«Bei der Inklusion darf nicht gespart werden»

Für Lehrpersonen ist es heikel, sich öffentlich zu den Integrationsförderungsmassnahmen zu äussern. Eine Höngger Lehrerin hat sich dennoch bereit erklärt, ihre Erfahrungen damit zu teilen.

Wie stehen Sie zu den Inklusionsbestrebungen an den Schulen?

Den Grundgedanken finde ich sehr gut. Allerdings empfinde ich es als wichtig, sorgfältig zu prüfen, welche Kinder für das integrative Setting geeignet sind. Bei autistischen Kindern zum Beispiel kann eine Sonderschulung sinnvoller sein, da in kleineren Gruppen gearbeitet wird.
Der Erfolg der Inklusion hängt aber nicht nur alleine davon ab, sondern auch von der Haltung der Lehrperson, der Zusammenarbeit zwischen Eltern, Lehr- und Fachpersonen, Schulbehörde und den zur Verfügung gestellten Ressourcen. Finanziell darf bei der Inklusion nicht gespart werden, denn sie ist aufwändig.

Welche Erfahrungen haben Sie persönlich damit gemacht?

Ich selber habe während mehrerer Jahre inklusive Schulklassen unterrichtet. Ich war Klassenlehrerin und übte gleichzeitig die Tätigkeit einer Heilpädagogin aus. Diese Arbeit war einerseits sehr herausfordernd und zeitintensiv, andererseits auch sehr bereichernd. Sie erweiterte meinen Horizont, lehrte mich beispielsweise, Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, anzugehen und ausserhalb der gewohnten «Norm» zu denken. Das Zusammenleben in der Klasse und der liebevolle Umgang der Kinder miteinander beeinflussten mein Bild von Inklusion ebenfalls positiv.
Als Herausforderung empfand ich die Aufgabe, meinen Unterricht möglichst inklusiv zu gestalten, das Kind mit Behinderung möglichst immer einzubinden. Manchmal war dies aber schlicht nicht machbar, was bei mir ein ungutes Gefühl hinterliess. Ausserdem waren die zur Verfügung gestellten Ressourcen zu knapp berechnet, was häufig frustrierte. Wenn Schwierigkeiten auftauchten, brauchte es relativ lange, bis mich die notwendige Unterstützung erreichte.

Was sollte am aktuellen System geändert werden?

Es werden zu wenig Ressourcen für die Inklusion gesprochen. Wenn zum Beispiel für ein Kind mit Behinderung nur sechs bis acht heilpädagogische Stunden zur Verfügung stehen und die Klassenlehrperson während der restlichen Lektionen ohne zusätzliche Betreuung oder Unterstützung auskommen muss, ist dies schlicht zu wenig. Es ist ein sehr grosser Aufwand, eine sinnvolle Inklusion in einer Schulklasse gewährleisten zu können. Schliesslich geht es ja nicht darum, das zu integrierende Kind einfach zu beschäftigen, sondern auf seinem Niveau zu fördern und ins Klassengeschehen einzubinden. Dafür braucht es Geld und Zeit.

Welche Vor- oder Nachteile ergeben sich Ihrer Meinung nach für die Kinder ohne Behinderung in der Klasse?

Für Kinder ohne Behinderung hat die Inklusion in meinen Augen viele Vorteile. Sie werden im Umgang mit behinderten Menschen sensibilisiert; durch die Inklusion nehmen sie schon als junge Kinder Menschen mit Behinderung als Teil der Klasse, als Teil der Gesellschaft wahr. Sie werden früher mit Anderssein konfrontiert, werden diesbezüglich toleranter, lernen eigene Bedürfnisse zurückzustecken und zu helfen. Stigmata wird entgegengewirkt. Für die Entwicklung der sozialen Kompetenzen ist die Inklusion sehr wertvoll.
Inklusion kann aber manchmal auch bremsen. Je nach Tagesform oder Behinderungsart kann es sein, dass sich die Lehrperson so sehr auf das behinderte Kind konzentrieren muss, dass die anderen Kinder warten müssen und nicht sofort die optimale Förderung erhalten. Dies kann für Kinder ohne Behinderung als mühsam oder störend empfunden werden.

Und wie reagieren die Kinder mit Behinderung selber?

Es ist ein gegenseitiges Lernen. Als ich Inklusionsklassen unterrichtete, beobachtete ich beide Male, wie das Kind mit Behinderung lernte, sich im Klassenverband zu bewegen. Es lernte gesellschaftliche Gepflogenheiten, sah, wie sich die anderen Kinder in bestimmten Situationen verhielten, und war teilweise in der Lage, sein Verhalten anzupassen.
Ich erlebte es allerdings teilweise auch als Stress für das betroffene Kind. Je nach Behinderungsgrad spüren behinderte Kinder den Unterschied zur restlichen Klasse und leiden unter der offensichtlichen Schere, die es zwischen ihnen gibt. In meinem letzten Klassenzug war es für das behinderte Kind beispielsweise extrem schwierig, sich mit dem Übertritt in die Oberstufe zu befassen. Ständig verglich es sich mit den Klassenkamerad*innen und fragte sich, was wohl aus ihm werden würde.

Wie ist der Umgang unter den Kindern?

Der sorgsame Umgang der Kinder ohne Behinderung mit den Kindern mit Behinderung rührte mich jeweils sehr. So zeigten sie sich äusserst hilfsbereit, setzten sich in der Pause für das Kind ein und legten ihm den Arm zur Beruhigung um die Schulter. Dies taten sie jeweils mit viel Ruhe und Geduld.
In meinem letzten Klassenzug war es der grösste Wunsch des behinderten Kindes, viele beste Freunde in der Klasse zu haben und den anderen zu gefallen. Teilweise suchte es den Kontakt auf ungestüme Art und manchmal mit viel sanfter körperlicher Nähe.

Inwiefern verändert Inklusion Ihrer Meinung nach das Bild, das die Gesellschaft von Menschen mit Behinderung hat?

Wenn der Kontakt mit behinderten Menschen positiv ausfällt und das Zusammensein ebenso erlebt wird, hat dies bestimmt einen grossen Einfluss auf die Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen. Je früher dieser positive Kontakt stattfindet, desto wirksamer sind wahrscheinlich dessen Folgen. Inklusion kann als wichtiger Schritt in die «richtige» Richtung angesehen werden. Es fördert möglicherweise das Selbstverständnis, Menschen mit Behinderungen als ganz normalen Teil unserer diversen Gesellschaft zu betrachten und eine möglichst barrierefreie Umwelt zu schaffen.

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