Auch Höngg leidet unter Ärztemangel

Der zunehmende Mangel an Arztpraxen vor allem im Bereich der Allgemein- und der Kindermedizin wird in der Schweiz seit geraumer Zeit diskutiert. Auch in Höngg lässt sich das Phänomen beobachten.

Symbolbild

In ländlichen Gegenden ist das Problem bereits hinlänglich bekannt: Kinder- und Hausärzte mit eigener Praxis sind rar gesät und diejenigen, die noch vorhanden sind, können sich vor Arbeit kaum retten und haben wenig Kapazitäten, um neue Patienten in ihre Stammkartei aufzunehmen. Doch auch in Städten wie Zürich macht sich der zunehmende Verlust an Arztpraxen bemerkbar. In Höngg etwa wird mit der Pensionierung von Dr. Kathrin Wälti im Frühsommer dieses Jahres die letzte noch im Quartier verbliebene Kinderarztpraxis schliessen. Mit Dr. Angela Cascione ist zwar eine Nachfolgerin für Dr. Kathrin Wälti gefunden worden, sie wird allerdings ihre Praxis ausserhalb Hönggs führen. Mit der Praxisaufgabe ihres Mannes Dr. Jörg Wälti wird gleichzeitig eine Hausarztpraxis verloren gehen, für die kein Nachfolger gefunden werden konnte.

Suche nach Arzt gestaltet sich schwierig

Wer also in Höngg auf der Suche nach einem Kinder- oder Allgemeinmediziner ist, muss einigen Aufwand betreiben, um einen Arzt des Vertrauens zu finden. Bei einer persönlichen, nicht repräsentativen Telefonumfrage der Schreibenden in verschiedenen Kinderarztpraxen der umliegenden Quartiere etwa reagierten diese in den meisten Fällen sehr zurückhaltend, wenn es um ihre freien Kapazitäten ging.
Während Neugeborene überall als neue Stammpatienten aufgenommen werden, werden ältere Kinder in den meisten der befragten Praxen nur akzeptiert, wenn sie bis anhin keinen Kinderarzt hatten, etwa weil sie aus dem Ausland zugezogen sind. Bei den Hausärzten sieht die Lage ganz ähnlich aus, wie Luzius von Rechenberg, Allgemeinmediziner mit eigener Praxis in Höngg, erklärt: «In der Stadt Zürich ist es momentan einfacher, kurzfristig einen Termin für ein MRI oder einen orthopädischen Gelenksersatz zu bekommen, als einen Hausarzt zu finden, der bereit ist, neue Patienten langfristig zu betreuen.»

Problem wird sich verschärfen

In absehbarer Zukunft wird sich die Situation in der ganzen Stadt und auch in Höngg wohl weiter verschärfen: Viele der hier momentan selbstständig praktizierenden Ärzte sowohl im Bereich der Allgemein- als auch der Kinder- und Jugendmedizin nähern sich dem Rentenalter und werden sich im Verlauf der nächsten fünf bis zehn Jahre aus dem Berufsleben zurückziehen. Ob sie jedoch einen Nachfolger für ihre Praxis werden finden können, ist fraglich, wie Luzius von Rechenberg bestätigt: «Unter den praktizierenden Allgemeinmedizinern  finden sich wenig junge Ärztinnen und Ärzte. Es gestaltet sich als sehr schwierig, neue Kolleginnen oder Kollegen zu finden, die in der Praxis tätig werden wollen.» Bei gleichzeitig stetig steigendem Bedarf an ärztlicher Betreuung sowohl bei den Kinderärzten – infolge steigender Geburtenraten – als auch bei den Allgemeinmedizinern – infolge steigender Lebenserwartung – droht die ärztliche Grundversorgung an ihre Grenzen zu stossen.

