weil die Sicherheit des Schiffes nicht mehr sichergestellt sei – dann gilt das internationale Seerecht, nachdem man in jeden Hafen einlaufen darf, wenn Menschenleben in Gefahr sind. «Geholfen hat auch unser Seemannspastor, der jeden Abend eine ökumenische Andacht hielt – sie gab den Flüchtlingen etwas Hoffnung.» Das Ultimatum wirkte, und Sizilien öffnete den Hafen. Die Besatzung und die 37 Bootsflüchtlinge wurden von 100 Polizisten und 20 Unterstützern erwartet – später erfuhr Kapitän Schmidt, dass vor den Toren des Hafens 1000 Unterstützer ausgeschlossen worden waren.

Direkt vom Schiff her verhaftet

«Dann geschah das Unerklärliche. Ich als Kapitän sowie der Leiter der Cap Anamur, der danach an Bord kam um mir zu helfen, sowie der erste Schiffs-Offizier wurden gleich verhaftet. Grund: Bandenmässige Beihilfe zur illegalen Einreise von Flüchtlingen. Erst später erfuhr ich, dass drei Personen verhaftet wurden, weil es für diesen Tatbestand genau drei Leute braucht, um als Bande zu gelten!» empörte Stefan Schmidt sich. Die drei wurden eine Woche inhaftiert, danach folgte ein fünf Jahre dauernder Prozess, während dem Stefan Schmidt und der Leiter der Cap Aramur jeden Monat nach Sizilien zur Anhörung mussten – dass die Richterin Kopfschmerzen habe und deshalb mehrmals keine Anhörung stattfände, erfuhren sie erst, als sie schon vor Ort waren …

Freigesprochen, weil gar keine Straftat vorlag

Am 7. Oktober 2009 wurden die zwei – der erste Offizier war nicht mehr involviert – freigesprochen: «Die Richterin kam mit einem Zettel, auf dem stand, dass die Hilfe, die wir den Flüchtlingen geboten haben, keine Straftat sei.» Gedroht worden war ihnen während dieser Jahre mit einer Strafe von 400 000 Euro sowie zwölf Jahren Gefängnis, später wurde die Strafe auf vier Jahre Gefängnis reduziert – wegen des Freispruchs wurde nichts davon Realität. «Während dieser nervenaufreibenden Zeit gründete ich 2007 den Verein «borderline-europe», der sich genau um solche Bootsflüchtlinge kümmert: Er arbeitet den Vertuschungsversuchen der Behörden mit präzisen Recherchen in den Grenzregionen entgegen. Wir wollen Öffentlichkeit herstellen, um auf der Basis zuverlässiger Informationen den tödlichen Konsequenzen der Abschottungspolitik entgegenzuwirken – dies durch konstante Beobachtung der Situation an den EU-Aussengrenzen, durch das Erstellen von Dokumentationen zum Thema, durch Unterstützung von Initiativen zur humanitären Hilfe an den Grenzen und den Aufbau eines europäischen Netzwerkes.» Stefan Schmidt betonte, dass der Verein Cap Anamur, bei welchem er nie Mitglied war, sich in den schweren Jahren nie wirklich um ihn gekümmert, ja sich sogar distanziert habe: «Am Radio sagten sie, sie hätten nichts mit der ganzen Aktion zu tun.» Traurig und wütend habe ihn auch gemacht, dass das Schiff nach der Konfiszierung acht Monate «an der Kette» lag und während dieser Zeit alle Güter, darunter Medikamente im Wert von 300 000 Euro sowie die Krankenhauscontainer, unbrauchbar wurden beziehungsweise abgerissen wurden – Die Italiener haben das Schiff nur aus dem Hafen gelassen, wenn es verkauft wird.

Was passierte mit den Flüchtlingen?

Was geschah mit den 37 Flüchtlingen? 36 wurden nach Nigeria abgeschoben, einer erhielt eine Aufenthaltsbewilligung. Von den Abgeschobenen verstarb einer, der nochmals ein Boot genommen hatte, und einer zieht durch die Dörfer in der Umgebung und warnt alle davor, zu flüchten – er sagt den jungen Männern, dass sie sich vor Ort engagieren sollen. Warum flüchten meist Männer und weniger Frauen und Kinder? «In den Dörfern wird Geld gesammelt, welches dann der intelligenteste junge Mann bekommt – schliesslich denkt man, dass er es im Ausland zu etwas bringen wird und so seine Familie und das Dorf unterstützen kann. Zudem sind Fluchten für Frauen und Kinder oft zu anstrengend – auf dem Landweg sieht man auch unzählige Tote. Frauen lassen sich zudem auch unterwegs schwängern, weil sie so auf mehr Unterstützung im Ausland hoffen», erzählte der Menschenrechtler, der nach seinen Erlebnissen kein Vertrauen mehr in Regierungen hat: «Sogar meine Unterschrift wurde gefälscht und auf ein amtliches Dokument gesetzt! So etwas lasse ich mir nicht gefallen – und jetzt setze ich mich nun für diese Menschen ein.» Am Schluss des informativen Vortrags wurde ein grünes Spendenschiff aus Papier aufgestellt, welches gut gefüllt wurde: «Wir können genügend <Benzin> im Schiff für unser Engagement gut gebrauchen», so Stefan Schmidt.

Informationen zu borderline-europe: www.borderline-europe.de