Architektur, die die Gesellschaft formen sollte

Nicht allen gefällt die kühle Schlichtheit der Häuser, die dem «Neuen Bauen» der 30er-Jahre zugeordnet wird. Andere sind von der Schnörkellosigkeit und Funktionalität des Stils begeistert.

Original aus Ablage im Baugeschichtlichen Archiv
Original aus Ablage im Baugeschichtlichen Archiv
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Wer sich für das «Neue Bauen» der 1930er-Jahre interessiert, kann in Höngg, neben dem wohl berühmtesten Exponat von Architekt Max Bill, gleich mehrere Beispiele dafür finden. Drei davon erhielten vom Hochbaudepartement der Stadt Zürich das Prädikat «Schutzwürdige Bauten und gute Architektur der letzten Jahre» und wurden in den siebten Band der Reihe «Baukultur in Zürich» aufgenommen, der die Quartiere Unterstrass, Wipkingen und Höngg umfasst. Bereits in der Einführung zur neuen Serie «Architektur in Höngg» erwähnt, ist das Haus von Architekt Hans Leuzinger (1887-1971) an der Ackersteinstrasse 125-131. Charakteristisch sind die südliche Ausrichtung sowie die kubische Form des Reiheneinfamilienhauses. Das flach geneigte Pultdach, die Horizontalfenster und das durchlaufende Balkonband lassen das Gebäude schnörkellos und klar wirken. «[Es] stellt jedoch einen Vertreter der gemässigten Moderne dar, was sich unter anderem am weit ausladenden Dach, den garten- und strassenseitigen angeordneten Schlafzimmern oder am Fehlen der flexiblen Grundrisse zeigt», ordnet Claudia Fischer-Karrer das Gebäude im Buch «Baukultur in Zürich» ein. Auch an der Ackersteinstrasse befindet sich ein eigentümliches und offensichtlich dem Modernen Bauen zuzuordnenden Gebäude: Das Einfamilienhaus steht mitsamt Garten unter Denkmalschutz. 1934 wurde es von Architekt Emil Roth (1893-1980) für den Arzt Walter Deuchler als Wohnhaus erbaut. Emil Roth war der Cousin des etwas bekannteren Architekten Alfred Roth. «Der zweigeschossige funktionalistische Flachdachbau mit trapezförmigem Grundriss ist ein wichtiger Zeuge des Neuen Bauen in der Schweiz und einer der wenigen Bauten aus dem eigenen Büro von Emil Roth», ist auf der Webseite des Architekten Marcel Knörr zu lesen, der das Haus 2018 renovieren durfte.

Wegbereiter des modernen Bauens
Ein weiterer wichtiger Zeuge des Modernen Bauens ist das Haus des Künstlerpaars Ernst und Sasha Morgenthaler an der Limmattalstrasse 381 und 381a, 1931 ebenfalls von Hans Leuzinger gebaut. Zwei Jahre später realisierte der Architekt Max Bill gleich nebenan sein Haus (siehe Artikel vom 7. Oktober). «Ohne auf das Repertoire des radikalen Neuen Bauens zurückzugreifen, schuf dieser [Leuzinger] eine Architektur in äusserster formaler Reduktion», schreibt Michael Hanak im oben erwähnten Buch. Retrospektiv wurden die Bauten Leuzingers in Zürich also als eher moderat empfunden. Im Kanton Glarus, woher der Architekt ursprünglich stammt, wurde er hingegen als «Wegbereiter des modernen Bauens» bezeichnet, gemeinsam mit dem jüngeren Glarner Architekturkollegen Jakob Zweifel gar als «Übervater aus dem Glarnerland», wie ein Artikel im Hochparterre aus dem Jahr 2011 titelte. Leuzinger begann sein Studium am Eidgenössischen Polytechnikum, heute ETH, wechselte aber bereits nach einem Semester an die damals fortschrittlichere Technische Hochschule Stuttgart, wo er bei Professor Paul Bonatz studierte. Nach dem Diplom arbeitete er in Berlin. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, kehrte er zurück in die Schweiz und gründete 1917 sein eigenes Büro in Glarus. Zum «Neuen Bauen» fand der Architekt in den 20er-Jahren, «unter dem Einfluss des deutschen Werkbunds, des Bauhauses und durch seine Bewunderung für den gleichaltrigen Le Corbusier», wie im Hochparterre nachzulesen ist. Sein erstes modernes Haus wird das eigene Ferienhaus «Uf dr Höchi» in Braunwald, welches bis ins Ausland Beachtung findet. Der Baustil ist für ihn jedoch mehr als nur Architektur, er ist beinahe politisch, denn Leuzinger will damit nicht weniger als die Bedürfnisse einer demokratischen und sozialen Gesellschaft erfüllen. Also weniger Dekoration, mehr Funktionalismus. Leuzinger war auch Präsident der Glarner Heimatschutz-Sektion, welche zur Rettung des über 300-jährigen Zwicky-Hauses in Mollis gegründet worden war. Es ging «(…) Leuzinger jedoch nicht nur um den Erhalt von alten Gebäuden, sondern auch um ein zeitgenössisches Weiterbauen», so das Hochparterre.

Der neue Mensch wohnt in neuen Bauten
In Deutschland erschien 1920 ein Artikel mit dem Titel «Neues Bauen» des deutschen Architekten Walter Gropius (1883-1969), einem der bekanntesten Vertreter der «Modernen Architektur». Sein erklärtes Ziel war es, durch die Bauten eine neue Lebensform zu ermöglichen. Der deutsch-amerikanische Architekt Ludwig Mies van der Rohe (1886-1969) wurde noch deutlicher und verlangte eine fundamentale Änderung der Wohnformen und damit einhergehend eine Verbesserung der Gesellschaft durch die Architektur. «Neues Bauen und <neuer Mensch> waren in den Augen der Architekten untrennbar verbunden», schreibt Matthias Noell in seinem Text «Formen der Moderne – Neues Bauen im Land Brandenburg» von 1999. Der Begriff umfasse Richtungen, die sich zwischen den Schlagworten der Sachlichkeit, Rationalität, Konstruktivität, Funktionalität und Materialgerechtigkeit entwickelt hätten und ein hohes soziales Engagement miteinschlössen, so Noell. Dabei gehe es den Architekt*innen jedoch nicht um die Erfindung eines neuen Stils. Denn die Form sei nicht das Ziel, sondern ergebe sich aus ihrer Arbeit. Auch in Wipkingen finden sich zwei prominente Gebäude, bei denen die Prinzipien des Neuen Bauens angewendet wurden. Eines davon ist das Schulhaus Waidhalde, das über dem Quartier thront, mit seiner grossen, gegen Süden ausgerichteten Front aus langen Fensterreihen. In Sichtweite liegt Wipkingens reformiertes Kirchgemeindehauses an der Rosengartenstrasse 1, das als erstes Hochhaus Zürichs in die Geschichte einging. Gebaut wurde es 1930 bis 1932 von den Architekten Vogelsanger und Maurer.

 

 

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