Eigene Praxis ist zu wenig attraktiv

Doch was sind die Ursachen für diesen Ärztemangel? Gian Bischoff, Kinderarzt und Co-Präsident der Vereinigung Zürcher Kinder- und Jugendärzte, macht verschiedene Ursachen für das Problem verantwortlich: «Die Gründe sind sicher vielfältig. Es beginnt damit, dass es zu wenig Studienplätze gibt. Dadurch fehlen Ärzte in den Kliniken und die ausgebildeten Kinderärzte bleiben dort, machen eine Spezialausbildung und gehen nicht in die Praxis. Vielleicht ist auch die Bereitschaft, das Risiko einer selbständigerwerbenden Tätigkeit in einer Praxis aufzunehmen, gesunken und man bleibt lieber angestellt im Spital.»
Dazu kommt, so Gian Bischoff, die im Vergleich zu Spezialärzten geringere Entlöhnung der Allgemein- und Kinderärzte sowie generell ein Wandel in der Arbeitshaltung vieler Ärzte. Die hohe Arbeitsbelastung der in einer eigenen Praxis tätigen Ärzte schreckt viele angehende Ärzte ab. Der vermehrte Wunsch nach Teilzeitarbeit und der Kombinierbarkeit von Arbeit und Familie bei Frauen und bei Männern führt zudem nach Bischoff dazu, dass viele Ärztinnen und Ärzte lieber als Angestellte im Krankenhaus oder einer grösseren Gemeinschaftspraxis arbeiten, als sich selbstständig zu machen. Die Tatsache, dass die Frauenquote im Beruf mittlerweile höher ist als der Anteil der Männer, verstärkt diese Tendenz noch zusätzlich.

Ins Krankenhaus statt zum Hausarzt

Auch die Folgen einer derartigen Entwicklung sind vielfältig. Wenn die Grundversorgung durch einen eigenen Haus- und Kinderarzt nicht mehr gegeben ist, wenden sich viele Patienten im Zweifelsfall direkt an die Notfallstationen der Krankenhäuser. Oftmals, so berichtet Luzius von Rechenberg, der selbst Notfalldienst am Waidspital verrichtet, kommen Patienten mit Erkrankungen in die Notaufnahme, die keinen Notfall darstellen und gut von einem Hausarzt behandelt werden könnten. Das erschwert nicht nur die Arbeit des Arztes und bindet unnötig Kapazitäten, die dann bei wirklich dringenden Fällen fehlen, sondern hat auch noch weiterreichende Konsequenzen, wie Gian Bischoff in Bezug auf die Kinderärzte erläutert: Zum einen kennt der Arzt, der Kinder in der Notaufnahme behandelt, den Patienten und dessen Eltern nicht und wendet daher eine andere Behandlungsstrategie an als bei Kindern, deren komplette Lebensgeschichten ihm bekannt sind. Abklärungen und Behandlungen werden tendenziell schneller und häufiger gemacht, was zu einem höheren Medikamentengebrauch und zu einer grösseren Verunsicherung  bei den Eltern führt. «Andererseits», so Gian Bischoff, «stellen die Vorsorgeuntersuchungen einen grossen Teil der kinderärztlichen Tätigkeit dar. Hier wird die Entwicklung des Kindes untersucht und viele Themen können mit den Eltern besprochen werden. Wenn Kinder nur bei Notfällen einen Arzt oder eine Notfallstation aufsuchen würden, wäre dies nicht möglich, was zur Folge hätte, dass deutlich häufiger Störungen erst erkannt würden, wenn sie bereits ein gravierendes Stadium erreicht haben.» Die Aufgabe von Haus- und Kinderärzten erschöpft sich eben nicht in der Heilung akuter Krankheiten, sondern beinhaltet auch die umfassende Betreuung und Beratung eines Patienten.

Was lässt sich tun, um den Verlust von Arztpraxen aufzuhalten?

Um diese Grundversorgung auch weiterhin für breite Teile der Bevölkerung zu gewährleisten, müssten nach Ansicht Gian Bischoffs politisch einige Weichen anders gestellt werden. Die Stärkung der Hausarztmedizin steht seiner Ansicht nach im Vordergrund der Bemühungen. Um den Beruf als Haus- und Kinderarzt wieder attraktiver zu gestalten, könne der Weg, so Gian Bischoff, «nur zu einem vermehrten Ausgleich der grossen Einkommensunterschiede innerhalb der Ärzteschaft führen.» Solche Bemühungen existieren bereits von politischer Seite, müssten jedoch noch weiter durchdacht werden. Diskutiert wird auch die Erleichterung des Zugangs zum Studium, um den Nachwuchs an Ärzten zu fördern. Ob diese Massnahmen die Entwicklung aufhalten können, oder ob die Zukunft der Haus- und Kinderärzte doch vermehrt in grösseren Arztzentren und Zusammenschlüssen einzelner Praxen liegt, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.

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